S.
Referate und literarische Anzeigen. *)
Forel: Der Hypnotismus, seine Bedeutung und seine Hand-
habung. Stuttgart, F. Enke, 1889.
II.
In dem eiuleitenden Abschnitte seines Buches bemüht sich
Forel,, Thatsachen, Theorie, Begriffe und Terminologie" von einander
nach Möglichkeit zu sondern.
Die Hauptthatsache des Hypnotismus liegt darin, dasa man
einen Menschen in einen besonderen, dem Schiafe ühnlichen Seelen-
(respektive Gehiru-) Zustand versetzen könne. Dieser Zustand heisse
Hypnose. Eine zweite Reihe von Thatsachen besteht in der Art,
wie dieser Zustand herbeigeführt (uncd beseitigt) wird. Seheinbar
*)Die anter dieser Rubrik angezeigten und besprochenen Publikatiouen
sind zu beziehea durch die Bucbhandlung M oritz Perles, I., Seiler-
gasse 4 (Graben), Wien.S.
sei dies auf drei Wegen möglich: 1. durch die psyohische Ein-
wirkung eines Menschen anf den anderen (Suggestion), 2. durch
die (physiologisehe) Einwirkung gowisser Prozeduren (Fixiren), der
Magnete, einer menschlichen Hand ete, 3. dureh Selbstbeeinfiussung
(Autobypnose). Fest stehe indessen nur die erstere Art der Er-
zeugung durclı Vorstellungen- Suggestion. Bei keiner der anderen
Erzengungsarten der Hypuose sei die Mögliehkeit einer Suggestions-
wirkung in irgend einer Form ausgeschlossen.
Eine dritte Reihe von Thatsachen ist diejenige der Leistungen
der ypnotisirten. Im Znstande dor Hypnose ist es nämlich
möglich, durch Suggestion die ausgedehntesten Wirkungen auf fast
alle Funktionen des Nervensystems zu üben, darunter auf
solehe Verichtungen, deren Abhängigkeit von Grosshirvorgängen
in der Regel zu gering angeschlagen wird. Dass die Einwirkung
des Grosshirns auf die Körperfunktionen der Hypnose intensiver
ausgenützt werden kann als im Wachen, stimmt freilich wenig
zu jener Theorie der hypuotischen Erscheinungen, die in letzteren
eine ,Herabdrückung der eorticalen Thätigkeit", cine Art von
experimentellem Blödsinn sehen will; aber zu dieser Theorie,
welche so ziemlich alle Phänomene der Gehirnthätigkeit durch den
Gegensatz von cortical und subcortieal zu begreifen sucht, und
geradezu böse" Prinzip in die subcorticalen Hirntheile lokalisirt, |
stimmt auch manches Andere nicht ansserbalb der hypnotischen
Erscheinungen.
Unzweifclhafte Thatsachen sind ferner die Abhängigkeit der
Seelenthitigkeit des Hypnotisirten von der des Hypnotiseurs, sowie
die Erzielung von sugenannten posthypnotieehen Wirkungen bei
ersterem, d. h. die Bestimmung psychischer Akte, welche erst längere
Zeit nach Anfhören der Hypnose verwirklicht werden. Eine
ganze Reibe von A»galben hingegen, welehe die intereseantesten
Leistungen des Nervensystems behaupten (Hellsehen, Suggestion
mentale ete.) könne heute nicht unter die Thatsachen aufgenommen
werden, und obwohl man die wissenschatliche Prilfung dieser An-
gaben nicht ablehnen darf, müsse man doch im Auge behalten, dass
eine befriedigende Klrung derselben mit den grössten Schwierig
keiten verbunden sci,
Zur Erklärung der hypnotischen Erscheinungen sind drei
prinzipiell verschiedene Theorien aufgestellt worden. Die älteste
derselben, die wir noch heute nach Mess mer benennen, nimmt
an, dass beim Akte des Hypnotisirens ein imponderabler Stoff
ein Fluidum aus dem Hypnotisirenden in den hypnotisirten
Organismus übergeht. Messmer nannte dieses Agens Magnetismus;
seine Theorie ist der wissenschaftlichen Denkungsart unserer Tage
so fremd geworden, dass sie als beseitigt betrachtet werden kann.
Eine zweite Theorie, die somatische, erklärt die hypnotischen
Erscheinungen nach dem Sehema der spinalen Reflexe, sie erblickt
in der Hypnose einen phy'siologisch veränderten Zustand des Nerven-
systems, der dureh äussere Reize (Streiehen, Fixirung der Sinnes
thätigkeit, Annäherung von Magneten, Auflegen von Metallen cte.)
erzeugt wird. Sie behauptet, dass solche Reize nur bei bestimmter
Veranlagung des Nervensystems ,hypnogen" wirken, dass also nur
Neuropathen (speziell Hysterische) hypnotisirbar sind, vernachlässigt
bei der Hypnose den Einfluss von Vorstellungeu, und beschreibt
eine typische Beihe von rein somatischeu Veränderungen, die
während des hypnotischen Zustandes zu beobachten sind. Es ist
bekanntlich die grosse Autorität Charcot's, welehe diese ans-
schliesslich somatische Auifassung der Hypnose stützt.
Forel steht aber ganz auf dem Boden einer dritten Theorie,
der von ILiébault und seinen Schilern (Bernhein, Beannis,
Liégeois) aufgebauten Suggestionstheorie. Dieser zufolge sind alle
Erscheinungen der Hypnose psychische Wirkungen, Efekte von
Yorstellungen, die mit Absicht oder ohne solche beim Hymotisirten
her vorgerufen werden. Der Zustand der Hypnose selbst wird nicht
durch äussere Reize, sondern dureh eine Suggestion e1zengt, er
ist nicht den Neuropathen eigenthiümlich, sondern kann bei der
grossen Mebrheit der Gesunden mit leichter Miühe erzielt werden,
kurz ,der bisher so verschwommene Begriff des Aypnotismus hat
in dem der Suggestion aufzugehen". Ob der Begriff der Suggestion
wirklich minder versehwommen ist, als der des Hypnotismus, muss
einer eingehenderen Kritik zur Entscheidung vorbehalten werden. Es
sei hier nur bemerkt, dass der Arzt, welcher die Hypnose studiren
und verwerthen will, unzweifelhaít am besten thut, sich vonvorne herein der Suggestionstheorie anzuschliessen. Denn von der
Richtigkeit der Behauptungen der Schule von Naney wird er sich
an seinen eigenen Kranken jederzeit überzeugen können, während
er kaum in die Lage kommen dürfte, jene Erscheinungen, welche
Charcot als grossen Hypnotismus beschreibt, die nur wenigen
mit grande hystérie Behafteten zukommen sollen, durch eigene
Beobachtung zu bestätigen.
Der zweite Abschnitt des Buches handelt von der Suggestion
und umfasst, in bewundernswerther Knappheit und mit meisterhaft
eindringlicher Darstellungsgabe gescbrieben, das gauze Gebiet der
psychischen Phänomene, die man an hypnotisirten Personen beob-
achtet hat. Den Schlussel zum Verständniss der Hypnose bietet
die Liébault'sche Theorie des normalen Schlafes (richtiger: des
normalen Einschlafens), von dem sich die lHypnose nur durch die
eingefügte Beziehung zur einschläfernden Person nnterscheidet.
Aus dieser Theorie folgt, dass alle Menschen hypnotisirbar sind,
und dass es besonderer Verhinderungen bedarf, wenn die Hypnose
nicht zu Stande kommt. Die Natur dieser Verhinderungen (allzu
intensiver Wunsch, iypnotisirt zu werden, nicht minder als absicht
liche Widersetzlichkeit u. A.) wird erörtert, die Grade der Hypnose
besprochen, das Verhältniss des suggerirten Sehlafes zn den tibrigen
Erscheinungen der Hypnose erwogen, zumei :in völliger Ueber-
einstimmung mit Bernheim, dessen massgebendes Werk iüber die
Suggestion in deutscher Uebertragung einen grossen ILeserkreis
erworben zu haben secheint. Gleichfalls als Ansziige ans Bern-
heim stellen sich die Absätze über die Wirkungen der Suggestion
in der lypnose dar, die aber durchwegs an Beispielen eigener
Erfahrung erläntert werden. Forel stellt hier den Satz voran:
Man kann durch Suggestion in der Hypnose sämmtliche bekannte
subjektiven Erscheinungen der menschlichen Seele und einen grossen
Theil der objektiv bekannten Funktionen des Nervensystems pro
duziren, beeinflussen, verhindern (hemmen, moditiziren, lähmen oder
reizen)" Also Beeinflussung der sensiblen und motorischen Körper-
funktionen, gewisser Reiexe, vasomotorischer Vorgünge (sogar
Blasenziehen!), auf psychischem Gebiete der Gefühle, Triebe, des
Gedächtnisses, der Willensthütigkeit u. s. w. Jeder, der einige
persönliche Erfahrungen über Hypnotismus gesanmelt hat, wird
sich hiebei des Eindruckes erinnern, den es ihm machte, als er
zum ersten Male einen bisher ungeaınten Einfuss auf das psyehi-
sche Leben eines anderen Menschen ausiübte und mit einer Mensclhen-
seele wie sonst nur mit einem Thierleib experimentiren konnte!
Allerdings ertolgt diese Beeinflussung nur selten ohne Wider-
stand von Seiten des Hypnotisirten. Derselbe ist kein blosser
Automat, er webrt sich oft genug gegen die Suggestion und
schafft sich aus seiner eigenen Thätigkeit , Autosuggestionen", eine
Bezeichnung, in weleher übrigens nur scheinbar eine Bereicherung,
genan genommen, eine Aufhebung des Bagriffes ,Suggestion" ge-
geben ist.
Vom n teresse sind nun die folgenden Auseinander-
setzungen über posthypnotiscle Erscheinungen, Suggestion auf be-
stimmten Termin und Wachsuggestion, eine Erscheinungsreihe,
deren Studium bereits die werthvollsten Aufschlüsse iber die nor-
malen psychischen Vorgänge des Menschen geliefert hat, deren
Auffassung aber noch manehen Streitigkeiten unterliegt. Hätten die
Arbeiten Liébau 1 ts und seiner Schiüler nichts Weiteres er-
geben, als die Kenntniss dieser merkwiirdigen und dabei doch all-
täglichen Phänomene, und als diese Bereicherung der Psychologie
um eine experimentelle Mothode, selbst abgesehen von jeder prak-
tischen Trag weite, so wäre ihnen doch bereits ein hervorragender
Platz unter den wissenschaftlichen Erwerbuissen dieses Jahrhunderts
gesichert! Ueber die praktische Verwerthung des Hypnotismus ent-
halt For e l's Büchlein eine ganze .Reihe von trefenden Bemer-
kungen und Rathsehlägen, welche znr vollsten Anerkennung des
Autors nöthigen. So schreibt nr eia Arzt, der mit der volsten
Beberrscbung des sehwierigen Gegenstandes die feste Ueberzeugung
von dessen Wichtigkeit verbindet! Die Technik des Hypnotisirens
ist nicht so leicht, als man nach dem bekannten Finwurfe der
ersten Beliner Disknssion (das Hypnotisiren sei keine ärztlicbe
Kunst, weil es jeder Schäferknecht zu Stande bringe) meinen sollte.
Man muss mit Begeisterung, Geduld, grosser Sicherheit und Reich
thum an Kniffen und Einfüllen ausgerüstet sein. Wer nach einem ge-
gebenen Schema bypnotisiren will, wer sich vor dem Misstrauen,S.
vor dem Lachen seines Subjektes fürchtet, wer in verzagter Sti
mung beginnt, wird wenig erzielen. Der zu Hypnotisirende da
nicht ängstlich gelassen werden, sehr ängstliche Personen sind a
wenigsten fiür das Verfahren geeignet. Geschicktes und sicher
Vorgehen wird alle angeblichen üblen Folgen des Hypnotisirer
unterdriücken. ,On ne s'improvise pas plus médecin hypnotisen
qu'on ne s'improvise oculiste", wie Dr. Bérillon treffer
gesagt!
Was kann man nun mit der Hypnose leisten? For
gibt eine Liste der Affektionen, welche ,der Suggesition am beste
zu weichen scheinen", ohne dieselben für erschöpfend ausgeben :
wollen. Man wird hinzufügen dürfen, dass die Indikationsstellun
für die hypnotische Behandlung von etwas anderer Art ist, a
etwa für den Gebrauch der Digitalis ete.
Es kommt beinahe mehr auf die Beschaffenheit des Sul
jektes als auf die Natur seiner Erkrankung an. Bei der eine
Person gibt es kaum ein Symptom, das nicht der Suggestio
wiche, seies auch noch so gut organisch begriindet, wie etwa de
Schwindel bei M é nièrescher Krankheit oder der Husten br
Tuberkulose; bei einer anderen gelingt es nicht, unzweifelhaf
psychisch verursachte Störungen zu beeinflussen. Nicht minde
kommt die Geschicklichkeit des Hypnotiseurs in Betracht n
die Bedingungen, unter die er seine Kranken versetzen kann. Ic
bin selbst nicht arm an glücklichen Erfolgen duroh hypnotisch
Behandung, aber ich getraue mich nicht, manche Heilungen
unternehmen, wie ich sie bei Lié bault und Bernh eim i
Naney gesehen habe. Ieh weiss auch, dass ein guter Theil diese
Erfolge an der ,suggestiven Atmosphäre" haftet, welche di
Klinik dieser beiden Aerzte umgibt, an dem Milieu und der Stin
mung der Personen, Dinge, die ich bei meinen Versuchspersoner
nicht immer ersetzen kann.
Kann man durch Suggestion eine Nervenfunktion dauerm
ändern, oder ist der Vorwurf berechtigt, dass die Suggestion nu
symptomatische Erfolge für kurze Zeit liefort? Bernheim selbs
hat in den letzten Absätzen seines Buches eine unanfech tbar
Antwort auf diesen Vorwurf ertheilt. Er weist nach, dass di
Suggestion in der nämlicher Weise wirkt wie irgend ein anderes
therapeutisches Mittel, über das wir verfügen, indem sie aus
irgend einem Komplexe von Krankheitserscheinungen dieses oder
jenes wichtige Symptone heransgreift, dessen Wegtall den günstig
sten Einfuss auf den Ablauf des ganzen Vorganges ausübt. Mar
darf hinzufügen, dass die Suggestion überdies in einer Reihe vo
Fällen allen Anforderungen einer kausalen Bebandlung genügt, se
z. B. bei hysterisehen Störungen, welehe der direkte Erfolg eines
krankmachenden Vorstellung oder das Depot cines erschiitternder
Erlebnisses sind. Mit der Beseitigung dieser Vorstellung, mit der
Abschwäohung der rinnerung, welche die Suggestion erzielt, ist
in der Regel auch die Störung überwunden. Es ist richtig, dass
damit die Hysterie nicht geheilt ist, welche unter ähnlichen Ver
hältnissen ähnliche Symptome hervorrufen wird, aber heilt etwa
die Hysterie durch Hydrotherapie, Ueberernährung oder Valeriana
Wann wird dem iberhaupt vom Arzte verlangt, dass er eine ner-
vöse Diathese heile, wenn die Umstände, welche. sie fördern,
fortbestehen? Einen dauernden Erfolg kann man durch die Sug
gestion nach F orel erzielen, wenn 1. die erzielte Aenderung in
sich selbst die Kraft trägt, sich unter den Dynamismen des Ner-
vensystems zu behaupten, z. B. man hat einem Kinde das Bett-
nässen durch Suggestion abgewöhnt; die normale Gewohnheit kaann
sich nun ebenso festsetzen, wie vorhin die schlechte; oder 2. wenn
der Veränderung durch Hilfsmittel diese Kraft verschafft wird;
z. B. es leide Jemand an Schlaflosigkeit, Ermitdung und Migrainen;
die Suggestion sichert ihm den Schlaf, hebt so den Allgemein-
zustand, und die Wiederkehr der Migraine ist dauernd verhindert.
Was ist nun aber eigentlich die Suggestion, die den ganzen
Hypnotismus trägt, in dem alle diese Wirkungen möglich sind?
Man berührt nit dieser Anfrage eine der sclhwachen Seiten der
Theorie von Nancy. Man wird unwillkürlich der Frage gedenken,
wohin der heilige Christophorus den F'uss gestellt", wenn man
erfährt, dass Be rnheim's ausführliches Werk, das in dem
Satze gipfelt ,Tout est dans la suggestion", an keiner Stelle das
Wesen der Suggestion, d. h. deren Begriffsbestimmung berühren
will. Als ich in der erfreulichen Iage war, mich von Prof. Bern-eim persönlich tüber die Probleme des Hypnotismus belehren zu
lassen, glaubte ich zu bemerken, dass er j ede wirksame psychl-
sehe Beciniussung des Einen dureh den Anderen eine Suggestion
heisse, und jeden Versucl, einen psychischen Einfluss anf einen
Anderen auszuiiben, , suggeriren ", Forel bemüht sich, seliürfer zu
Lterseheiden. Ein gedankenreicher Abschnitt ,Suggestion und
Bewusstsein" sucht die Wirkung der Suggestion aus gewissen
Grundannabmen über die normalen psychischen Geschehnisse zu
verstehen. Wenn man sich auch nicht für voll befriedigt durch
dicse Erörterungen zu erklären brancht, so ist man doch dem
Autor für den Hinweis, wo die Lösung des Problems zu suchen
ist, und füir vielfache Anregungen und Beiträge dazu, zu Dank
verptlichtet. Es ist unzweifelhaft, dass Bemerkungen, wie die
Forel's im angezogenen Abschnitte seines Buches, mehr mit dem
Problem der Hypnose zn thun haben als dor Gegensatz von cor-
tical und subcortical und Spekulationen über die Erweiterung und
Verengerung der Gehirngefässe.
Ein Abschnitt über dio strafrechtliche Bedentung der Sug
gestion beschliesst das Buch. Das suggerirte Verbrechen" ist
bekanntlich bisher blos eine Möglichkeit, auf die der Jurist sich
vorbereitet, und ie der Romanschreiber als ,nicht so unwahrschein-
lich, dass es sich nicht einmal ereignen könnte", anticipiren darf. Es
ist freilich nicht schwer, im Laboratoriun Scheinverbrechen von
guten Somnambulen begehen zu lassen; wie weit aber deren Be
wusstsein, dass es sich nur um ein Experiment handle, die Aus-
fihrung des Verbrechens erleichterte, muss man nach der scharf
sinnigen Kritik, die Delboeuf an den Versuchen Liégeois'
geübt hat, dahingestellt sein lassen.
Dr. Sigm. Freud.
bsb11506879
1892
–1896