19. Sitzung am 24. Mai 1922. Theodor Reik: Ödipus und die Sphinx II. 1922-512/1922.2
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    246 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
     

    Neunzehnte Sitzung am 24. Mai.
     

    Dr. Theodor Reik: Ödipus und die Sphinx II. (Wird im II. Band
    der Probleme der Religionspsychologie" erscheinen.)

    Diskussion:

    Federn: Mir sind die Details der Darstellung Ranks in seinem Werke
    über „Inzest in Sage und Dichtung" nicht genug in Erinnerung, um auszu-
    schließen, daß ich nur Lesefrüchte aus seinem Buche in Erinnerung habe¹.
    Aber ich stehe auch zu sehr unter dem Eindruck eines im Vorjahr erschienenen
    Buches von M. Värting, in welchem die Sitten des Matriarchats in ihrem

    1 Wie ich mich durch Nachschlagen überzeugte, hat meine Auffassung bei Rank keine
    Darstellung gefunden.
     

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    Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 247
     

    wirklichen Gegensatz zu Gesellschaftsformen mit Männerrecht ausführlich
    dargestellt werden, um von der homosexuellen Bedeutung der Sphinx, wie sie
    Reik annimmt, leicht überzeugt zu werden. Wenn Reik recht hat, so
    handelt es sich jedenfalls um eine viel tiefere Schichte. Sein Argument, die,
    wie mir scheint, etwas willkürliche Annahme von Umkehrungen, welche
    analog wie im Traum die homosexuelle Einstellung der Volksseele bei der
    Schöpfung der Sphinxsage beweisen, hat doch zu wenig Analogie zur
    Umkehrung im Traume. Im alten Ägypten, in welchem durch Jahrtausende
    eine Kultur mit Frauenvorherrschaft bestand, hatte die Löwin und die Sphinx
    die allgemeine symbolische Bedeutung der herrschenden Frau und Königin,
    sie hat nichts von einem Vatersymbol an sich, ist speziell Darstellung der
    Muttergottheit; entsprechend der Frauenherrschaft waren auch weibliche
    Gottheiten zu dieser Zeit mächtiger als die männlichen Götter, und ihr Kult
    vorherrschend.
     

    Wenn wir von dieser Bedeutung ausgehen, so bekommt die Begegnung
    gerade des Ödipus mit der Sphinx einen tiefen Inhalt. Ödipus wird vor der
    drohenden Ausführung des Inzestes von einer Muttergottheit, die analog den
    männlichen Totems als Tiergestalt die Stammesmutter darstellt, nochmals
    aufgehalten, gewarnt. Eine große Anzahl späterer Sagen und Dichtungen
    enthält dasselbe Motiv. Der so tief vom Ödipuskomplex erfüllte Grillparzer
    hat es fast zu deutlich in der „Ahnfrau" modern dargestellt. Auch sie warnt
    in letzter Stunde vor dem Inzeste. So also begegnet Ödipus zweimal einer
    Mutter, erst der Sphinx, dann der Jokaste. Auch das Rätsel hat in bezug auf
    diese Schichte der Sagenbildung eine gute Motivierung. Es wiederholt - wie
    vorher die täuschenden Orakelsprüche und Adoptierung die unheimliche
    Unsicherheit des inzestgierigen Sohnes über seinen Ursprung. Die Urmutter
    warnt: Weißt du, wer du bist? Dieses Motiv des Fragens vor einem Kampfe
    kommt in zahlreichen Heldensagen vor. Fast immer sind es Vater und Sohn, die
    miteinander kämpfen wollen, vorher wird mit Rätselfragen der Sohn geprüft
    und oft der Kampf dadurch verhindert. Die Rätsellösung wird in späteren
    Sagen zum Ersatz des Kampfes. Ursprünglich aber drückt es die Unsicherheit
    und Gefahr aus, Vatermord und Inzest zu begehen, als Gegenströmung gegen
    den Inzestwunsch, der den Helden treibt. Die ruhelose Stammesmutter tritt in
    noch späteren abgeschwächten Formen der Sage als Warnerin vor jeder
    Freveltat, zuletzt vor jedem Unglück auf. Daß es aber gerade die Stammes-
    mutter ist, ist ein Rest von der Bedeutung, die die Mutter im Kampf zwischen
    Vater und Sohn einstmals hatte, und von der Machtstellung, die sie dabei gewann.
    Schließlich erinnert die Aufforderung, das Rätsel vorher zu lösen, seine
    Herkunft vorher zu erkennen, bevor der Unbekannte die ungewollt ruchlose
    Ehe schließt, auch an einen eigentümlichen, unverständlichen Ausdruck der
    Bibel, wo er erkannte sie" für „er verkehrte mit ihr" steht. Vielleicht ist
    auch hier die Notwendigkeit, durch das Erkennen einen Inzest auszuschließen,
    eine annehmbare Erklärung.