Vom Lesen und von guten Büchern 1906-062/1931
  • S.

    VomLesen und von guten Büchern
    Von Hugo v. Hofmannsthal

    Es ist jetzt ein Vierteljahrhundert ber. Da hat der (seither
    verstorbene) schr bewegliche und geschickte Wiener Buchhändler
    Hugo Heller an eine Reibe bekannter Dichter, Schriftsteller,
    ‚Philosophen und anderer im öffentlichen Leben stehender bervor-
    ragender Männer wieder einmal die (früher ziemlich häufig und
    ‚seither noch einige Male gestellte) Rundfrage nach „den 10 besten
    Büchern“ gerichtet. ( Heinrich Falckenberg hat in der „Zeitschrift
    für Bücherfreunde‘“ einmal eine recht beachtenswerte Bibliographie
    über solche „Hundertlisten“ [oder auch „Zehnerlisten“] veröffens.
    licht.) Hugo Heller hat dam die Antwort in einer kleinen, ser.
    ber gänzlich verschollenen Schrift hekanntgegehen. Eiingeleitet war
    sie mit einem längeren Schreiben Hugo u. Hofmamnsthals, das
    unseres Wissens niemals wieder pupliziert worden ist. of.
    /mamstbals Betrachtung verdient der Vergessenheit entrissen zu
    werden. Im Nachstehenden ist sie wiedergegeben und daran sind
    die Äußerungen der bedeutsamsten, damals un „Rat“ ange.
    gangenen Persönlichkeiten geschlos sen.

    ch wüßte nicht, wie man seinen Beifall dem versagen sollte,
    T.. Sie sich vorsetzen und in Ihrer Zuschrift mir entwickeln.
    Daß der Buchhändler eben noch nichts Rechtes ist, wenn er sich’s
    genug sein läßt, ein Händler mit Büchern zu sein, ist in älteren und
    neueren Zeitläufen ausgesprochen worden und lebt wohl als eine
    rechte Standeswahrheit und Überlieferung unter den Tüchtigsten
    Ihrer Berufsverwandten. Aber unsere Zeit, mehr als frühere, hat es
    in sich, daß sie ein geistiges, ein sittliches Streben, wo es kaufmän-
    nischen Unternehmungen beigemengt ist, mit der Wucht des Ma-
    teriellen niederschlägt, und wie sollten nicht Sie, als die mit dem
    geistigen Bedürfnisse handelnden Kaufleute, ganz besonders sich
    verworren und betäubt fühlen unter dem fast grenzenlosen Heran-
    dringen der Masse, zugleich mit dem schwindelerregenden Geist
    des Wechsels, ohne dessen irre springende Windstöße jener Wust
    freilich ganz bedenklich zähe uns umlagern würde. Wo alle nur
    mit der Masse auf die Masse wirken, fühlen Sie sich aufgefordert,
    an die Einzelnen zu denken, und so rufen Sie auch Einzelne zur

    108

  • S.

    Hilfe herbei. Der Leser ist schließlich immer ein Einzelner; einer
    Masse ein Buch oktroyieren wollen, ist starke Prätension oder
    gleich Scharlatanerie, und es sind die plattesten oder die zweifel-
    würdigsten Erzeugnisse für die zeitweilig dergleichen ins Werk
    gesetzt wird. Aber es liegt keine Anmaßung darin, wenn der Ein-
    zelne dem Einzelnen, den er allenfalls auf ähnlichem Wege ver-
    mutet, durch die Empfehlung eines werten, nicht eben allbekannten
    Buches nützlich zu werden glaubt, und in diesem Sinne erfülle ich
    Ihren Wunsch mit Vergnügen. Ich bin, wie jeder, vielen Büchern
    vieles und cinigen fast alles schuldig, was ich geistig besitze. Aber
    daß ich Ihnen eben diese nenne, haben Sie nicht erwartet, haben
    vielmehr in einer schr glücklichen Wendung Ihrer Zuschrift darauf
    hingedeutet, wie wenig wert Ihnen jene, vom Geiste eines nicht
    angenehmen amerikanischen Enthusiasmus eingegebene Zusam-
    menstellung einer runden Zahl „bester Bücher“ erscheine. Sie
    haben nicht erwartet, daß ich Ihnen die erhabenen Denkmale der
    Alten, daß ich Ihnen die Werke unserer höchsten Dichter hin-
    zähle, und auch ein Dokument der neuen Zeit, wie die „Gedanken
    und Erinnerungen“ von Bismarck, das von den stärksten Wellen
    der Zeit getragen in jedermanns Händen ist, von mir aufgezählt
    zu finden, hätte Sie einigermaßen verwundert. Dagegen durften
    Sie annehmen, es müsse mir ein leichtes sein, ohne Prätension und
    ohne Bedenklichkeit eine begrenzte Anzahl guter und schöner
    Bücher hier auf dem Papier zu vereinigen, so wie ich sie am Vor-
    abende einer längeren Reise in den Bücherkoffer zusammenstellen
    würde. Keines von ihnen vielleicht habe ich in einem Zuge gelesen,
    aber es ist keines darunter, nach dem ich nicht mehr als einmal
    gegriffen, keines, das ich nicht zu Schiff oder zu Wagen reisend
    gerne in meiner Begleitung wüßte, keines, dem ich mich nicht
    verschuldet fühlte.

    Das fleißige und bedeutende mehrbändige Werk des Herrn
    Gräf, Goethe über seine Dichtungen, wird niemand zur
    Hand nehmen, der sich nicht zu Goethe in stärkstem Verhältnis
    fühlt. Einem solchen, aber wird das Buch unschätzbar sein, und
    er wird es neben, ja über jene hinlänglich berühmte Biedermann-
    sche Sammlung der „Gespräche“ zu stellen sich gedrungen fühlen.
    Wie das gemeint sei, wird jeder verstehen, dem es durch Erfahrung
    klar geworden ist, daß er selbst eben so vieler Übung, innerer

    109

  • S.

    Hilfsmittel, ja allmählicher Ausbildung eigener Organe bedarf, um
    Kunstwerke wahrhaft zu genießen, als um sie selbst hervorzu-
    bringen. Die inneren Hilfsmittel, so unberechenbar tiefen Pro-
    dukten beizukommen, finden sich hier mit wahrhaft deutschem
    Fleiß vereinigt, nach epischem, dramatischem Gebiet geteilt, zu-
    gleich chronologisch geordnet; Übersicht, Genuß, innerlichste Be-
    reicherung in einem.

    Die Korrespondenzdes Abb& Galiani im Original (2 Bände
    Paris bei Calman Levy) ist mehr, unvergleichlich mehr, als bloß
    ein Dokument des 18. Jahrhunderts. Die Gesellschaft eines klugen
    Mannes wird jeden anziehen; da aber handelt es sich um mehr als
    Klugheit, handelt sich’s um eine durchdringende Kraft im Erfas-
    sen der menschlichen Dinge und Bezüge, eine geniehafte Gabe, das
    Menschliche wie das Politische von Fall zu Fall zu beurteilen, wo-
    für der Vergleich fehlt, man griffe denn auf Macchiavell zurück,
    Ja, man wird in den Fall kommen, den tiefsten, den feinsten, den
    umfassendsten Geist, den die Halbinsel hervorgebracht, sich her.
    beizuziehen, und der Gedanke an Lionardo wird die leuchtende
    Klugheit dieses Weltgeistlichen nicht verdunkeln. Eine Betrach-
    tung werden diese Briefe dem aufnehmenden Deutschen mehr als
    einmal aufdringen: daß die erstaunlichste Tiefe der Anschauung
    in einem vollendet weltmännischen Ton nicht sowohl, wie man
    gerne sagen hört, sich maskieren, als recht eigentlich sich aus-
    sprechen, und zu leichtem Genuß wie tiefster Belehrung sich offen-
    baren kann.

    Die Schriften des Lionardo da Vinci, ausgewählt und
    übertragen von Marie Herzfeld, Verlag Diederichs.

    Im Zugänglichmachen ist unsere Zeit groß. Die fragmentarischen
    ungeheueren Schriften des allerunvergleichlichsten Mannes, in
    Spiegelschrift geheimnisvoll niedergelegt, in staatlichen und fürst-
    lichen Bibliotheken verstreut, beinahe mythisch geworden, dann
    allmählich entziffert, in kostbaren Transkriptionen zunächst nur
    gelehrten Anstalten zugänglich gemacht, werden durch den Eifer
    eines schöngesinnten Verlegers, durch die Bemühungen einer sehr
    schätzbaren, erprobten Herausgeberin in einem handlichen Werke
    uns zu eigen. Denn wer vermag sich ein Buch wirklich anzueignen,
    solange er nur auf Bibliotheken es einsehen, nicht zu jeder seltenen,
    erhöhten Stunde es hervornehmen und die reinsten Augenblicke

    110

  • S.

    seiner Existenz damit amalgamieren darf? Der Inhalt des Buches
    selbst ist zu bedeutend, um hier mehr als angedeutet zu werden.
    Behandelt doch der ungeheuere Mann, Künstler, Denker, Ingenieur
    Musiker, Weltmann in einem — eine Erscheinung, von der selbst
    Goethes Gestalt überstrahlt wird — in diesen Blättern fragmen-
    tarisch vorläuferisch so ziemlich jedes Gebiet des Wissens und der
    Kunst, am größten vielleicht in der Mechanik und Hydromechanik,
    nicht minder gewaltig im Beschreiben als im Erfassen der Phäno-
    mene, in der Geologie, in der vergleichenden Anatomie gleichfalls
    unvergleichlich im Schauen und Ahnen. Das Gefühl einer die
    Naturreiche durchwaltenden Einheit atmet uns mächtig entgegen.
    Vielleicht noch dies könnte gesagt werden, daß die nervige Kraft
    des Ausdruckes, ganz Anschauung, von keiner Kunstsprache,
    keiner gelehrten Handwerkssprache entstellt, annähernd mit glei-
    cher Gewalt uns erfaßt, wie seine Bilder, jene offenbaren Mysterien,
    gleichnislosen Gruppen göttlich-menschlicher Gestalten, jene un-
    säglichen Felshintergründe und Durchblicke, und daß aus diesen
    geistigen Fragmenten das gleiche sinnlich-scelenhafte Auge uns
    manchmal anzublicken scheint, als aus den Gesichtern seiner gött-
    lichen Mädchen, Greisinnen und Jünglinge. Daß hier von Frag-
    menten die Rede ist, darf nicht beirren. Lionardo hat nie etwas
    anderes hinterlassen als Notizen, zu Konvoluten, zu Codicis ge-
    ordnet, aber niemals zum Buche ausgebildet. Der berühmte Traktat
    über die Malerei ist eine Zusammenstellung von späterer Hand.

    Hebbels Briefe in vollständiger Ausgabe seien hier nur eben
    genannt. Wie sich Leben und Produktion im schöpferischen Men-
    schen unlösbar verklammern, eines aus dem anderen dunkle Nah-
    rung saugt, da hineinzublicken gewährt dieses Buch wie keines.
    Wem in den Werken des späteren Ibsen der wiederholte Ausdruck
    dieser dunklen innerlichen Feindseligkeit nicht ganz ohne Kom-
    mentar verständlich wäre, der fände hier den Kommentar. Es gibt
    kaum ein Buch, das sich der Seele mit solchem Zwang bemäch-
    tigt als diese Briefe, besonders die aus den ersten finsteren Jahr-
    zehnten.

    Wieviel ich Lafcadio Hearn und seinen außerordentlichen
    Büchern über Japan verdanke, habe ich hie und da ausgesprochen.
    Sei hier das Buch „Out of the East“ genannt (welchem der rührig
    bemühte deutsche Übersetzer vielleicht einen anderen Titel ge-

    11T

  • S.

    geben haben mag), als dasjenige, welches bei vertrauter Bekannt-
    schaft vielleicht vor allen, auch vor dem einschmeichelnden
    „Kokoro“, den Vorzug behauptet. Das doppelte Gefühl, daß
    Lafcadio Hearn cine moralische Macht für unsere Generation ist,
    und daß es in der innersten Tendenz dieser merkwürdigen dich-
    terisch politischen Werke doch noch mehr auf unser Europa ab-
    gesehen sei als auf das fremde Inselland, befestigt sich in dem an-
    hänglichen Leser mehr und mehr.

    Das Buch Tolstoiund Dostojewskij von Mereschkowski
    ist mehr, unendlich mehr, als der bescheidene Titel ankündigt. Von
    schöpferischer, von gestaltender Kritik ist neuerdings viel die
    Rede: hier nun ist wirklich einmal durch das Zusammentreffen
    unberechenbar günstiger Bedingungen ein solches Buch zustande
    gekommen, und nirgends ist die zarte Grenzlinie zwischen gestal-
    tendem Essay und Roman überschritten. Es bedurfte eines seltenen,
    zugleich russischen und europäischen Individuums, um dieses
    Buch hervorzubringen, eines unendlichen Taktes, glücklichster
    Flexibilität, einer bis zur Exaltation gehenden Kraft des Interesses,
    Und auch das Buch selbst ist durchaus Individuum, und wie bei
    einem Individuum die Wirkung, die es auf einen disponierten
    Geist ausüben kann, kaum abzugrenzen. Dem, der selbst über
    solche Materien einigermaßen produktiv nachzudenken befähigt
    ist — und an solchen ist in unserer Epoche kein Mangel — ist
    dieses bedeutende Buch der allererwünschteste Ausgangspunkt.

    Der junge Menzel von Julius Meier-Graefe. Schulde ich
    diesem Verfasser, der immer einer unserer stärksten Köpfe bleibt,
    anderwärts viel, so verdanke ich ihm hier noch das besondere Ver-
    gnügen, mich seiner steten Selbsterzichung zu freuen, ihn reifer,
    vorsichtiger und staatsmännischer zu finden als in seinen früheren,
    immer bedeutenden und imponierenden Unternehmungen. Das
    höchst prekäre Problem der deutschen bildenden Kunst ist all-
    mählich ein zentrales, ein allgemein sittliches, ein politisches Pro-
    blem geworden. Hier ist es an einem Individuum aufgezeigt, und
    man muß eine etwas bedenkliche Politik treiben, wenn man in
    diesem Werk eines Verfassers, dem man immer nur Schwungkraft
    und Scharfsinn zugestehen, manches andere aber absprechen wollte,
    nicht auch ein höchst maßvolles Bestreben, eine geistvolle Gerech-
    tigkeit anerkennen will.

    112

  • S.

    So sei gleich neben diesem ein zweites Werk verwandten Ge-
    bietes genannt, ein so gelehrtes, als im schönen Sinne weltmän-
    nisches Werk, Produkt des tiefsten Fleißes, der reichsten Erfah-
    rung, des schönsten Formgefühls, der taktvollsten Zurückhaltung,
    wo jenes früher genannte als ein Produkt des Schwunges und
    scharfsinniger Raschheit anzusprechen ist: die Biographie
    Winckelmanns von Justi, minder berühmt als des gleichen
    Verfassers Velasquez, diesem schönen Werk aber an Rundung
    und Gehalt noch vorzuziehen. Es wird mancher das ruhevolle,
    eine entrückte Materie schön erleuchtende Werk des anerkannten
    Gelehrten mit günstigem Vorurteil zur Hand nehmen, der an das
    Buch des jüngeren, leidenschaftlich der Kunst verflochtenen, so
    mutigen als unruhigen Mannes mit Abneigung herantritt. Im auf-
    nehmenden Geist wie auf dem friedlichen Bücherbrett dürfen so
    ausgesprochene Gegensätze sich versöhnen; und wer, älterer Gene-
    ration angehörig, in seiner Bildung abgeschlossen, durch die bloße
    Zusammenstellung sich im Gemüt verletzt fühlt, möge bedenken,
    daß ein großes Volk, wie die Natur selber, aus seinen gehaltreichen
    Tiefen das Widerstreitende hervorbringt, aber auch die Geister
    hervorbringen muß, in denen das Widerstreitende im glücklich
    gesammelten Augenblick harmonisch zusammenklingt.

    Wassermann, Die Kunst der Erzählung. Dieses kleinen,
    schönen, vortrefflich geschriebenen Buches erfreue ich mich wie-
    derholt und dauernd. Daß wir nebst unseren poetischen Bestre-
    bungen über unsere Kunst und ihre nicht klar zutage liegenden
    Gesetzmäßigkeiten auch noch reden möchten, daß wir allenfalls
    diesem Gespräch noch Zuhörer außerhalb des Handwerkskreises
    erhoffen, könnte als eine arge Prätension erscheinen. Aber es liegt
    in den Menschen, daß sie gerne erfahren, gerne zuschen möch-
    ten, wie etwas gemacht wird; und noch etwas tritt dazu, was
    solchen Exkursen in die Theorie der Kunst immer aufmerksame,
    willige Zuhörer verschafft hat: der Dichter, indem er von seinen
    Kunsterfahrungen redet, redet von dem, was er eigentlich ver-
    steht. Ein Landkutscher, der von seinen Fahrten, ein Jäger, der
    von der Jagd, ein halbwegs intelligenter Handwerker, der von
    seinem Handwerke redet, wird uns nicht leicht langweilig.

    Dies ist die eigentliche Robinsonade, die wir jeder zu erzählen
    haben, und wenn wir aus unseren menschlichen Erlebnissen nur

    113

  • S.

    insofern etwas machen können, als wir Künstler sind, so sind um-
    gekehrt gerade unsere künstlerischen Erfahrungen das eigentlich
    Menschliche an uns. Doch bedürfte ich nicht einer solchen Ab-
    schweifung, um zu begründen, warum wir dieses kleine Buch schon
    vielfach haben mit Achtung nennen hören. Der Name seines Ver-
    fassers mußte ihm von vorneherein freundliche, aufmerksame
    Leser zuführen. Die schöne, leichte, urbane Form des Dialogs ist
    sichtlich im Aufleben. Und einer lichtvollen, stetigen, innerlich
    rhythmischen Auseinandersetzung zu folgen, ist ein Vergnügen,
    möge es sich selbst um so entlegene Materien, veraltete Gesichts-
    punkte handeln, wie in gewissen Abhandlungen Lessings, die wir
    doch, wenn sie uns in die Hände geraten, willig zu Ende lesen.
    Hier mochte die Freude dazu kommen, zu sehen, wie ein episches
    Talent, an dessen Produkte sich vielfache Dankbarkeit und mehr
    Hoffnungen knüpfen, sich selbst den obersten Begriff seiner Kunst
    mit innerster Freude entwickelt.

    Kant. Vorträge von Simmel. In Simmel verehren Hörer und
    Leser eine fast beispiellosc Kraft, das Geistige, das Wesenloseste,
    die geheimsten Bezüge geistigem Sinnen in faßbare Nähe zu brin-
    gen. Fast möchte man von ihm sagen, was Goethe von den Fern-
    rohren und Mikroskopen: daß sie den reinen Menschensinn ver-
    wirren. Doch wie vermöchten wir heute des Mikroskops zu ent-
    behren, wie auch auf solche seltenen Organisationen zu verzichten,
    die sich gleichsam instrumenthaft unseren feinsten Sinnen anfügen
    und uns stärker machen, die Bezüge des Weltwesens zu genießen,
    Über sein Kant-Buch hörte ich von einem bedeutenden im Leben
    stehenden Manne das schöne Urteil: es ergehe dem, der sich in
    seinen jüngeren Jahren durch seinen Kant halb genießend und
    halb leidvoll durchgewühlt habe, dann aber dieses Buch in die
    Hand bekomme, so wie dem Reiter, der sich in mühevollem, ver-
    decktem durchschnittenem Terrain lange abgequält, wenn er, nach
    Hause kommend, auf einer schönen deutlichen Karte alles sonnen-
    klar vor sich liegen sehe und nun im ganzen dic Struktur begreife
    und mit dem Blick genieße, deren einzelne Unebenheiten ihm fast
    den Hals gekostet und manchen Moment verdüstert hätten.

    Da haben Sie meine Auswahl. Es war durchaus eine Improvi-
    sation. Indem ich schließe, sind mir schon andere Bücher ins Ge-
    dächtnis gekommen, von denen ich mich wundere, daß ich sic

    114

  • S.

    nicht aufgeschrieben habe. Aber ich bedaure keines von denen, die
    ich genannt habe. Es war ein Moment, der mich dieses Verzeichnis
    entwerfen ließ: alles Produktive ist die Ausgeburt eines Moments,
    und mehr oder weniger improvisiert und fragmentarisch ist alles,
    was wir von uns geben, das ist das Lebendige daran. Ich weiß nicht,
    ob mein Verzeichnis jemandem nützlich sein kann, und wenn, so
    wird es ein einzelner sein, denn so zersplittert und verklausuliert ist
    unser geistiger Zustand, daß fast jedes Individuum in seiner Bil-
    dung auf völlig anderen Voraussetzungen ruht.


    PETER ALTENBERG
    Ich nenne ihn folgende
    Bücher, die ich für besonders
    wertvoll halte:
    Strindberg, An offener Sec.
    – Tschandala.
    Jonas Lie, Der Großvater.
    Birger-Mörner, Allerhöchst
    Plaisier.
    Maeterlinck, Le trésor des
    humbles.
    – Sagesse et destinée.
    Vollmöller, Catarina von Ar-
    magnak und ihre beiden
    Liebhaber.
    Helen Keller, Optimismus.
    Knut Hamsun, Victoria.
    Michaelis, Das Schicksal der
    jungen Ulla Fangel.
    Shakespeare, Sturm.
    Goethe, Wahlverwandtschaf-
    ten.
    – Der 28. Band seiner Schrif-
    ten.
    Grimm, Reden.
    Brüder Grimm, Märchen.
    Wagner, Meistersinger.
    – Tristan.
    Bismarcks Gedanken und Er-
    innerungen. 

    J. J. DAVID
    Ich bin wirklich in Verlegen-
    heit. Aufs Geratewohl diene:
    Die Bibel und immer wieder sie.
    Der Parzival. (Wolfram!)
    Simplizissimus (Grimmels-
    hausen).
    Luther, Lugschriften (vide
    Bibel).
    Coleridge.
    Ludwig, Zwischen Himmel
    und Erde.
    Keller, Spiegel das Kätzchen
    (Leute von Seldwyla). 

    HERMANN BAHR
    Meine „zehn guten Bücher“
    sind:
    Homer, Odyssee.
    Shakespeare, Sommernachts-
    traum.

    8* 115

  • S.

    You are requesting **MOCR** (Master OCR) on the image **image\_e7afe1.jpg** and the output must be formatted with **two HTML columns** to match the original layout. Here is the HTML source code for the image: ```html

    Meyer, der Heilige.
    Anzengruber, Sternsteinhof.
    Baruch Spinoza.
    Es mag das eine wunderliche
    Zusammenstellung sein. Wie sie
    einem Kranken, der wenig mehr
    liest, eben beikommt ...

    MARIE v. EBNER-ESCHENBACH
    Einige ältere Bücher, die mich
    seinerzeit besonders gefesselt
    haben. (Ich glaube der Ihrem
    Unternehmen zugrunde liegen-
    den Absicht zu entsprechen,
    wenn ich Selbstverständ-
    liches nicht erwähne.)
    Leberecht Hühnchen von Heinr.
    Seidel.
    Sainte Roche von Heinr. Paal-
    zow.
    Savonarola und Gedichte von
    Lenau.
    Der letzte Ritter von Anast.
    Grün.
    Hammer und Amboß von
    Spielhagen.
    Die letzten Reckenburgerin von
    Louise v. François.
    Gedichte von Betty Paoli.
    Die Makkabäer – Zwischen
    Himmel und Erde von Otto
    Ludwig.
    Ahasverus in Rom – Der
    König von Sion von Robert
    Hamerling.
    Gedichte von Lingg.
    Heinrich Stillings Jugend.

    PROF. DR. A. FOREL
    Ich erkenne den Wert und
    die Brauchbarkeit Ihrer An-
    frage recht gut an. Sehr schwer
    dagegen ist deren Beantwor-
    tung, weil sie nicht präzis ge-
    nug ist.
    Ich könnte Ihnen ja in erster
    Linie Bücher nennen, die auf
    meine eigene Geistesrichtung
    großen Einfluß hatten, die aber
    entweder nur für meine Spezia-
    lität diesen Einfluß übten (so
    Pierre Huber, „Recherches sur
    les mœurs des fourmis indi-
    gènes“, Genève 1810, und
    Meynerts „Gehirnanatomie“)
    oder so allgemein auf die
    Menschheit gewirkt haben, daß
    ihre Erwähnung meinerseits nur
    Wasser in das Meer gießen
    würde. Zu den letzteren rechne
    ich z. B.: Goethes „Faust“,
    Darwins „Entstehung der Ar-
    ten“, Shakespeares Dramen
    u. dgl. m. Anderseits werden
    Sie wohl keine speziellen, dem
    Publikum unverständlichen wis-
    senschaftlichen Werke wollen.
    Sie sehen, die Antwort ist gar
    nicht leicht. Außerdem bin ich
    in meinem ganzen Leben stets so
    mit Arbeit überladen gewesen,
    daß ich relativ wenig gelesen
    habe, in dem mir die Zeit dazu
    fehlt.
    Nach allen diesen Reserven
    möchte ich besonders folgende
     

    116

    ```

  • S.

    PROF. DR. SIEGMUND
    FREUD

    Sie verlangen, daß ich Ihnen
    „zehn gute Bücher“ nenne, und
    weigern sich, ein Wort der Er­
    läuterung hinzuzufügen. Sie
    überlassen mir also nicht nur
    die Wahl der Bücher, sondern
    auch die Auslegung Ihres Ver­
    langens. Gewöhnt, auf kleine

    117

  • S.

    anzeichen zu achten, muß ich
    mich nun an den Wortlaut hal-
    ten, in den Sie Ihre rätselhafte
    Forderung kleiden. Sie sagten
    nicht: die zehn großartigsten
    Werke (der Weltliteratur), wo
    ich dann mit so vielen anderen
    hätte antworten müssen: Homer,
    des Sophokles Tragödien,
    Goethes Faust, Shakespeares
    Hamlet, Macbeth usw. Auch
    nicht die „zehn bedeutsamsten
    Bücher“, unter denen dann wis-
    senschaftliche Leistungen wie
    die des Copernicus, des alten
    Arztes Joh. Weier über den
    Hexenglauben, Darwins Ab-
    stammung des Menschen u. a.
    Platz gefunden hätten. Sie haben
    nicht einmal nach den „Lieb-
    lingsbüchern“ gefragt, unter
    denen ich Miltons Paradise
    lost und Heines Lazarus nicht
    vergessen hätte. Ich meine also,
    in Ihrer Textierung fällt ein be-
    sonderer Akzent auf das „gut“,
    und mit diesem Prädikat wollen
    Sie Bücher bezeichnen,
    denen man etwa so steht wie mit
    „guten“ Freunden, denen man
    ein Stück seiner Lebenskennt-
    nis und Weltanschauung ver-
    dankt, die man selbst genossen
    hat und anderen gerne an-
    preist, ohne daß aber in dieser
    Beziehung das Moment der
    scheuen Ehrfurcht, die Emp-
    findung der eigenen Kleinheit
    vor deren Größe, besonders
    hervorträte.
    Zehn solcher „guter“ Bücher
    nenne ich Ihnen also, die mir
    ohne viel Nachdenken einge-
    fallen sind:
    Multatuli, Briefe und Werk.
    Kipling, Jungle book.
    Anatole France, Sur la pierre
    blanche.
    Zola, Fécondité.
    Mereschkowsky, Leonardo
    da Vinci.
    G. Keller, Leute von Seld-
    wyla.
    C. F. Meyer, Huttens letzte
    Tage.
    Macaulay, Essays.
    Gompertz, Griechische Den-
    ker.
    Mark Twain, Sketches.
    Ich weiß nicht, was Sie mit
    dieser Liste zu machen geden-
    ken. Sie erscheint mir selbst
    recht sonderbar; ich kann sie
    eigentlich nicht ohne Kommen-
    tar von mir lassen. Das Problem,
    warum gerade diese und nicht
    andere ebenso „gute“ Bücher,
    will ich gar nicht in Angriff
    nehmen, bloß die Relation zwi-
    schen dem Autor und seinem
    Werk beleuchten. Nicht überall
    ist die Beziehung so fest wie
    etwa bei Kipling, Jungle
    book. Zumeist hätte ich von
    demselben Autor ebensowohl
    ein anderes Werk auszeichnen
     

    118

  • S.

    können, etwa von Zola: den
    Docteur Pascal u. dgl. Derselbe
    Mann, der uns ein gutes Buch
    geschenkt hat, hat uns oft auch
    mit mehreren guten Büchern
    beschenkt. Bei Multatuli fühlte
    ich mich außerstande, gegen die
    „Liebesbriefe“ die Privatbricfe
    oder jene gegen diese zurückzu-
    setzen und schrieb darum:
    Briefe und Werk. Eigentliche
    Dichtungen von rein poeti-
    schem Wert haben sich von
    dieser Liste ausgeschlossen,
    wahrscheinlich weil Ihr Auf-
    trag: gute Bücher, nicht direkt
    auf dieselben zu zielen schien,
    denn bei €. F. Meyers Hutten
    muß ich die „Güte“ weit überdie
    Schönheit, die „Erbauung“ über
    den ästhetischen Genuß stellen.

    M. E. DELLE GRAZIE

    Ich habe auf Ihre Anfrage
    nicht sogleich geantwortet, weil
    der tiefe Eindruck künstleri-
    scher und wissenschaftlicher
    Werke ebenso durch die Eigen-
    art der Autoren wie des Lesers
    bedingt ist. Ich nenne Ihnen
    also, nur weil Sie Ihre Anfrage
    erneuern, zehn Werke, die auf
    mich tief gewirkt, ohne darum
    anzunehmen, daß andere Leser
    einen ähnlichen Eindruck emp-
    fangen müssen:
    Die Odyssee.
    Dantes Göttliche Komödie.

    Shelleys Entfesselter Prome-
    theus.

    Byrons Don Juan.

    Hölderlins Hymnische Dich-
    tungen.

    Des Knaben Wunderhorn.

    Die „Preces“ der heiligen
    Gertrud.

    Flauberts „Salambö“.

    Droste-Hülshoff, Gedichte.

    Storms Novellen und Ge-
    dichte.
    ENRICA BARONIN HAN-

    DEL-MAZZETTI

    Die Bücher, die ich Ihnen zu
    nennen habe, die mich in meiner
    geistigen Entwicklung am mei-
    sten gefördert haben, sind lauter
    Altmeister und finden sich wohl
    in jeder Haus- und Schul-
    bibliothek vor.

    Hier sind einige meiner
    Lieblingsbücher (nicht alle):
    Heil. Schrift, Neues Testa-

    ment.

    Thomas a Kempis, Nach-
    folge Christi.

    Dante, Divina commedia.

    Shakespcare,Lear,RichardIll.

    Molitre, L’avare.

    Goethe, Faust.

    Spee, Trutznachtigall.

    Rollenhagen, Froschmäuse-
    ler.

    Perrault, Contes.

    Ich lese daneben auch Mo-
    dernes, oft mit hohem Genusse,

    119

  • S.

    denn auch unsere Zeit hat
    große Bücher.

    Aber von den Modernen
    kehre ich immer wieder zu
    meinen lieben Alten zurück, die
    mir das meiste und immer Neues
    zu sagen haben, kehre um so
    lieber zurück, als ich weiß, daß
    die größten Modernen auch an
    diesen Quellen sich groß und
    stark getrunken haben zur Zeit
    ihres geistigen Werdens.

    HERMANN HESSE
    Folgende zehn Bücher mo-
    derner Dichter scheinen mir,
    obwohl zum Teil nicht mehr
    unbekannt, doch noch viel zu
    wenig verbreitet:
    Emil Strauß, Engelwirt.
    Wilhelm Raabe, Horacker.
    Wilhelm Fischer, Lebens-
    morgen.
    ©. J. Bierbaum, Stilpe.
    Alfons Paquet, Lieder und
    Gesänge.
    Jakob Schaffner, Irrfahrten.
    Knut Hamsun, Viktoria.
    Heidenstam,Karlder Zwölfte.
    Macleod, Wind und Woge.
    Korolenko, Sibirische No-
    vellen.

    KARL GRAF LANCKO-
    RONSKI-BRZEZIE
    Bevor ich Ihnen auf Ihre lie-
    benswürdige Aufforderung hin
    „zehn gute Bücher“ nenne, muß

    120

    ich einige Klassiker bezeichnen,

    deren Werke allbekannt sein

    sollten, die ich bei den zehn

    Büchern nicht mitkonkurrieren

    lassen kann, da sie jede Kon-

    kurrenz ausschließen. Sie wer-

    den aber vielleicht auch in der

    Klassikerauswahl eine indivi-

    duelle Note finden.

    Das Buch Hiob.

    Das Neue Testament.

    Thomas a Kempis, Die Nach-
    folge Christi.

    Homer.

    Horaz.

    Dante.

    Shakespeare.

    Spinoza.

    Pierre Corneille.

    Moliere.

    Goethe.

    Schiller.

    Grillparzer.

    Byron.

    Schopenhauer.

    Heine.

    Alfred de Musset.

    Mickiewicz.

    Graf Alexander Fredro der

    Ältere,

    Lenau.
    Cervantes, Don Quixote.

    Sollte ich 20 Klassiker
    bezeichnen, würden es diese
    sein.

    Und nun zu „zehn guten
    Büchern“. Ich kenne deren
    glücklicherweise mehr!

  • S.

    Burckhardt, Kultur der Re-
    naissance in Italien.

    Paul de Lagarde, Deutsche
    Schriften.

    Stendhals (Henri Beyles) Ro-
    mane und Novellen.

    Prosper M&rimee, Novellen.

    Hypolite Taine, Les Origines
    de la France contemporaine.

    Julyan Klaczko, Soirdes Flo-
    tentines.

    — — Jules II.

    Karl Hillebrand, Deutsches
    und Welsches, Frankreich
    und die Franzosen.

    Villers, Briefe eines Unbe-
    kannten.

    Ralph Waldo Emerson, Es-
    says.

    Viktor Hehn, Italien. Ansich-
    ten und Streiflichter.

    John Ruskin, Alles.

    Da hätten wir so etwas wie
    zehn gute Bücher, neben den
    20 Klassikern, obwohl es mehr
    wie zehn Bücher geworden,
    eigentlich nur zehn Autoren
    genannt worden.

    Eigentlich ganz auf gleiche
    Stufe stelle ich noch: Die Ge-
    dichte von Graf Rudolf
    Hoyos, Die Odysseischen
    Landschaften von Alexander
    von Warsberg, die 6—7 letz-
    ten Romane von Bulwer (dem
    Vater), den heil. Franciscus von
    Assisi von Henry Thode,
    „Durch Feuer und Schwert“

    von Sienkiewicz, die Schrif-
    ten von Andre Hallays, Die
    Päpste vonRankce,dierömische
    Geschichte von Mommsen,
    „Lateinische von
    Ferdinand Gregorovius.
    Da haben wir wieder neun
    Autoren. Verzeihen Sie, daß ich
    Ihnen statt zchn Büchern 39
    Autoren nenne, und wollen Sie
    dies als ein Zeichen meines
    guten Willens, Ihnen zu dienen,
    auffassen.

    Sommer“

    EMIL MARRIOT

    Sie wünschen, daß ich Ihnen
    zehn Bücher nenne, die mir be-
    sonders lesenswert erscheinen.
    Da ich unmöglich unter allem,
    was ich gelesen habe, eine Aus-
    wahl treffen kann (dazu wäre
    viel Zeit nötig), will ich mich
    auf jene Werke beschränken,
    die ich in den letzten Jahren mit
    besonderem Interesse las. Un-
    bekannt Gebliebenes wird sich
    freilich nicht darunter finden.
    Ich nenne Ihnen folgende Bü-
    cher:

    Hebbel, Briefe.

    Friedjung, Der Kampf um die
    Vorherrschaft in Deutsch-
    land.

    — Benedek.

    Richard Wagner, Briefe an

    Frau v. Wesendonk.
    Handel-Mazzetti, Jesse und

    Maria.

  • S.

    Thomas Mann, Die Budden-
    broks.
    Peter Altenberg, Wie ich es
    sche.
    Anzengruber, Der Sternstein-
    hof.
    Selma Lagerlöf, Gösta Ber-
    ling.
    Strindberg, Auf offener See.
    Arne Garborg, Müde Seelen.
    Ich könnte die Liste natürlich
    bedeutend erweitern. Doch das
    würde zu weit führen. Ich habe
    Ihnen eben jene Bücher aufge-
    zählt, die mir gerade in diesem
    Augenblicke besonders lebhaft
    eingefallen sind. Unsere Klas-
    siker habe ich absichtlich ver-
    mieden. Ich lese sie zwar immer
    wieder: aber ihre Werke emp-
    fehlen, hieße Eulen nach Athen
    tragen.

    DR. ERNST MACH

    Sie bezeichnen als Spezialität
    Ihres Verlages „Neuzeitliche
    Kunst und Literatur“. Diese
    Richtung liegt mir recht fern.
    Die guten Bücher in diesem
    Gebiet muß jedenfalls ein an-
    derer nennen. Sollte ich da eine
    subjektive Ansicht aussprechen,
    so könnte ich nur sagen: Wir
    lesen und genießen zu viel Mo-
    dernes, dessen Eigentümlich-
    keiten wir mit jedem Atemzuge
    aus unserer Umgebung schöp-
    fen, auch ohne zu lesen. Eine

    122

    ganz andere Weltanschauung
    lernen wir aber kennen durch
    die Geistesprodukte uns
    fernerliegender Zeitenund
    Völker. Darin liegt eine viel
    bedeutendere Bereicherung un-
    seres geistigen Lebens.
    Ich kann aber auch nicht
    annehmen, daß Sie von mir
    die Angabe wissenschaftlicher
    Werke meines Faches verlan-
    gen. Soll ich aber Bücher nen-
    nen, welche jeder Gebil-
    dete, ohne besondere fach-
    liche Erziehung, mit dem
    größten Nutzenlesen wird,
    und von welchen im Inter-
    esse der Allgemeinheit zu
    wünschen wärc, daß er sie
    gelesen hätte, so würde ich
    den Hauptwert auf Geschichte
    der Philosophie, Kulturge-
    schichte, Psychologie und Na-
    turwissenschaft legen. Um nur
    auf das Wichtigste hinzuweisen,
    führe ich an:
    Höffding,
    Philosophie.
    Gomperz,GriechischeDenker.
    Tylor, Anfänge der Kultur.
    Lecky, Geschichte der Auf-
    klärung in Buropa.
    Roskoff, Geschichte des Teu-
    fels.

    Whitney, Leben und Wachs-
    tum der Sprache.

    Ribots kleine psychologische

    Monographien.

    Geschichte der

  • S.

    Darwin,
    Arten.
    — Abstammung des
    schen.
    1. R. Mayer, Mechanik der
    Wärme.
    Die Zahl 10 ist hier noch
    kaum überschritten. Und welche

    Entstehung der

    Men-

    Genüsse, äquivalent allen poc-
    tischen, kann der Leser hier
    schöpfen aus der Wirklichkeit!

    PROF. T. G. MASARYRK

    Ich habe mir schon vor Jahren
    die Denker und Schriftsteller zu-
    sammengestellt, die nach mei-
    nem Urteil die Entwicklung der
    europäischen Menschheit reprä-
    sentieren; das ist natürlich etwas
    anderes als die Zusammenstel-
    lung der „100 besten Bücher“,
    Freilich kann man ein Verzeich-
    nis der besten Bücher anlegen,
    aber man darf sich nicht voraus
    an eine Zahl binden; auch Ihre
    Zahl ı0 macht mir Schwierig-
    keiten.

    Als ich Ihren Brief durchge-
    lesen, habe ich gleich ein Ver-
    zeichnis angelegt und das hat so
    ausgeschen:

    Leigh Hunt, The Religion of
    the Heart.

    Th. Paine, Age of Reason.

    D. Hume, Principles of Moral.

    Paine, Rights of Man.

    Björnson, Monogamic und
    Polygamie.

    Vandervelde,
    mus.

    Charlotte Bront£, Vilette —
    Ina Byre Shirley.

    Shakespeare, Tempest.

    Goethe, Wahrheit und Dich-
    tung.

    Alkoholis-

    Machar, Konfesse literäta.

    Lichtenberg, Schriften.

    Krasinsky, Ungöttliche Ko-
    mödie.

    Dostojewsky, Idiot.

    Byron, Cain — Manfred —
    Don Juan.

    Puschkin, Eugen Onegin.

    E. Browning, Aurora Leigh,

    Garschin, Novellen.

    Eine gute Sammlung von
    Volksliedern.

    ‘Wenn ich nun nachrechne, so
    habe ich 22 Bücher, respektive
    Autoren.

    Ich habe ein unangenehmes
    Gefühl, wenn ich 10 Nummern
    daraus auswählen soll; aber ich
    will es versuchen und dann habe
    ich diese Reihe:

    Volkslieder.

    Leigh Hunt, The Religion of
    the Heart.

    Paine, Rights of Man.

    Björnson, Polygamie

    Monogamie.
    Vandervelde, Alkoholismus.
    Bront£, Vilette.
    Shakespeare, Tempest.
    Goethe, Wahrheit und Dich-

    tung.

    und

    123

  • S.

    Dostojewsky, Idiot.
    E. Browning, Aurora Leigh.
    Wenn ein Freund aus unserem
    Geburtsorte uns nach Jahren
    besucht, so erinnert man sich an
    alle Schulkameraden, Spielge-
    nossen und Bekannten, Erinne-
    rung reiht sich an Erinnerung,
    und wir lassen schließlich so
    ziemlich das ganze liebe Hei-
    matsdorf grüßen; beim letzten
    Abschiede erinnern wir den
    Freund dennoch: Den und den
    vergiß mir ja nicht! — — so
    nenne ich die zehn Bücher
    respektive ihre Verfasser und
    denke dabei an alle die übrigen,
    an die ganze liebe Kulturheimat.

    J- MEIER-GRAEFE

    Wenn ich Sie recht verstehe,
    interessiert Sie, was ich sozu-
    sagen täglich in die Hand
    nehme. Das sind namentlich
    zwei Bücher: die drei Bände des
    Tagebuches von Delacroix
    und die vier Bände der Flau-
    bertschen Briefe.

    ANNA v. MILDENBURG
    Zehn gute Bücher sind:
    Shakespeare, Sonette.
    Goethe, Gespräche mit Ecker-
    mann.
    Stendhal,Chartreusede Parme.
    Dostojewsky, Karamasow.
    Fechner, Nanna.
    Lagarde, Deutsche Schriften.

    124

    Rhode, Psyche.

    Nietzsche, Briefwechsel mit
    Rhode.

    Wagner, An Frau Wesen-
    donck.

    Bismarck, Bricfe an seineFrau.

    PETER ROSEGGER
    In neuester Zeit las ich fol-
    gende alte und neue Bücher mit
    besonderem Vergnügen:
    Stifter, Studien.
    Handel-Mazzetti, Pater
    Meinrads denkwürdiges Jahr.
    — — Jesse und Maria.
    Emil Ertl, Die Leute vom
    blauen Kuckuckshaus.
    Ottokar Kernstock,
    Zwinggärtlein.
    Robert Hamerling, König
    von Sion.
    — — Homunkel.
    Gottfried Keller, Leute von
    Seldwyla.
    Hermann Schell, Christus.
    Chamberlain, Die Grund-
    lagen des 19. Jahrhunderts.

    DR. ARTUR SCHNITZLER

    Es ist mir gar nicht eingefal-
    len, Ihren ersten Brief mißzu-
    verstehen; ich hatte nur eben
    keine besondere Neigung, Ihre
    Frage zu beantworten — haupt-
    sächlich aus Antipathie gegen
    diese ganze Sitte der Rund-
    fragen (was Sie gewiß verstehen
    werden). Meine Antipathie ist

    Im

  • S.

    nicht geschwunden — aber da
    Sie schließlich einigen Wert dar-
    auf zu legen scheinen und ich
    schon im Schreiben bin, setze
    ich wahllos ein paar, nein: ge-
    nau zehn Bücher her, denen
    ich gute Stunden verdankt
    habe:
    Goethe-Zelter, Briefwechsel.
    Burckhardt, Zeitalter Kon-
    stantins.
    Brandes, Shakespeare.
    Sturm- und Drangperiode
    in der Kürschnerschen Na-
    tionalliteratur (3 Bände).
    Gibbon, Geschichte des rö-
    mischen Weltreiches (Band
    über Julian).
    Balzac, Lettres A Petrangere.
    Marbot, Memoiren.
    Jeder beliebige Band Mau-
    passant, Novellen.
    Freytag, Bilder (Band über
    den dreißigjähr. Krieg).
    Mereschkowski, Tolstoi und
    Dostojewski.

    MALER HANS THOMA
    Folgende 10 Bücher sind

    Lieblingsbücher von mir ge-
    blieben — natürlich kommen
    noch welche dazu, wo mir die
    Wahl recht schwer wird:

    1. Das neue Testament.

    2. Das Buch Hiob.

    3. Das erste Buch Moses.

    4. Die Psalmen Davids.

    5. DashoheLiedSalomons.

    6. Homer, Odyssee,

    7. Der Simplizissimus von
    Grimmelshausen.

    8. Goethe, Herrmann und
    Dorothea.

    9. Hebel, Schatzkästlein.

    10. Uli der Knecht von ]J.
    Gotthelf.

    LUDWIG THOMA
    (Peter Schlemihl).

    Ich will Ihnen gerne sagen,
    was mir in der letzten Zeit
    Freude gemacht hat:

    Darunter sind alte Bücher,
    die ich oft gelesen habe.

    Meister Gottfried Kellers
    Werke. Voran das „Sinnge-
    dicht“, das man mit solchem
    Bedachte lesen muß, etwa wie
    man alten Rheinwein trinkt.

    Und Wilhelm Raabes le-
    bensweise Bücher, in denen ein
    gütiger und großer Künstler so
    heiter über alle Schwächen lä-
    chelt.

    Da sind Hungerpastor,
    Abu Telfan, Schüdderump,
    Alte Nester, Meister Autor
    usw. Dann:

    Viktor Hehn, „Gedanken
    über Goethe“. Aber einige
    neuere:

    Emil Strauß, „Freund
    Hein“, der „Engelwirth‘“,
    „Menschenwege“.

    Hermann Hesse, „Camen-
    zind“, „Unterm Rad“,

    125

  • S.

    Dann las ich Ganghofers
    „Mann im Salz“ und Jakob
    Schaffners „Irrfahrten“.

    Und las wieder manches alte,
    liebe Buch von Walter Scott
    und Dickens, bei denen man
    so prächtig unterm Nußbaum
    liegen und den 'Tabakrauch in
    die Höhe blasen kann.

    PS.

    Natürlich Goethe, und weil
    Sie Österreicher sind, Anzen-
    grubers „Sternsteinhof“. Wo
    anfangen und wo enden? Ich
    meine, wir sollen froh sein, daß
    es nicht 10 beste Bücher gibt.

    JAKOB WASSERMANN

    Es ist mir unmöglich, solche
    bestimmte Bücher aufs Gerate-
    wohl zu nennen. Ich finde mich
    zu vielen verpflichtet und an-
    dererseits bin ich vielleicht an
    manchen achtlos vorübergegan-
    gen, die anderen zu Erlebnissen
    wurden. Ich liebe im allgemei-
    nen nicht, Romane zu lesen, nur
    wenige der neueren vermögen
    mich in dieser Kunstgattung zu
    fesseln, ich greife gern nach dem
    Alten und suche längstvertraute
    Bilder der Meister der verblaß-
    ten Erinnerung wieder nahezu-
    führen. Ein Konservatismus,
    der weniger erstaunlich und an-
    maßend wirkt, wenn Sic beden-
    ken, daß der um ein, gleichviel
    wic immer bewertetes, Schaffen

    126

    bemühte Geist einer gewissen
    Ökonomie bedarf und daß einer
    seiner Grundtriebe darin be-
    steht, sich der Fülle zu erweh-
    ren, sich nicht mit totem Mate-
    rial zu beladen und in den Gär-
    ten der Kunst wie des Lebens
    nur die dienstlichen Früchte zu
    pflücken.

    Ich bin ein Mensch ohne so-
    genannte gymnasiale Bildung.
    Vielleicht rührt es daher, daß
    mir die Klassiker der Griechen
    im Alter eingetretener Reife in-
    nere Erlebnisse von unvergeß-
    licher Bedeutung wurden und
    daß mir Platos Dialoge oder
    Thukydides’ Historie ganz an-
    deren Sinn offenbarten, als ich
    darin geahnt, wenn mir studen-
    tische Freunde einst mit sauer-
    süßen Mienen ihre humanisti-
    schen Qualen beichteten. Ich
    verdanke darin einem Jakob
    Burckhardt oder Rhode oder
    Droysen mchr, als sich hier in
    kurzem andeuten läßt.

    Demzunächst richtet sich
    meine Begierde auf Chroniken,
    Memoiren, Legenden-undBrief-
    sammlungen, Gerichtsakten,
    kurz auf alles stark Persönliche
    und stark Sachliche. Ich bin ein
    ebenso unermüdlicher Leser des
    Pitaval wie der Gesta romano-
    rum, der Vehseschen Hofge-
    schichte wie aller Reisebeschrei-
    bungen aus alter und neuer Zeit.

  • S.

    Ich verschmähe sogar hie und
    da nicht einen spannenden klei-
    nen Kolportage- und Detektiv-
    roman und könnte in gruseln-
    dem Interesse für eine gut er-
    zählte Geister- und Gespenster-
    geschichte mit jeder Köchin
    wetteifern. Der geheime Zweck
    und Antrieb bei alledem ist
    aber: Lebensdokumente aufzu-
    suchen, Zeugnisse von unmittel-
    barer Deutkraft, Stimmen von
    unwiderleglicher und kontrol-
    lierbarer Wahrheit zu sammeln.
    Kunst rückt die Welt fern, der

    Künstler muß sich seine Nähe
    zu ihr erst erobern. Der Schrift-
    steller von heute ist in den aller-
    meisten Fällen ein durchaus sin-
    gulärer Mensch, er ist in höhe-
    rem Sinne gesellschaftlich be-
    ziehungslos, er hat weder Volk
    noch Adel für sich, wenigstens
    in Deutschland, und den Bürger
    nur dann, wenn er ihn nicht
    stört. Er ist also auf Quellen an-
    gewiesen, die ihm den direkten
    Zufluß großen Lebens, soweit
    er sich dessen nicht visionär be-
    meistert, ersetzen.

    127