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Vorwort
von Prof. Sigm. Freud (Wien).
Der Autor dieser kleinen Monographie, welche die Pathologie
und Therapie der psychischen Impotenz des Mannes behandelt,
gehört zu jener kleinen Schar von Ärzten, welche frühzeitig die
Bedeutung der Psychoanalyse für ihr Spezialfach erkannt und seit-
dem nicht aufgehört haben, sich in deren Theorie und Technik zu
vervollkommnen. Wir wissen ja, daß nur ein kleiner Anteil der
neurotischen Leiden, — welche wir jetzt als Folgen von Störung
der Sexualfunktion erkannt haben, — in der Neuropathologie selbst
abgehandelt wird. Der größere Teil derselben fällt unter die Er-
krankungen des betreffenden Organs, welches von der neurotischen
Störung heimgesucht wird. Es ist nur zweckmäßig und billig,
wenn auch die Behandlung dieser Symptome oder Syndrome die Sache
des Spezialarztes wird, welcher allein die Differentialdiagnose gegen
eine organische Affektion stellen, bei Mischformen den Anteil des
organischen Elements von dem des neurotischen abgrenzen und im
allgemeinen Aufschluß über die gegenseitige Förderung von beiderlei
Krankheitsfaktoren geben kann. Sollen aber die „nervösen“ Organ-
krankheiten nicht als ein Anhang zu den materiellen Erkrankungen
derselben Organe einer Vernachlässigung anheimfallen, welche sie
bei ihrer Häufigkeit und praktischen Bedeutsamkeit keineswegs ver-
dienen, so muß der Spezialist, sei er Magen-, Herz- oder Urogenital-
arzt, außer seinen allgemeinen ärztlichen und seinen Spezial-
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kenntnissen auch die Gesichtspunkte, Einsichten und Techniken
des Nervenarztes für sein Gebiet verwerten können.Es wird einen großen therapeutischen Fortschritt bedeuten,
wenn der Spezialarzt den mit einem nervösen Organleiden behafteten
nicht mehr mit dem Bescheid entlassen wird: „Ihnen fehlt nichts;
es ist bloß nervös.“ Oder mit der nicht viel besseren Fortsetzung:
„Gehen Sie zum Nervenarzt, er wird ihnen eine leichte Kaltwasserkur
verordnen.“ Man wird gewiß auch eher vom Organspezialisten
verlangen dürfen, daß er die nervösen Störungen seines Gebietes
verstehe und behandeln könne, als vom Nervenarzt, daß er sich
zum Universalspezialisten für alle Organe ausbilde, an denen die
Neurosen Symptome machen. Demnach ist vorauszusehen, daß nur
die Neurosen mit wesentlich psychischen Symptomen die Domäne
des Nervenarztes bleiben werden.Die Zeit ist dann hoffentlich nicht ferne, in welcher die Einsicht
allgemein wird, daß man keinerlei nervöse Störung verstehen und
behandeln kann, wenn man nicht die Gesichtspunkte, oft auch die
Technik der Psychoanalyse zu Hilfe nimmt. Diese Behauptung
mag heute wie eine anmaßende Übertreibung klingen; ich getraue
mich vorherzusagen, daß sie dazu bestimmt ist, ein Gemeinplatz
zu werden. Es wird aber ein bleibendes Verdienst des Autors dieser
Schrift sein, daß er diese Zeit nicht abgewartet hat, um die Psycho-
analyse in die Therapie der nervösen Leiden seines Spezialgebietes
einzulassen.Wien, im März 1913.
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