S.
246 Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Neunzehnte Sitzung am 24. Mai.
Dr. Theodor Reik: Ödipus und die Sphinx II. (Wird im II. Band
der Probleme der Religionspsychologie" erscheinen.)Diskussion:
Federn: Mir sind die Details der Darstellung Ranks in seinem Werke
über „Inzest in Sage und Dichtung" nicht genug in Erinnerung, um auszu-
schließen, daß ich nur Lesefrüchte aus seinem Buche in Erinnerung habe¹.
Aber ich stehe auch zu sehr unter dem Eindruck eines im Vorjahr erschienenen
Buches von M. Värting, in welchem die Sitten des Matriarchats in ihrem1 Wie ich mich durch Nachschlagen überzeugte, hat meine Auffassung bei Rank keine
Darstellung gefunden.
S.
Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 247
wirklichen Gegensatz zu Gesellschaftsformen mit Männerrecht ausführlich
dargestellt werden, um von der homosexuellen Bedeutung der Sphinx, wie sie
Reik annimmt, leicht überzeugt zu werden. Wenn Reik recht hat, so
handelt es sich jedenfalls um eine viel tiefere Schichte. Sein Argument, die,
wie mir scheint, etwas willkürliche Annahme von Umkehrungen, welche
analog wie im Traum die homosexuelle Einstellung der Volksseele bei der
Schöpfung der Sphinxsage beweisen, hat doch zu wenig Analogie zur
Umkehrung im Traume. Im alten Ägypten, in welchem durch Jahrtausende
eine Kultur mit Frauenvorherrschaft bestand, hatte die Löwin und die Sphinx
die allgemeine symbolische Bedeutung der herrschenden Frau und Königin,
sie hat nichts von einem Vatersymbol an sich, ist speziell Darstellung der
Muttergottheit; entsprechend der Frauenherrschaft waren auch weibliche
Gottheiten zu dieser Zeit mächtiger als die männlichen Götter, und ihr Kult
vorherrschend.
Wenn wir von dieser Bedeutung ausgehen, so bekommt die Begegnung
gerade des Ödipus mit der Sphinx einen tiefen Inhalt. Ödipus wird vor der
drohenden Ausführung des Inzestes von einer Muttergottheit, die analog den
männlichen Totems als Tiergestalt die Stammesmutter darstellt, nochmals
aufgehalten, gewarnt. Eine große Anzahl späterer Sagen und Dichtungen
enthält dasselbe Motiv. Der so tief vom Ödipuskomplex erfüllte Grillparzer
hat es fast zu deutlich in der „Ahnfrau" modern dargestellt. Auch sie warnt
in letzter Stunde vor dem Inzeste. So also begegnet Ödipus zweimal einer
Mutter, erst der Sphinx, dann der Jokaste. Auch das Rätsel hat in bezug auf
diese Schichte der Sagenbildung eine gute Motivierung. Es wiederholt - wie
vorher die täuschenden Orakelsprüche und Adoptierung die unheimliche
Unsicherheit des inzestgierigen Sohnes über seinen Ursprung. Die Urmutter
warnt: Weißt du, wer du bist? Dieses Motiv des Fragens vor einem Kampfe
kommt in zahlreichen Heldensagen vor. Fast immer sind es Vater und Sohn, die
miteinander kämpfen wollen, vorher wird mit Rätselfragen der Sohn geprüft
und oft der Kampf dadurch verhindert. Die Rätsellösung wird in späteren
Sagen zum Ersatz des Kampfes. Ursprünglich aber drückt es die Unsicherheit
und Gefahr aus, Vatermord und Inzest zu begehen, als Gegenströmung gegen
den Inzestwunsch, der den Helden treibt. Die ruhelose Stammesmutter tritt in
noch späteren abgeschwächten Formen der Sage als Warnerin vor jeder
Freveltat, zuletzt vor jedem Unglück auf. Daß es aber gerade die Stammes-
mutter ist, ist ein Rest von der Bedeutung, die die Mutter im Kampf zwischen
Vater und Sohn einstmals hatte, und von der Machtstellung, die sie dabei gewann.
Schließlich erinnert die Aufforderung, das Rätsel vorher zu lösen, seine
Herkunft vorher zu erkennen, bevor der Unbekannte die ungewollt ruchlose
Ehe schließt, auch an einen eigentümlichen, unverständlichen Ausdruck der
Bibel, wo er erkannte sie" für „er verkehrte mit ihr" steht. Vielleicht ist
auch hier die Notwendigkeit, durch das Erkennen einen Inzest auszuschließen,
eine annehmbare Erklärung.
z819222
246
–247