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der Vorwurf des Plagiats erhoben wurde. Ich gestatte mir, hierzu zu bemerken,
daß derselben Behauptung bereits zu Lebzeiten Weiningers von dem bekannten
Leipziger Neurologen Moebius in einer gegen Geschlecht und
Charakter gerichteten Gegenschrift Geschlecht und Unbe-
scheidenheit Ausdruck gegeben ist. Kurz bevor diese Schrift erscheinen
sollte, nalim sich Weininger das Leben, wodurch sich Moebius damals ver-
anlaßt sah, seine Schrift erst mehrere Monate später der Oeffentlichkeit zu
übergeben. Sicher ist, daß die Grundlage des so viel Aufsehen erregenden
Buches von Weininger, nämlich die Lehre, daß zwischen dem männlichen
und weiblichen Geschlecht eine außerordentlich große Anzahl von Zwischen-
formen namentlich auch auf geistigem Gebiete vorkommen und daß diese
Erscheinung auf die sexuelle Uranlage des Menschen zurückzuführen ist.
nicht Weiningers geistiges Eigentum ist. Um nur einige Autoren zu er-
wähnen, welche sich bereits früher in demselben Sinne geäußert haben, nenne
ich den Amerikaner Kierman, welcher 1889 im Medical Standard" eine
Abhandlung veröffentlichte in der es heißt: It seems certain, that a feminily
functionating brain can occupy a male body and vice versa". Ferner den
Franzosen Chevalier, welcher in seinem Werke Inversion Sexuelle".
(Paris 1893) diese Anschauung vertritt. Ferner vor allem Darwin, der
sich wiederholt in derselben Richtung auf die latenten Sexualcharaktere
beruft. Von deutschen Autoren hat die von Weininger zugrunde gelegte
biologische Anschauung unter anderen vertreten bereits in den sechziger
Jahren Ulrichs und fast gleichzeitig unabhängig von einander 1896 Krafft-
Ebing in seiner bekannten Psychopathia sexualis, sowie Unterzeichneter in
seiner ersten unter dem Pseudonym Ramien veröffentlichten Arbeit „Sappho
und Socrates". Sehr eingehend aber findet sich dann die Bisexualitätstheorie
in den von uns herausgegebenen Jahrbüchern für sexuelle Zwischenstufen"
erörtert, die sich geradezu auf dieser Lehre aufbauen und deren erster Band
4 Jahre vor dem zuerst im Mai 1903 publizierten Werke Weiningers erschien.
Trotzdem es keinem Zweifel unterliegt, daß der sehr belesene Weininger die
genannten Arbeiten gekannt hat (so nennt er unter anderem die Jahrbücher
für sexuelle Zwischenstufen auf S. 479 ein verdienstvolles Unternehmen"), so
scheint mir doch der schwere Vorwurf des Plagiats ungerechtfertigt
und zwar aus folgenden Gründen: Einmal enthält Weiningers Buch neben
viel Entlehntem eine ganz außerordentliche Menge völlig selbständiger und
sehr eigenartiger Gedanken und Schlüsse. Dann fügt er selbst seiner Arbeit
einen nicht weniger als 136 Seiten langen Anhang hinzu, welcher ausschließlich
aus Literaturnachweisen besteht, die in ihrer Gründlichkeit mit den wert-
vollsten Teil der Arbeit bilden. Endlich kommt hinzu, daß es sich bei
Weininger offenbar um eine neuropathische Persönlichkeit handelt, wenn wir
auch nicht so weit gehen können wie Forel, der in seiner soeben erschienenen
5. Auflage der Sexuellen Frage" über Geschlecht und Charakter" folgendes
Urteil fällt: Werk eines frühreifen, blutjungen, eminent talentvollen Geistes-
kranken". Auf die in derselben Notiz Ihrer geschätzten Zeitung erhobene
Behauptung, auch Dr. Swoboda, Weiningers Freund, habe sich eines
Plagiats schuldig gemacht, hier einzugehen ist umso weniger erforderlich, als
der verdienstvolle Gelehrte lebt und wohl seine Verteidigung selbst über-
nehmen wird. Mit vorzüglicher Hochschätzung
Charlottenburg, 7. Januar 1906.
Die Aufnahme dieser Zuschrift wurde von der Redaktion des „Berliner
Tagebl." mit der Begründung, welche wir nachstehend wiedergeben, abgelehnt:
Berlin, SW. 19, den 15. Januar 1906.
Dr. Magnus Hirschfeld.
Sehr geehrter Herr Doktor! Auf Grund unserer telephonischen
Unterredung sende ich Ihnen Ihre Mitteilungen zum Fall Weininger mit bestem
Dank zurück. Derartige die homosexuelle Frage behandelnde Themata können
wir in unserem Blatte, das gerade in Familienkreisen sehr gelesen wird, nicht
veröffentlichen. Hochachtungsvoll ergebenst
Inzwischen hatten wir an Prof. Freud geschrieben, von welchem in der
Broschüre behauptet wird, daß er die Fließ'schen Entdeckungen an seinen
Schüler Swoboda und durch diesen auch an Weininger weitergegeben habe. Wir
gestatteten uns, Prof. Freud darauf hinzuweisen, daß er wohl die gegebene
Persönlichkeit sei, in der Streitsache das Wort zu ergreifen. Dieses Schreiben
kreuzte sich mit einem Brief von Prof. Freud, aus welchem wir folgende
Stelle zitieren:Darf ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine Broschüre: Wilhelm
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Fließ und seine Nachentdecker: O. Weininger und H. Swoboda" von R. Pfennig,
Berlin 1906, lenken? Es ist ein abscheuliches Machwerk, welches unter
anderm auch mich mit einer absurden Verdächtigung bedenkt; ich hoffe Sie
werden denselben Eindruck empfangen. Allein sachlich handelt es sich in
ihr um die Prioritätsfrage in Sachen der Bisexualität. Ich meine, Ihr Jahr-
buch wäre der geeignete Boden auf dem eine unparteilichere Untersuchung
und Darstellung der Entwickelung dieses bedeutsamen Gedankens und seiner
Modifikationen erwachsen könnte. Ich würde mich sehr freuen, wenn diese
Anregung Ihnen anwendbar erschiene. In kollegialer Hochachtung Ihr
Dr. Freud."
Diesem Schreiben folgte 3 Tage später ein zweites, das auf unsern Brief
Bezug nimmt:Hochgeehrter Herr Kollege! Unsere Briefe haben sich also gekreuzt,
wie ich daraus schließe, daß Sie die Anerkennung der Geschlechtsübergänge"
erst erwarten, und während ich Ihnen schrieb, daß die von Pfennig auf-
geworfene Prioritätsfrage wohl in die Interessen Ihres Jahrbuches falle,
dachten Sie daran, daß ich die geeignete Person dazu sei, in dieser Frage das
Wort zu ergreifen. Nun ich bin nicht geeignet dazu. Von allen anderen
Momenten abgesehen, die mir gegenwärtig solche Arbeit unmöglich
machen, tauge ich nicht für sie, weil ich in Folge der bei Fließ-Pf. gegen
mich ausgesprochenen Verdächtigungen nicht mehr unparteiisch genug bin.
Ich war früher geneigt, Fließ die Priorität wenigstens für eine bestimmte Modi-
fikation des Gedankens der Bisexualität zuzugestehen und war, wie Sie aus
dem bei Fließ-Pf. widerrechtlich abgedruckten Brief ersehen können, eigentlich
überängstlich bemüht, den Schein, als wollte ich seine Priorität anzweifeln,
von mir fern zu halten. Ich sehe es heute schon anders, nämlich ungefähr so,
wie Sie es sehen, wie Moebius und wie ich selbst, ehe Fließ seinen An-
spruch privatim bei mir angemeldet hatte. Ich möchte überhaupt in dieser
Angelegenheit das Persönliche vom Sachlichen trennen. Ein persönliches
Motiv zur Aeußerung erwächst mir aus der Ihnen bekannten Beschuldigung.
daß ich Weininger und Swoboda mit unveröffentlichten Fließ'schen Ideen
versorgt, natürlich in der Absicht, den wirklichen Urheber zu schädigen.
Allein dies ist so absurd, daß es wenig Gläubige finden dürfte. In Wirklich-
keit handelt es sich hier um das Hirngespinst eines Ehrgeizigen, dem in seiner
Vereinsamung der Maßstab für das was möglich, und für das was erlaubt ist,
abhanden kam. Es ist auch garnicht schwer, den harmlosen Sachverhalt aus
der in ihren Mitteln ebenfalls verwerflichen Streitschrift selbst zu erkennen.
Ich will Ihnen nur zwei Daten herausheben. Wenn es eine Bisex: Marke
Fließ" gibt, so ist es die in der Vorrede zu seinen Beziehungen zwischen Nase
und Sexualorg. 1897 laut proklamierte. Meine Bekanntschaft mit Swoboda
beginnt im Herbst 1900. Weininger habe ich zum ersten Male gesehen, als
er mir das Manuskript seines Buches vorlegte, und dann noch ein zweites
Mal, als ich es ihm mit der ablehnenden Kritik zurückstellte. Es wäre also
nicht schwer, die Anklage von Fließ zu widerlegen; aber es ist auch nicht.
angenehm, einem Menschen, mit den man 12 Jahre lang intimste Freundschaft
gepflogen hat, öffentlich harte Worte sagen zu müssen und ihn zu weiteren
Mehrproduktionen zu veranlassen. Und da überdies Dr. Swoboda in seiner
Verteidigung den Sachverhalt klarlegen wird, kann es wohl geschehen, daß
der Redakteur des B. T." vergebens auf meine Aeußerung wartet.
Man kann zwar nicht für sich einstehen. Diese meine Aeußerungen stelle ich
Ihnen aber zur beliebigen Verwendung anheim, wenn Sie wie angedeutet die
Absicht haben sollten, das Anrecht der Jahrbücher in der Prioritätsfrage
öffentlich zu vertreten. Ich erinnere mich, daß ich selbst in der Anmerkung
zur Sexualtheorie" die geschlechtliche" Auffassung der Bisexualität aus Ihrem
Organ herangezogen habe. Ich danke Ihnen für Sappho und Sokrates",
welche Schrift mir bereits bekannt war, herzlich. In vorzüglicher Hochachtung
Ihr Dr. Freud".
9. Die 1. Nr. 1906 des XI. Jahrganges der Deutschen Juristen-
Zeitung (Verlag Otto Liebmann, Berlin), enthält eine beachtenswerte Ab-
handlung über „Die Rechtsprechung in Strafsachen und das allgemeine Rechts-
bewußtsein" aus der Feder des Reichsgerichts-Senatspräsidenten Dr. Frhr.
v. Bülow, worin sich folgender bedeutsamer Passus findet: es ist das
allgemeine Rechtsbewußtsein" oft ein sehr unklares und sucht die Mängel und
Mißstände an der verkehrten Stelle. Wer nicht durch jahrelange Uebung sich
an gründliche und objektive Prüfung von Rechtsfragen gewöhnt hat, ist leicht
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