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Professor Dr. Siegmund Freud
Sie verlangen, daß ich Ihnen „zehn gute
Bücher" nenne, und weigern sich, ein Wort der
Erklärung hinzuzufügen. Sie überlassen mir also
nicht nur die Wahl der Bücher, sondern auch die
Auslegung ihres Verlangens. Gewöhnt, auf kleine
Anzeichen zu achten, muß ich mich nun an den
Wortlaut halten, in den Sie Ihre rätselhafte
Forderung kleiden. Sie sagten nicht: die zehn
großartigsten Werke (der Weltliteratur), wo ich
dann mit so vielen anderen hätte antworten
müssen: Homer, des Sophokles Tragödien, Goethes
Faust, Shakespeares Hamlet, Macbeth u. s. w.
Auch nicht die „zehn bedetendsten Bücher",
unter denen dann wissenschaftliche Leistungen wie
die des Copernicus, des alten Arztes Joh.
Weier über den Hexenglauben, Darwins Ab-
stammung des Menschen u. a. Platz gefunden
hätten. Sie haben mich nicht einmal nach den „Lieblings-
büchern” gefragt, unter denen ich Miltons
Paradise lost und Heines Lazarus nicht ver-
gessen hätte. Ich meine also, in Ihrer Textierung
fällt ein besonderer Akzent auf das „gut”, und
mit diesem Prädikat wollen Sie Bücher bezeichnen,
mit denen man etwa so steht, wie mit „guten”
Freunden, denen man ein Stück seiner Lebens-
kenntnis und Weltanschauung verdankt, die man
selbst genossen hat und anderen gerne anpreist,
ohne daß aber in dieser Beziehung das Moment
der scheuen Ehrfurcht, die Empfindung der eigenen
Kleinheit vor deren Größe, besonders hervorträte.Zehn solcher „guter” Bücher nenne ich Ihnen
also, die mir ohne viel Nachdenken eingefallen sindMultatuli, Briefe und Werk.
Kipling, Jungle book.
Anatole France, Sur la pierre blanche.
Zola, Fécondité.
Mereschkowsky, Leonardo da Vinci.
G. Keller, Leute von Seldwyla.
C. F. Meyer, Huttens letzte Tage.
Macanlay, Essays.
Gomperz, Griechische Denker.
Mark Twain, Sketches.Ich weiß jetzt nicht, was Sie mit dieser Liste zu
machen gedenken. Sie erscheint mir selbst recht
sonderbar ich kann sie eigentlich nicht ohnen Kom-
mentar von mir lassen. Das Problem, warum
gerade diese und nicht andere ebenso „gute”
Bücher, will ich gar nicht in Angriff nehmen,
bloß die Relation zwischen dem Autor und seinem
Werk beleuchten. Nicht überall ist die Beziehung
so fest wie etwa bei Kipling, Jungle book.
Zumeist hätte ich von demselben Autor ebenso-
wohl ein andere Werk auszeichnen können, etwa
von Zola: den Docteur Pascal u. dergl. Der-
selbe Mann, der uns ein gutes Buch geschenkt
hat, hat uns oft auch mit mehreren guten
Büchern beschenkt. Bei Multatuli fühlte ich mich
außerstande, gegen die „Liebebriefe" die Privat-
briefe oder jene gegen diese zurückzusetzen und
schrieb darum: Briefe und Werk. Eigentliche
Dichtungen von rein poetischem Wert haben sich
von dieser Liste ausgeschlossen, wahrscheinlich weil
Ihr Auftrag: gute Bücher nicht direkt auf die-
selben zu zielen schien, denn bei C. F. Meyers
Hutten muß ich die „Güte" weit über die Schön-
heit, die „Erbauung" über den ästhetischen Genuß
stellen.Sie haben mit Ihrer Aufforderung, Ihnen
„zehn gute Bücher" zu nennen, etwas angerührt,
worüber sich unermeßlich viel sagen ließe. Ich
schließe also, um nicht noch viel mitteilsamer zu
werden.Ihr ergebenster Dr. Freud
Anmerkung:
1. Freuds Vorname wurde hier mit "ie" (Siegmund) geschrieben.2. Zu den Büchern eine erste Annäherung zum Werk-Kotntex, die mit Fortschreiten der Edition vertieft wird.
Zu Multatuli finden sich drei Stellen in Freuds Werk:
Freud, Sigmund (1907): Zur sexuellen Aufklärung der Kinder. GW 7, 19-27
Hier finden wir – in den GW 7, auf den Seite 20/21 – ein Zitat von Multatuli, als Quelle ist in einer Fußnote "Multatuli – Briefe, herausgegeben von W. Spohr, 1906, Bd. I, S. 26" genannt.
"Ich weiß wirklich nicht, in welcher dieser Absichten ich das Motiv für das tatsächlich geübte Verstecken des Sexuellen vor den Kindern erblicken soll; ich weiß nur, daß sie alle gleich töricht sind, und daß es mir schwer fällt, sie durch ernsthafte Widerlegungen auszuzeichnen. Ich erinnere mich aber, daß ich in den Familienbriefen des großen Denkers und Menschenfreundes Multatuli einige Zeilen gefunden habe, die als Antwort mehr als bloß genügen können.
“Im allgemeinen werden einzelne Dinge nach meinem Gefühl zu sehr umschleiert. Man tut recht, die Phantasie der Kinder reinzuhalten, aber diese Reinheit wird nicht bewahrt durch Unwissenheit. Ich glaube eher, daß das Verdecken von etwas den Knaben und das Mädchen um so mehr die Wahrheit argwöhnen läßt. Man spürt aus Neugierde Dingen nach, die uns, wenn sie uns ohne viel Umstände mitgeteilt würden, wenig oder kein Interesse einflößen würden. Wäre diese Unwissenheit noch zu bewahren, so könnte ich mich damit versöhnen, aber das ist nicht möglich; das Kind kommt in Berührung mit anderen Kindern, es bekommt Bücher in die Hände, die es zum Nachdenken bringen; gerade die Geheimtuerei, womit das dennoch Begriffene von den Eltern behandelt wird, erhöht das Verlangen, mehr zu wissen. Dieses Verlangen, nur zum Teil, nur heimlich befriedigt, erhitzt das Herz und verdirbt die Phantasie, das Kind sündigt bereits, und die Eltern meinen noch, daß es nicht weiß, was Sünde ist.”Freud, Sigmund (1924): Das ökonomische Problem des Masochismus‹
Hier finden wir – in den GW 13, auf Seite 381 – eine Erwähung von Multatuli, als Quelle ist "Ed. Douwes Dekker (1820-1887)" in einer Fußnote genannt.
"Wenn der holländische Dichter Multatuli die Moĩρα der Griechen durch das Götterpaar Λόγος χαὶ ΄Ανάγχη ersetzt, so ist dagegen wenig einzuwenden; aber alle, die die Leitung des Weltgeschehens der Vorsehung, Gott oder Gott und der Natur übertragen, erwecken den Verdacht, daß sie diese äußersten und fernsten Gewalten immer noch wie ein Elternpaar — mythologisch — empfinden und sich mit ihnen durch libidinöse Bindungen verknüpft glauben."Freud, Sigmund (1927): Die Zukunft einer Illusion. GW 14, 325-380
Hier finden wir – in den GW 14, auf Seite 378 – eine indirekte Erwähung von Multatuli, als Quelle ist in einer Fußnote "Das Götterpaar Λόγος-΄Ανάγϰη des Holländers Multatuli" genannt.
"Unser Gott Λóγoς wird von diesen Wünschen verwirklichen, was die Natur außer uns gestattet, aber sehr allmählich, erst in unabsehbarer Zukunft und für neue Menschenkinder."Zudem wissen wir von einem Vortrag Freuds mit dem Titel "Multatuli", den Freud in der Loge B'nai B'rith gehalten hatte.
Mit Gomperz war Freud schon als junger Mann persönlich bekannt, er suchte ihn – wie Josef Breuer auch, der der Hausarzt der Familie – in dessen Haus auf. Gomperz beauftragte Freud 1879 mit der Übesetzung von Werken des Philosophen und Nationalökonomen John Stuart Mill. Freud behandlet die Ehefrau von Theodor Gomperz, Elise von Sichrovsky (1848–1929) und deren Sohn Heinrich Gomperz.
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