S.
Fünfter Abschnitt.
Das Nervensystem.
Von
Docent Dr. Sigm. Freud in Wien.
Die Untersuchung des Nervensystems bereitet dem Ver-
sicherungsarzt erhebliche Schwierigkeiten, weil ihm die ana-
mnestischen und die subjektiven Angaben, auf welchen zum guten
Teile die Diagnose bei Nervenkrankheiten beruht, in der Regel vor-
enthalten werden. Auch eine Anleitung über die Untersuchung
des Nervensystems gestaltet sich, wenn sie zu Versicherungs-
zwecken gegeben wird, weit schwieriger als sonst, weil ein grosser
Teil der Nervenerkrankungen, die wegen der Schwere der Zu-
stände den Versicherungsarzt kaum je beschäftigen würden, so
eigentlich hier ausser Betracht kommen sollte, und doch ist dies
nieht ganz zu vermeiden, wenn man nicht auf jeden inneren
Zusammenhang im vorhinein verzichten will.Die Untersuchung der Funktionen des Nervensystemes er-
streekt sich: auf die nervöse Disposition, das psychische Verhalten,
die Motilität, die Sensibilität und die Sinnesapparate.I. Die nervöse Disposition.
Die Disposition eines Menschen an einer nervösen Störung
zu erkranken, sezt sich zusammen aus seiner hereditären (neuro-
und psychopathischen) Belastung und aus der Einwirkung der krank-
machenden Momente, denen er sich während seines eigenen Lebens
ausgesezt hat.1. Die Heredität. Diese zeigt sich entweder darin, dass
dieselbe Nervenkrankheit bei mehreren Familien - Mitgliedern
wiederkehrt (Muskelatrophie, Tabes, Idiotie, Neurosen, Hysterie,S.
189
eireuläre Irrsinnsformen), oder dass verschiedenartige nervöse
Erkrankungen sich in einer Familie häufen. Besondere Wichtig-
keit hat der Nachweis einer eonvergenten Belastung (von beiden
Erzeugern her). Auch das Vorkommen von Trunksucht in der
Fawilie ist beachtenswert, sowol wegen der direkten Erblichkeit
des pathologischen Hanges, als auch wegen der nervösen Veran-
lagung der in einer Berauschung erzeugten Individuen. Ferner
ist zu beachten, ob in einer Familie mehrere Mitglieder sich in
auffälliger Weise von der Gesellschaft abgesondert, oder mit
deren Gesezen in Conflikt geraten sind (Sonderlinge, Verbrecher,
Selbstmörder); man darf dann annehmen, dass der Untersuchte
seinen Anteil an der familiären Degeneration des Nervensystems
davon getragen hat. Manche Personen tragen solche Degenerations-
zeichen äusserlich zur Schau; abnorme Schädelbildung, Sprach-
fehler, Strabismus, Gesichtsasymmetrien gehören hieher; es ist
aber billig, dass man sich bei der Beurteilung der nervösen
Disposition daran erinnere, wie häufig irgend eine Art neuro-
pathischer Belastung bei unserer Menschenrasse ist, und dass
zur Erzeugung einer Nervenkrankheit in der Regel mehr als ein
krankmachendes Moment erfordert wird. Man wird also der ner-
vösen Disposition für sich allein keinen bestimmenden Einfluss
auf sein Urteil einräumen können.2. Die krankmachenden Momente, denen der Ein-
zelne ausgesezt war oder ist. Die leztangeführte Bemer-
kung bezieht sich auch auf die hier zu besprechenden krank-
machenden Momente. Als solche sind anzuführen: Traumen,
Syphilis, akute Krankheiten, chronische Intoxikationen und über-
mässige Anstrengung.3. Traumen. Findet man Zeichen eines Kopftrauma, Nar-
ben und Depressionen am Schädel, so ist die Untersuchung aller-
dings auf bestimmte Bahnen gelenkt. Kopftraumen können die ver-
schiedenartigsten nervösen Prozesse herbeiführen, psychische Altera-
tionen, Epilepsie, selbst progressive Paralyse zur Folge haben, in
anderen Fällen schwere Neurosen (Neurasthenie, Hysterie) erwecken.
Es wäre selbst möglich, dass man eine Person mit frischemS.
190
Kopftrauma zur Untersuchung pekomnat, welche einen derzeit
vollkommen latenten Himabsaess mit sich herumträgt. Es wird
also, vorsichtig sein, bei vecentem Kopftraumä, besonders went
ie Narbe schmerzhaft ist, mit der Versicherung quzuwarten.b) Syphilis. Findet man Anzeichen einer überstandenen
Syphilis, so muss man sich erinnern, dass die Syphilis in hohem
Grade zur 'Tabes dorsualis und wie &8 scheint, auch zur progres-
siven Paralyse disponirt. Man wird in solebem Falle dem Fehlen
der Sohnenreflex® eine gross® Bedeutung beilegen, auch wenn
geit der Infektion eine Reihe yon Jahren vergangen jst, in
welchen sich der Kranke wol gefühlt hat.o) Die chronischen Intoxikationen sind einzuteilen in
solche durch Missbrauch von Medikamenten und Genussmitteln (Al-
kohol, Morphin) und in solche, die aus den Berufsverhältnissoniesgen. Man wird die Alkoholiker unbedenklich von der Versicherung
hervorzubeben. Blei (Bargarbeiten, Lackierer, Färber, Gas
m) »
ü silber (Filztabrikation, verschiedene chemische Gewerbe)
Muskelschwäche und einen sehr raschen Tremor. Die chronischeBleivergiftung führt auch zu schweren Gehirnleiden und psychischen
Störungen.ee
S.
191
Übermässige Anstrengung bei Männern (männliche Berufs-
arten bei Frauen) disponirt meist zu Neurosen ; es ist zweifelhaft,
ob durch übermässige Anstrengung allein eine organische Nerven-
krankheit entstehen kann.II. Das psychische Verhalten.
Nur Sprache und Gesichtsausdruck sollen hier Berück-
sichtigung finden.1.Die Sprachstörungen. Unter den Sprachstörungen, welche
dem Versicherungsarzte begegnen, sind einige (Lispeln, Stottern,
Stammeln) für die Versicherung belanglos, anderevon höchster Wich-
tigkeit, da sie eine frühzeitige Erkennung schwerer Zustände ermög-
lichen. Hieher gehört die Sprachstörung der progressiven Paralyse,
welche Krankheit in ihren ersten Stadien sehr wol Gegenstand der
Untersuchung werden kann. Die Worte werden unordentlich gebildet,' Silben verschliffen, Säze nicht beendigt, der Rhythmus der Rede
ist ein wechselnder und unpassender. Bei Nachsprechen schwieriger
Worte wie: Gregorovius, dritte reitende Artillerie-Brigade, zeigt
sich das eigentümliche Silbenstolpern. — Höhere Grade von un-
deutlicher Artikulation deuten auf eine zentrale Lähmung (ver-
längertes Mark); dagegen kann eine erschwerte, explosive Sprache
sehr wol der Ausdruck eines überstandenen traumatischen
Prozesses sein und braucht bei Fehlen anderer Symptome die
Versicherungsfähigkeit nicht zu stören. Eigentliche Aphasien
wird der Versicherungsarzt kaum zu beurteilen haben. — Auch die
Untersuchung der Schrift liefert ähnliche Ergebnisse, wie die
(der Sprache; sie kann die beginnende Geistesstörung verraten,
oder Zittern, choreatische Bewegungen ete. erkennen lassen.2. Der Gesichtsausdruck. Der Gesichtsausdruck des Unter-
suchten ist oft so auffällig, dass or ohne Weiteres zu Schlüssen An-
lass gibt. Die völlige Schlaffheit der Gesichtszüge verrät z. B. den
Paralytiker noch ehe er den Mund geöffnet hat. Bekannt ist der ängst-
Jiehe Ausdruck von Personen, die an Gesichtsneuralgie leiden. Leises
Sprechen, gedrückte Stimme sind häufig dem Neurastheniker eigen,
dessen Leiden, als ganz und gar nicht lebensgefährlich, ihn nicht,S.
192
von der Versicherung ferne hält, aber wol geeignet ist, seine
Erwerbsfähigkeit zu beeinträchtigen. Auch die Basedow’sche
Krankheit wird an dem gedunsenen und heissen Gesicht, den
glänzenden, hervorgetrotenen Augen und geschwellten Lidern sofort
erkannt. Sie wird in recenten Fällen Anlass sein, die Versicherung
zurückzustellen; nach Ablauf des akuten Stadiums, wo die äusser-
lichen Kennzeichen der Krankheit noch vorhanden sein können,
bedingt sie keine Störung der Versicherung. Endlich sei noch
eine eigenthümliche Starre und Unbeweglichkeit der Gesichts-
züge erwänt; dieselbe gehört der seltenen und unheilbaren
Parkinson’schen Krankheit an.III. Die Motilität.
Die Untersuchung des Muskelsystems hat die grösste Be-
deutung für den Versicherungsarzt, weil er aus derselben die meisten
objektivenSymptome zurDiagnose einer Nervenkrankheit entnimmt.
Man hat den Ernährungszustand, die Spannung, die reflektorische
Beweglichkeit, die willkürliche Beweglichkeit und die Art deren
Störung zu berücksichtigen. Ein Urteil über die etwa vorliegende
Erkrankung muss sich auf die Prüfung all dieser Punkte stüzen.1. Die Atrophie der Muskeln. Man lasse den Kranken sich
entkleiden und überblicke zunächst den Ernährungszustand seiner
Muskeln. Eine allgemeine und proportionale Abnahme der Muskel-
massen hat keine neuropathologische Bedeutung, anders aber eine
Massenabnahme — Atrophie — welche auf einzelne Muskeln be-
schränkt ist. Für die Atrophien gilt zunächst der diagnostische Saz,
dass sie nieht von einer Gehirn-, sondern von einer Rückenmarks-
krankheit oder peripheren Affektion abhängen ; doch muss man eine
Ausnahmefür diejenigen Atrophien gelten lassen, welche inder frühen
Kindheit entstanden und hemiplegisch (über Arm und Bein derselben* Seite) verbreitet sind. Bei dieser sind nicht nur die Muskeln atrophirt,
auch die Knochen sind im Wachstum zurückgebliehen; gleich-
zeitig können Kontrakturen und Verkrümmungen der Endglieder
vorhanden sein. Der beschriebene Zustand ist Folge eines infantilen
Gehirnprozesses, soll aber ausnahmsweise nicht zur AusschliessungS.
193
von der Versicherung führen, da er als Ausdruck einer längst
abgelaufenen und nicht mehr gefährlichen Veränderung gelten
muss. Noch weniger bedenklich muss die in der Kindheit ent-
standene spinale Lähmung und Atrophie einzelner Extremitäten,
am häufigsten eines Beines oder einzelner Muskelgruppen am
Beine aufgefasst werden. Die spinale Kinderlähmung ist
nemlich die Folge eines akuten entzündlichen Prozesses von sehr
kurzer Dauer in der grauen Rückenmarkssubstanz, und die von
ihr Betroffenen können kaum als zu anderen Nervenkrankheiten
disponirt angesehen werden, was bei Personen mit infantiler
eerebraler Lähmung sicherlich der Fall ist.Andere Fälle von Atrophie erfordern eine genaue Diagnose,
da die ihnen zu Grunde liegenden Zustände das eine Mal ganz
unbedenklich, das andere Mal durchaus versicherungsfeindlich sind.
Findet man z. B. blos Atrophie an den Rücken-, Schulter- und
Oberarmmuskeln, etwa noch beider Arme, so liegt der Verdacht auf
beginnende progressive Muskelatrophie nahe, welcher zur Gewiss-
heit wird, wenn die atrophirten Muskeln nicht gelähmt, sondern
blos ihrer Abnahme proportional geschwächt sind. Die progressive
Muskelatrophie ist aber versicherungsfeindlich, trozdem einzelne _
Formen derselben die Kranken am Leben lassen und nicht
hindern, wit demselben Leiden behaftete Kinder zu zeugen. Diese
Krankheit kann auch unter anderen Formen beginnen, 2. B. zu-
erst nur die kleinen Handmuskeln ergreifen, was sich durch Ab-
nahme des Daumen- und Kleinfingerballens und Einsinken der
Interdigitalfurchen kundgibt, oder nur Glutäal- und Deltamuskeln
befallen. Atrophie der Handmuskeln ist ein Befund von schwer-
wiegender Bedeutung; dagegen kommen an der Schulter häufig
Atrophien zur Beobachtung, welche sehr unschuldiger Natur sind.
Nach Entzündungen und Verlezungen der Gelenke kommt es
nemlich oft zu Atrophien der Streckmuskeln des befallenen Ge-
lenkes, des Deltamuskels bei Schultererkrankung, des Triceps
brachii bei Erkrankung im Ellbogengelenk, des M. Glutaeus
naximus bei Hüftgelenksleiden u. s. w., welche reflektorisch ver-
ursacht sind und keine tiefere Bedeutung haben. Man wird diese13
S.
194
Atrophien zum Unterschiede von der piogıessiven Muskelatrophie
daran erkennen, dass bei den ersteren die atrophirten Muskeln
gleichzeitig gelähmt sind, und dass die Anamnese ebenso wie die
Anzeichen einer Gelenkserkrankung vorliegen. Diese Atrophien sind
auch der vollständigen Rückbildung fähig. — Atrophie der'Strocker
am Vorderarm deutet fast immer auf Bleiintoxikation, die Muskeln
sind dabei schwer gelähmt. Endlich wird man noch Atrophien
begegnen, welche auf Newritis, Verlezung oder entzündliche
Affektion einzelner Nerven zurückzuführen sind; dieselben werden
aber unter der Überschrift „Lähmung“ behandelt werden.Erwänenswert ist, dass nicht nur die Abnahme, sondein
auch die übermässige Zunahme von Muskelmasse eine patho-
logische Bedeutung haben kann. Bei herkulisch entwickelter
Muskulatur muss man prüfen, ob die Kraft der Muskeln ihrer
Masse entspricht. Es gibt zwei Zustände, bei denen die Muskeln
massig entwickelt, aber in ihrer Kraft verringert sind. Der eine,
die seltene Thomsen’sche Krankheit ist eine unbedenkliche
hereditäre Eigentümlichkeit des Muskelsystems, der andere aber,
die Pseudohypertrophie, hat die gleiche Pedeutung wie die oben
gewürdigte Muskelatrophie.2. Spannung der Muskulatur. Veränderungen der nor-
malen Spannung der Muskulatur kommen seltener für sich
allein, meist als Begleiterscheinungen von Lähmung in Betracht;
sie haben dann vorwiegend die Bedeutung, dass sie auf vor-
handene Lähmungen aufmerksam machen.3. Lähmung. Unter Lähmung, welche eine vollständige
— Paralyse, oder eine unvollständige — Parese sein kann, wird die
Aufhebung ‘oder Schwächung der willkürlichen Bewegung ver-
standen. Die Paralyse wird daran erkannt, dass gewisse Be-
wegungen gar nicht ausgeführt werden können; die Parese, dass
Bewegungen nicht in vollem Umfange oder mit geringer Kraft
erfolgen. Die schweren Lähmungen von hemiplegischer oder
paraplegischer Ausbreitung, kommen für die Versicherung ausser
Betracht; sie sindFolgen zentraler Erkrankungdes Nervensystems.
Es wird sich hier nur darum handeln, jene Lähmungen oderS.
195
jene Kennzeichen einer Lähmung heworzubeben, welche nicht
als versicherungsfeindlich zu gelten haben, damit der Kreis der
von der Versicherung auszuschliessenden Personen nicht unnötig
weit gezogen wird. Es kommen denmach in Betracht:Die Lähmungen aus peripherer Ursiche, und die Lähmungen
aus contraler Ursache (Gehirn-und Rückamarkserkrankung), welche
auf einen derzeit abgeschlossenen Prozess zurückzuführen sind,Die Lähmungen aus peripherer Ursache können auch
durch Erkrankung eines Gelenkes, der Knochen oder der Mus-
keln bedingt sein. Die beiden ersteren Ursachen sind jedesmal
durch eine Untersuchung in bekannter Weise auszuschliessen, ehe
man die Möglichkeit einer Nervenlähmung erwägt. Muskel-
erkrankungen sind viel schwieriger von Nervenerkrankungen zu
trennen. öFindet man Gelenke und Kichn intakt oder nicht in
der Weise verändert, dass sich darnus eine Lähmung ergeben
kann, so muss man nach den Kennzeichen forschen, welche die peri-
phere Lähmung charakterisiren und dieselbe von einer eentralen
Lähmung unterscheiden. Diese sind, »weit es allgemein angeht,
im Folgenden zusammengestellt:a) Ausbreitung. Die Ausbreiting der peripheren Lähmung
muss mit der Verteilung eines peripheren Nerven zusammen-
fallen (Gesichts-, Radialislähmung), Eine periphere Lähmung kann
weit eher als eine zentrale einzelne Abschnitte eines Gliedes be-
fallen, während das Endglied (Han, Fuss) verschont bleibt.
Die zentrale Lähmung zeigt sich daggen gerade am Endglied
am intensivsten. Man lasse also bei Extremitätenlähmüng rasche
Finger- und Zehenbewegungen machen; werden diese gut aus-
geführt, während höhere Abschnitte des Gliedes gelähmt sind,
so kann man mit Sicherheit auf eiw periphere Ursache ‚der
Lähmung schliessen.b) Atrophie. Der durch Nerranrkrankung gelähmte Mus-
kel zeigt sich abgemagert; dies ist zrar kein Merkmal, das der
peripheren Lähmung allein zukommt, es muss aber bei yeri-pherer Lähmung vorhanden sein. Bei Rumpfmuskeli insbesonidäre®
1S.
194
Atrophien zum Unteischiede von der piogiessiven Muskelatrophie
daran erkennen, dass bei den ersteren die atrophirten Muskeln
gleichzeitig gelähmt sind, und dass die Anamnese ebenso wie die
Anzeichen einer Gelenkserkrankung vorliegen. Diese Atrophien sind
auch der vollständigen Rückbildung fähig. — Atrophie der Strecker
am Vorderarm deutet fast immer auf Bleiintoxikation, die Muskelu
sind dabei schwer gelähmt. Endlich wird man noch Atrophien
begegnen, welche auf Neuritis, Verlezung oder entzündliche
Affektion einzelner Nerven zurückzuführen sind; dieselben werden
aber unter der Überschrift „Lähmung“ behandelt werden.Erwänenswert ist, dass nicht mr die Abnahme, sondern
auch die übeımässige Zunahme von Muskelmasse eine patho-
logische Bedeutung haben kann. Bei herkulisch entwickelter
Muskulatur muss man prüfen, ob die Kraft der Muskeln ihrer
Masse entspricht. Es gibt zwei Zustände, bei denen die Muskeln
massig entwickelt, aber in ihrer Kraft verringert sind. Der eine,
die seltene Thomsen’sche Krankheit ist eine unbedenkliche
hereditäre Eigentümlichkeit des Muskelsystems, der andere aber,
die Pseudohypertrophie, hat die gleiche Pedeutung wie die oben
gewürdigte Muskelatrophie.2. Spannung der Muskulatur. Veränderungen der nor-
malen Spannung der Muskulatur kommen seltener für sich
allein, meist als Begleiterscheinungen von Lähmung in Betracht;
sie haben dami vorwiegend die Bedeutung, dass sie auf vor-
handene Lähmungen aufmerksam machen.3. Lähmung. Unter Lähmung, welche eine vollständige
— Paralyse, oder eine unvollständige — Parese sein kann, wird die
Aufhebung ‘oder Schwächung der willkürlichen Bewegung ver-
standen. Die Paralyse wird daran erkannt, dass gewisse Be-
wegungen gar nicht ausgeführt werden können; die Parese, dass
Bewegungen nicht in vollem Umfange oder mit geringer Kraft
erfolgen. Die schweren Lähmungen von hemiplegischer oder
paraplegischer Ausbreitung, kommen für die Versicherung ausser
Betracht; sie sind Folgen zentraler Erkrankungdes Nervensystems.
Es wird sich hier nur ‚darum handeln, jene Lähmungen oderS.
195
jene Kennzeichen einer Lähmung hervorzuheben, welche nicht
als versicherungsfeindlich zu gelten haben, damit der Kreis der
von der Versicherung auszuschliessenden Personen nicht unnötig
weit gezogen wird. Es kommen demnach in Betracht:Die Lähmungen aus peripherer Ursache, und die Lähmungen
aus centraler Ursache (Gehirn-und Rückenmarkserkrankung), welche
auf einen derzeit abgeschlossenen Prozess zurückzuführen sind.Die Läbmungen aus peripherer Ursache können auch
durch Erkrankung eines Gelenkes, der Knochen oder der Mus-
keln bedingt sein. Die beiden ersteren Ursachen sind jedesmal
durch eine Untersuchung in bekannter Weise auszuschliessen, ehe
man die Möglichkeit einer Nervenlähmung erwägt. Muskel-
erkrankungen sind viel schwieriger von Nervenerkrankungen zu
trennen.Findet man Gelenke und Knochen intakt oder nicht in
der Weise verändert, dass sich daraus eine Lähmung ergeben
kann, so muss man nach den Kennzeichen forschen, welche die peri-
phere Lähmung charakterisiren und dieselbe von einer centralen
Lähmung unterscheiden. Diese sind, soweit es allgemein angeht,
im Folgenden zusammengestellt:a) Ausbreitung. Die Ausbreitung der peripheren Lähmung
muss mit der Verteilung eines peripheren Nerven zusammen-fallen (Gesichts-, Radialislähmung). Eine periphere Lähmung kann
weit eher als eine zentrale einzelne Abschnitte eines Gliedes be-
fallen, während das Endglied (Hand, Fuss) verschont bleibt.
Die zentrale Lähmung zeigt sich dagegen gerade'am Endglied
am intensivsten. Man lasse also bei Extremitätenlähmüng rasche
Finger- und Zehenbewegurigen machen; werden diese gut aus-
geführt, während höhere Abschnitte des Gliedes gelähmt sind,
so kann man mit Sieherheit auf eine periphere Ursache der
Lähmung schliessen.b) Atrophie. Der durch Nervenerkrankung gelähmte Mus-
kel zeigt sich abgemagert; dies ist zwar kein Merkmal, das der
peripheren Lähmung allein zukommt, es muss aber bei peri-pherer Lähmung vorhanden sein. Bei Rumpfmuskeln insbesondere
- 13*S.
196
verrät sich die Atropbie durch das Vortreten von sonst be-
deckten Knochenrändern und Knochenvorsprüngen. Lähmungen
am Rumpf haben übrigens zumeist die Präsumption einer peri-
pheren Ursache für sich. Die Lähmung muss ferner beträcht-
licher sein als die Atrophie; ist erstere blos der Atrophie pro-
portional, so liegt die Annahme einer reinen Muskelerkrankung
nahe (progressive Muskelatrophie).c) Schmerz, Kontraktur. Der Entwickelung der Lähmung
ist zumeist Schmerz vorbergegangen, wenn der erkrankte Nerv
nicht wie der Neiy. facialis ein rein motorischer ist. Nach ein-
getretener Läbmung pflegt der Schmerz meist zu fehlen, dafür
ist Empfindungsstörung in einem dem erkrankten Nerven ent-
sprechenden Hautgebiete nachzuweisen. Das Fortbestehen von
Schmerzen bei entwickelter Lähmung weist auf eine dem Zentral-
organ nahe liegende Ursache oder auf einen noch floriden Pro-
zess. Man wird sich also durch dieses Zusammentreffen leiten
lassen, den Fall ungünstig zu beurteilen. Kontraktur kann bei
der peripheren Lähmung vorhanden sein, so lange noch Schmerzen
und der Krankheitsprozess bestehen, oder sie kann einen Aus-
gang der Lähmung, eine unvollkommene Heilung darstellen.d) Elektrische Erregbarkeit. Bei der peripheren Läh-
mung. ist die Eirregbarkeit des Muskels für den faradischen
Strom erloschen oder herabgesezt. Nur die leichtesten Lähmun-
gen und gewisse Ätiologien, z. B. Lähmung durch Druck auf den
Nerv sind von dieser Regel ausgenommen. Die Erhaltung der
elektrischen Erregbarkeit bei ausgesprochener Lähmung hat also
zumeist eine schlimme Bedeutung. Diese Untersuchung ist leicht
auszuführen, man beurteilt die Erregbarkeit nach dem Ver-
gleiche mit der gesunden Seite. Bei doppelseitigen Lähmungen
hat man nemlich eine zentrale Ursache oder eine besondere
Ätiologie (Bleiintoxikation, Diabetes etc.) anzunehmen,‚Die Diagnose einer peripheren Lähmung wird immerhin
einige Aufmerksamkeit erfordern und unter Umständen -- wegen
ihrer Wichtigkeit — die Zuziehung eines Neuropathologen ver-
langen. Im Allgemeinen wird es sich um Lähmung einzelner gros-S.
197
ser Muskeln am Rumpf (Schultermuskeln, Serratus) oder ein-
zelner Muskelgruppen an den Extremitäten (Radialis, Ischiadieus)
handeln, deren peripherer Charakter aus der Anwendung der
vorstehenden Regeln erhellt. Mit der Erkenntnis, dass die Läh-
mung eine periphere ist, ist aber noch keine Entscheidung für
den Versicherungsarzt gegeben. Es handelt sich nun um das
ätiologische Moment. Hiebei lässt sich der Saz aufstellen, dass
eine als peripher bedingte Lähmung unbedenklich ist, sobald sie
sich auf Trauma oder Erkältung zurückführen lässt. Kann man
sich für keine der beiden Ätiologien entscheiden, so tut man
gut, den Fall zurückzustellen oder zurückzuweisen. Die anderen
Ätiologien der peripheren Nervenerkrankung sind nemlich:
chronische Infektionen (Rheumatismus, Syphilis, Tuberkulose),
chronische Intoxikationen (Blei, Alkohol), Morbus Brightii,
Diabetes uni Tabes. Es wird immerhin ratsam sein, bei einer
peripheren Lähmung nach diesen Ätiologien zu suchen.Eine besondere Erwänung verdient die Gesichts- oder
Facialislähmung. Bei derselben ist höchst beachtenswert, ob
auch die Muskeln der Stirne und der Lider an der Lähmung teil-
nehmen. In diesem Falle allein darf man die Lähmung als eine
periphere ansehen. Unter der Ätiologie derselben nehmen Mittel-
ohrerkrankungen, besonders Karies des Felsenbeines den ersten
Rang ein. Erst wenn die Untersuchung des Gehörorganes dieses
als normal erwiesen hat, kann man an eine refrigeratorische Ent-
stehung der Lähmung denken. Eine periphere Gesichtslähmung
kann mit Verkürzung der gelähmten Muskeln und Zuekungen
in denselben ausheilen, was blos eine rein lokale Schädigung
bedeutet. Gesichtslähmungen, die sich blos auf die Muskeln um
Nase und Mund erstrecken, sind zentraler Natur, und wenn er-
heblich, stets schwere Anzeichen. Leichten Ungleichbeiten der
Gesichtsmuskulatur darf der Versicherungsarzt aber keine Be-
achtung schenken, zumal wenn dieselben von keiner anderen
Parese begleitet sind.Die grobe Kraft einzelner, als paretisch verdächtiger Mus-
keln prüft man durch den Widerstand, den sie der passivenS.
198
Bewegung entgegensezen können. Für die Prüfung der Kraft
der Hände bedient man sich passend des Dynamometers, einer
zusammendrückbaren Feder, welche den auf sie ausgeübten
Druck in Kilo angibt. Es ist zu beachten, dass die Kraft der
rechten (oder der Arbeitshand) um '/)—'/, höher ist als die
der linken Hand.Ist eine Lähmung als zentral erkannt, so entfällt für
den Versicherungsarzt zumeist der Anlass, sich weiter mit ihr zu
beschäftigen. Selbst wenn der Prozess, der die Lähmung ver-
schuldet, abgeschlossen und längst vorüber sein sollte, werden
sich bei den Schwierigkeiten, die Diagnose aufzuklären, schwere
Bedenken gegen die Versicherung erheben. Nur die oben be-
sprochenen infantilen Lähmungen machen in gewissem Sinne
eine Ausnahme. Die spinalen Kinderlähmungen sind, wie bereits
gesagt, für Leben und Gesundheit durchaus unbedenklich, die
cerebralen Kinderlähmungen müssen als leichtere oder schwerere
Prädispositionen gelten.Andere Bewegungsstörungen. Tremor, Krampf, Ataxie.
Zittern und wunwillkürliche Zuckungen, Krämpfe, sind
sehr häufige Vorkommnisse und sind ebenso oft unbedenkliche
Zustände als andere Male Zeichen von schweren organischen
Affektionen, Eine kurze Uebersicht über die verschiedenen For-
men dieser beiden Bewegungsstörungen wird daher dem Ver-
sicherungsarzte nicht unwillkommen sein.a) Zittern. Dieverschiedenen Arten des Zitterns unterscheiden
sich bereits durch ihre Erscheinungsform von einander; da aber diese
Unterseheidung das geübte Auge eines Spezialisten erfordert und
man ohnehin niemals die Diagnose auf dieses eine Symptom
stüzen wird, seien hier nur die verschiedenen Ätiologien ange-
führt, welche dem Zittern zu Grunde liegen können. Von dem
Tremor alter Leute sei abgesehen. Tremor kommt ferner vor: bei
allgemeiner Nervosität (Neurasthenie), bei chronischem Alkoholis-
mus, Nicotinvergiftung, bei Quecksilber-Intoxikation (sehr rapidS.
199
und allgemein), bei Hysterie (oft auf eine Extremität beschränkt),
bei Basedow’scher Krankheit, bei multipler Sklerose (durch aus-
geführte grosse Bewegungen enorm gesteigert) und bei der
Schüttellähmung. (Nebst starrem Gesichtsausdruck und steifer
Körpermuskulatur.) Da ein Tremor sich nicht verbergen lässt,
kann man denselben zum Ausgangspunkt der Untersuchung
nach den oben aufgezählten Zuständen nehmen und oft ein
frühes Stadium einer solchen Erkrankung am Tremor erkennen.b) Krämpfe. Die unwillkürlich zuckenden Bewegungen in
einzelnen Muskeln — klonische Krämpfe — kommen mit oder ohne
Lähmung vor. Im ersteren Falle ist die Lähmung das Massgebende
für die Beurteilung. Klonische Krämpfe ohne Lähmung sind zwar
in ihrer Entstehung ziemlich dunkel; soviel ist aber über sie be-
kannt, dass sie in keiner Beziehung zu schwereren Erkrankungen
des Nervensystems stehen. Man braucht sich also nicht abhalten
zu lassen, eine mit klonischem Krampf behaftete Person zur
Versicherung anzunehmen, wenn der Krampf einer bekannten
Form entspricht, und etwa schon längere Zeit bestanden hat.
Eine solche Person ist vielleicht einer zu Neurosen disponirten
gleich zu achten, was eine gewisse Einschränkung der Ver-
sicherung auf Invalidität mitsich bringt. Die klonischen Krämpfe
sind am häufigsten an den Hals-, Nacken-, Rumpfmuskeln und
an der Gesichtsmuskulatur. Klonischer Krampf der Lidmuskeln
an einem oder an beiden Augen und klonischer Krampf der
gesammten Faeialismuskulatur werden am häufigsten beobachtet;
sie haben keine andere Bedeutung, als dass sie ihren Träger zu
einem nervösen Individuum stempeln. Dasselbe gilt für jene
Formen von klonischem Krampf — Tie genannt — welche einer
Chorea ähnlich sehen, bei denen unwillkürliche Zusammen-
ziehungen über eine ganze Reihe von Gesichts- und Rumpf-,
selbst Extremitätenmuskeln ablaufen und selbst komplizirte Be-
wegungen (Grimassen, Schluchzen, Schreien, Sprungbewegungen)
erzeugen, Die Erfahrung hat gelehrt, dass solche’ Personen immer
nervöser Abkunft und häufig selbst nervös oder mit psychischen
Abnormitäten behaftet sind, dass sie aber keineswegs häufigerS.
200
als andere an gefährlichen oder die Leistungsfähigkeit störenden
Affektionen des Nervensystems erkranken. Das ziemlich ernsthaft
erscheinende Krankheitsbild hat eine sehr geringe Bedeutung
für den Versicherungsarzt.e) Ataxie, Besondere Bedeutung hat die Untersuehung auf
Ataxie, worunter die ungeordnete Ausführung komplizirter Bewe-
gungen verstanden wird. Ein gewisser Grad von Ataxie ist bei
jeder Parese zu beobachten — für den Versichernngsarzt handelt es
sich aber um die Feststellung jener Art von Ataxie der Beine,
welche durch übermässige und ungleichmässige Tätigkeit der
Beinmuskeln ausgezeichnet ist, und der Tabes dorsualis ange-
hört. ‘Von allen schweren Erkrankungen des Nervensystems ist
die Tabes dorsualis diejenige, gegen welche der Versicherungs-
arzt am meisten auf der Hut sein sollte, weil sie troz des mög-
lichen langsamen Verlanfes absolut versicherungsfeindlieh ist, und
weil ihre Anfangsstadien lange Zeit vom Kranken wie auch vom
Arzt verkannt werden können. Bei der praktischen Wichtigkeit
dieses Teiles der Untersuchung halte ich es für angezeigt, an
dieser Stelle alles auf Tabes dorsualis Bezügliche zusammen-
zutragen.In der Anamnese der Tabes scheint. die Syphilis eine her-
vorragende Rolle zu spielen; der Gedanke an Tabes ist also
dann für die weitere Untersuchung massgebend, wenn Anhalts-
punkte für die Erkennung einer abgelaufenen Syphilis vorliegen. Zu
den Frühsymptomen der Tabes gehören: Augenmuskellähmun-
gen, reflektorische Pupillenstarre und Verluste der Pa-
tellarreflexe. Die sonst charakteristischen laneinirenden Schmer-
zen sind ja für den Versicherungsarzt nicht verwertbar. Von den
Augenmuskellähmungen sind besonders solche verdächtig, welche
ohne bekannten Anlass aufgetreten sind und keinen hohen Grad er-
reicht haben. Die reflektorische Papillenstarre ist immer ein
Symptom, welches auf organische Nervenerkrankung deutet, sie
ist bei Tabes meist mit Myosis, ungewönlicher Enge der Pupillen
vereinigt. Charakteristisch für die tabische Pupille ist, dass sie
auf Lichteinfall nicht reagirt, während bei Konvergenz derei
S.
201
Augen oder bei Verschluss eines Auges gute Reaktion des an- \
deren zu beobachten ist. Eine auffällige Myosis endlich kann
dem Versichernngsarzt den Schlüssel zur Beurteilung eines sonst
unerkannten Falles von Tabes geben, ist daher nie gering zu
achten.Die Patellarreflexe muss der Versicherungsarzt ohnehin in
jedem Falle untersuchen, sie gehören zum Status des Kranken
und gewähren die wertvollsten Anhaltspunkte. Die Untersuchung
der Patellarreflexe geschieht bekanntlich so, dass man den
Kranken in sizender Haltung ein Bein über das andere schlagen
und möglichst entspannen heisst, und dann mit einem Per-
eussionshammer auf das ligamentum patellare — die Sehne des
M. quadriceps schlägt. Es erfolgt dann eine leichte Streckung
im Kniegelenk durch Kontraktion dieses Muskels oder blos eine
Zusammenziehung des Quadriceps, die man tastet und sieht:
.Man verfährt aber sicherer, wenn man den Untersuchten auf
einen hohen Stuhl sezen lässt, so die Beine frei herunter-
hängen, denn viele Personen spannen die Muskeln des über-
geschlagenen Beines so sehr, dass die Auslösung des Reflexes
dadurch erschwert wird. Es ist leicht, durch wiederholte Aus-
führung der Prüfung sich ein Urteil zu bilden, welches die
normale Stärke des Patellarreflexes ist. Bei verstärktem Reflex
genügt leises Klopfen mit dem Finger auf die bezeichnete
Stelle, um das Bein springen zu machen. Die Reflexsteigerung
hat, übrigens nieht dieselbe Bedeutung für den Versicherungs-
arzt, wie die Reflexaufhebung. Gesteigerte Sehnenreflexe kommen
ausser bei cerebralen und spinalen Lähmungen auch bei neu-
rasthenischer spinaler Ermüdung und bei vielen anderen Neu-
rosen vor. Die Aufhebung der Sehnenreflexe dagegen findet sich
am häufigsten bei der Tabes. Man darf eine solche aber nicht
leichthin annehmen. Wenn bei herabhängendem Bein und nach
wiederholten Prüfungen kein Kniereflex zu erzielen ist, muss
man die Prüfung mit dem Jendrassik’schen Kunstgriff wieder-
holen. Man lässt den Untersuchten die Finger beider Hände in
einander haken und nun die Hände mit aller Gewalt von ein-S.
- 202
ander zerren; während dieser Anstrengung treten die Patellar-
reflexe, wenn überhaupt vorhanden, deutlich hervor.Auf keines der besprochenen Symptome allein (Augen-
muskellähmung, Pupillarstarre, Myosis, Verlust der Patellar-
reflexe) wird man die Diagnose Tabes gründen dürfen. Selbst
Verlust der Patellarreflexe kann bei sonst gesunden Individuen
gefunden werden. Dagegen ist die Diagnose gerechtfertigt, wenn
diese Symptome zusammen aufgefunden werden (etwa noch ausser
der Augenmuskellähmung). Jedenfalls reicht eines dieser Symptome
hin, um die Untersuchung auf Ataxie, deren Konstatirung die
Tabes sicherstellt, zu veranlassen. Die Ataxie kann ohne Wei-
teres auffällig sein, ohne dass sie den Kranken oder seinen Arzt
beunruhigt hat; der Ataktische kann breit mit gespreizten
Beinen stehen und schwanken, wenn er sich in Bewegung sezt.
Seine Schritte können ungleichmässig sein, ein Schleudern des
Unterschenkels und stampfendes Aufsezen des Fusses auffallen.
Ist die Ataxie nicht so augenfällig, so muss man sie durch Un-
tersuchung zu konstatiren suchen. Man gibt dem Untersuchten
schwierigere Gangaufgaben, lässt ihn längs einer geraden Linie
gehen, Bogenwendungen machen, nach rückwärts schreiten,
plözlich anhalten u. dgl. Ein Ataktischer verrät sich bei diesen
Leistungen oder er führt sie langsam unter der Kontrolle des
Gesichtes aus. Die Ataxie titt dann stärker hervor, sie zeigt
sich auch oft im ungeahnten Grade, wenn der Untersuchte im
Tiegen bei geschlossenen Augen einzelne Beinbewegungen aus-
führen soll. Endlich ist zu bemerken, dass der Ataktische beim
ruhigen Stehen mit geschlossenen Augen und enge au einander
gehaltenen Beinen schwankt (Romberg’sches Symptom); doch
kommt dieses Schwauken auch bei spinaler Neurasthenie . zur
Beobachtung. Schwanken, Ataxie, Verlust der Sehnenreflexe kann
allerdings auch bei blos funktioneller Erkrankung des Rücken-
markes auftreten, doch wird der Versicherungsarzt gut ‚tun,
auf diese Differential-Diagnose nicht einzugehen... Es handelt
sich dann immer um schwere Neurosen. .S.
203
IV. Die Sensibilität.
Die Untersuchung der Sensibilität, eine schwierige Auf-
gabe, selbst wenn sie der Kranke durch willige Aufmerksamkeit
unterstüzt, kommt für den Versicherungsarzt nur selten in Be-
tracht. Es sind wesentlich nur zwei Fälle, in denen dieselbe
unerlässlich ist, und auch in diesen soll dieselbe erst nach der
Untersuchung der Motilität vorgenommen werden. Wenn ein
Verdacht auf Tabes besteht, ist die Empfindlichkeit, besonders
die Schmerzempfindlichkeit der unteren Extremitäten zu prüfen.
Man lasse dazu den Kranken horizontal niederliegen, verbinde
ihm die Augen und prüfe mit einer starken Nadel, einem
Pinsel und einem kalten Gegenstande, ob verschiedene Berührun-
gen deutlich erkannt werden, lege aber nur groben Ergebnissen
Wert bei. Für die Schmerzempfindung kommt besonders in
Betracht, ob sie mit einer auffälligen Verspätung angegeben
wird. Besser als durch Stiche mit der Nadel prüft man sie
durch Ausreissen von Härchen, was bei Tabischen geschehen
kann, ohne dass die Kranken den sonst sehr empfindlichen Ein-
griff merken. Endlich nehme man Lageveränderungen der Beine
vor, die man vom Kranken beschreiben oder durch das andere
Bein nachahmen lässt.Ein anderes Mal ist die Sensibilitätsprüfung von Wichtig-
keit, wenn man eine Lähmung an den Extremitäten findet,
welche man auf Erkrankung eines bestimmten Nerven deutet.
In dem Verteilungsgebiet dieses Nerven lässt sich dann eine,
Abnahme der Tastempfindlichkeit, nieht selten mit Steigerung
der Schmerzempfindlichkeit vereinigt, nachweisen. Bine Kenntnis
der den einzelnen Nerven zukommenden Hautgebiete ist für
diese Diagnosen notwendig. *) .®) Ich nehme hier Anlass, ein kleines Büchlein von J. Heiberg
(Atlas der Hautuervongebiete, Christiania 4984) zu empfehlen, welchen
durch Darstellung im Farbendruck höchst instraktiv wirkt, Ein änliches
Heftehen (Schema der Wirkungsweise der Hirunerven, Wierbaden 1885)
wird jedem Art eine Reihe von verwickelten Innervations- Verhältnissen
anf die bequemste Weise ins Gedächtnis rufen.S.
204
Es wäre möglich, dass der Versicherungsarzt bei seinen
Untersuchungen eine halbseitige Empfindungslähmung der Haut
und der tieferen Theile entdeckt; eine solche ist, wenn hoch-
gradig, zumeist auf Hysterie zu beziehen; leichtere halbseitige
Empfindungsstörungen könnten auch Folge einer schweren Ge-
hirnerkrankung sein, man würde aber kaum motorische Symptome
dabei vermissen.Auch Neuralgien lassen sich häufig objektiv nachweisen,
indem der Druck auf Stellen, unter welchen Nervenstämme ober-
flächlich liegen, schmerzhafte Reaktion hervorruft. Ist man in
der Lage eine schwere Neuralgie zu konstatiren, so wird man
mit der Versicherung znwarten, bis deren Heilung erfolgt ist.
Solche Neuralgien entstehen nemlich zumeist auf Grundlage von
Tabes, Tuberkulose, M. Brightii, Syphilis und schweren Blut-
erkrankungen. Leichtere Neuralgien sind bei allen Neurosen sehr
häufig und haben daher für den Versicherungsarzt keine weitere
Bedeutung.V. Untersuchung der Sinnesorgane.
Unter den Sinnesorganen ist es vor Allen das Auge, dessen
Untersuchung einen integrirenden Bestandteil der Untersuchung
des Nervensystems ausmacht. Da in diesem Buche aber dem
Sehorgan ein besonderer Abschnitt gewidmet ist, sei hier nur
kurz hervorgehoben, was für die neuropathologische Diagnostik in
„Betracht kommt.Bei der Untersuchung des Auges fällt zunächst auf die
Weite und das Verhalten der Pupillen. Eine Verschiedenheit der
Pupillenweite beider Augen ist bedeutsam, leider aber so häufig,
dass man bei ihrer Verwertung vorsichtig sein muss. Almorm ver-
engte Pupillen (Myosis) sind als wichtiges Symptom bei der
Besprechung der Tabes gewürdigt worden, finden sieh aber auch
bei blos nervöser Disposition; sie können ferner einen chro-
nischen Morphinismus verraten. Abnorm erweiterte Pupillen
finden sich häufig bei vielen, allerdings im jugendlichen Alter
hänfigeren Neurosen, ausserdem bei Epileptikern. Wichtiger alsS.
i
}
|205
die absolute Weite der Pupille ist deren Beweglichkeit und
Reaktion gegen verschiedene Einflüsse. Sehr bewegliche, rasch
reagirende Pupillen werden nehst Steigerung der Patellarreflexe
bei Nervösen (Neurasthenikern) gefunden; bei Lichteinfall unbe-
wegliche Pupillen, welche aber bei Bewegung der Augen ete.
reagiren, gehören meist der Tabes an; durchaus unbewegliche
Pupillen deuten auf eine Lähmung der Binnenmuskulatur des
Auges und sind Zeichen einer organischen Erkrankung des
Muskel- und Nervenapparates.Die Bedeutung von Lähmungen am äusseren Muskelapparat
des Auges ist bereits oben gewürdigt worden. Es ist noch an-
zusehliessen, dass ein Herabsinken (Ptosis) des oberen Augen-
lides entweder habituell oder Symptom eines Gehirnleidens, oder
einer meist durch Lues bedingten Erkrankung des N. oculomo-
torius sein kann. Die Nebenumstände des Falles werden die
Entscheidung gestatten. Die Untersuchung des Augenhintergrundes
ist in allen Fällen vorzunehmen, in denen ein Verdacht auf
organische Erkrankung des Nervensystems besteht. Störungen
der anderen Sinnesorgane wird der Versicherungsarzt nur selten
zu berücksichtigen haben.Schlussbemerkungen.
Mit je besserer Kenntnis der Erkrankungen des Nerven-
systems der Arzt an die Untersuchung des Versicherungswerbers
herantritt, desto leichter wird es ihm werden, auch unter den
Nervenkranken eine Anzahl von zur Versicherung geeigneten
Fällen herauszufinden, anstatt Leicht- wie Schwerkranke ohne
Wahl zurückweisen zu müssen. In den vorstehenden Blättern
finden sich einige Anhaltspunkte für diese Auswahl angeführt.
Es ist darin gesagt, durch welche Untersuchungen man den
Fehler vermeiden kann, die beiden schwersten und häufigsten
chronischen Nervenkrankheiten, die Tabes und die progressive
Paralyse, in ihren Frühstadien zu übersehen; es sind ferner jene
Erkrankungen namhaft gemacht, welche unter gewissen Bedin-
gungen keine Störung der. Versicherung involviren, wie z.B, derS.
206
Pie convülsif, die Kinderlähmung, die tranmatischen Erkrankungen
peripherer Nerven. Es sind noch einige Bemerkungen nachzu-
tragen, welche die Stellung des Versicherungsarztes zu den
Neurosen, den Krankheiten des Nervensystems ohne anatomische
Veränderung behandeln sollen. Es ist im Allgemeinen festzu-
halten, dass dieselben zwar eine Gesundheitsstörung und
Gefahr für die Leistungs- und Erwerbsfähigkeit, aber höchst
selten eine Lebensgefahr involviren, dass es also ungerecht-
fertigt wäre, Neurosen ohne Weiteres als versicherungsfeindliche
Zustände zu betrachten. Man muss aber hier weit mehr als bei
den organischen Nervenkrankheiten individualisiren. Handelt os
sich um eine akut auftretende Neurose von bestimmtem Ablaufe,
wie die Basedow’sche Krankheit, so wird man mit Recht die
Versicherung zurückstellen und den Ablauf des akuten Stadiums
abwarten. Aber auch nach dem lezteren können die Zeichen
der Basedow’schen Krankheit: Exophthalmus, Struma etc. fort-
bestehen, und ich meine, dass die Neurose in diesem Stadium
kein ausgesprochener Ausschliessungsgrund sein kann. Unter
den chronischen Neurosen ohne bestimmten Ablauf, welche dem
Versicherungsarzte vorkommen können, steht die Neurasthenie in
erster Linie. Es ist richtig, dass sich die Wichtigkeit derselben
für den Versicherungsarzt dadurch einschränkt, dass man an
objektiven Zeichen — ohne Mitteilung des Kranken — eben
nur die schwerett Fälle erkennen wird. Immerhin wird der er-
fahrene Arzt an dem ängstlich gedrückten oder hastig erregten
Benehmen des Untersuchten, an der Neigung zu Kongestionen, am
lebhaften Spiel der Pupillen und an der Steigerung der Sehnen-
reflexe, wie an der Schmerzhaftigkeit bei Beklopfen der Wirbel-
säule gelegentlich den Neurastheniker erkennen und über dessen
Annahme oder Abweisung schlüssig werden müssen. Ich halte
dafür, hiebei den Ernährungszustand des Untersuchten als mass-
gebend gelten zu lassen. Der abgemagerte bleiche Nenrastheniker
ist erfahrungsgemäss weniger widerstandsfühig ‚gegen krank-
machende Einflüsse, während man den Zustand des wolgenährten
blühend aussehenden Nervösen für die. Zwecke: der VersicherungS.
207
leichter nehmen datt. In allen Fällen jedoch involvirt die Er-
“kennung der „Nervosität“ des Untersuchten eine Beeinträchtigung
seiner Versicherungsfähigkeit auf Invalidität. Endlich ist viel-
leicht die Bemerkung nicht überflüssig, dass eine Neurasthenie
keine andere organische Erkrankung des Nervensystems aus-
schliesst, dass also die Untersuchung bei ersterer Diagnose nicht
Halt zu machen braucht.Eine besondere Stellung unter den Neurosen nimmt die
vielleicht mit Unrecht dazu gezählte Epilepsie ein. Ein Epilep-
tiker ist von der Versicherung zurückzuweisen, weil sein Leiden
ihn gemeingefährlich macht und hei ‚jedem Anfälle seine eigene
Existenz aufs Spiel gesezt ist. Leider wird es meist unmöglich
sein, ohne Zugeständnis der Anfälle Epilepsie zu konstatiren.
Nur die Narbe eines Zungenbisses oder auffällig zahlreiche
Narben am Kopf und im Gesicht, die vom Hinstürzei im An-
fall herrüren, bieten objektive Anhaltspunkte. Möglicherweise
kann es sich darum handeln, epileptische Anfälle von hysterischen
zu unterscheiden; dafür gelten folgende Anhaltspunkte: für
Epilepsie spricht Gleichartigkeit der Anfälle, Zungenbiss, Störung
der Intelligenz oder wenigstens ein Grad von Apathie; für
Hysterie: geistige Lebhaftigkeit, Ungleichartigkeit der Anfälle,
Mannigfaltigkeit und übermässige Hoftigkeit der dabei ausge-
führten Bewegungen, ferner die Auffindung von hysterischen
Zeichen: Schmerzpunkten, die deh Anfall auslösen, die Aura,
Empfindungsstörungen u. dgl. Bewusstseinsverlust kann auch bei
hysterischen Anfällen vorkommen, 0
buchheim-1887-diagnostik
188
–209