Zur Aetiologie der Hysterie [III.] 1896-003/1896.3
  • S.

    Originalartikel, Berichte aus Kliniken und Spitälern.

    Zur Aetiologie der Hysterie.
    Von

    Dr. Sigm. Freud.
    (Fortsetzung.*)

    II.

    Sie errathen es wohl, meine Herren, dass jenen
    letzten Gedankengang nicht so weit ausgesponnen hätte,
    wenn ich Sie nicht darauf vorbereiten wollte, dass er allein es ist,
    der uns nach so vielen Verzögerungen zum Ziele führen wird.
    Wir stehen nämlich wirklich am Ende unserer langwierigen
    und beschwerlichen analytischen Arbeit und finden hier alle
    bisher festgehaltenen Ansprüche und Erwartungen erfüllt.
    Wenn wir die Ausdauer haben, mit der Analyse bis in
    die frühe Kindheit vorzudringen, so weit zurück nur das
    Erinnerungsvermögen eines Menschen reichen kann, so ver-
    anlassen wir in allen Fällen den Kranken zur Reproduction
    von Erlebnissen, die infolge ihrer Besonderheiten sowie ihrer
    Beziehungen zu den späteren Krankheitssymptomen als die
    gesuchte Aetiologie der Neurose betrachtet werden müssen.
    Diese **infantilen Erlebnisse sind wiederum sexuellen**
    **Inhalts**, aber weit gleichförmigerer Art, als die letztgefundenen
    Pubertätsscenen; es handelt sich bei ihnen nicht mehr um
    die Erweckung des sexuellen Themas durch einen beliebigen
    Sinneseindruck, sondern um sexuelle Erfahrungen am eigenen
    **Leib, um geschlechtlichen Verkehr (im weiteren Sinne).**
    Sie gestehen mir zu, dass die Bedeutsamkeit solcher
    Scenen keiner weiteren Begründung bedarf; fügen Sie nun
    noch hinzu, dass Sie in den Details derselben jedesmal die
    **determinirenden Momente auffinden können, die Sie**
    **etwa in den anderen, später erfolgten und früher reproducirten,**
    **Scenen noch vermisst hätten.**

    *) Siehe Wiener klinische Rundschau 1896, Nr. 22 und 23.

    Ich stelle also die Behauptung auf, zu Grunde jedes Falles
    von Hysterie befinden sich — durch die analytische Arbeit re-
    producirbar, trotz des Decennien umfassenden Zeitintervalles, —
    ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger
    sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören.
    Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung, für die Auffindung
    eines caput Nili der Neuropathologie, aber ich weiss kaum
    wo anzuknüpfen, um die Erörterung dieser Verhältnisse fort-
    zuführen. Soll ich mein aus den Analysen gewonnenes thatsäch-
    liches Material von Ihnen ausbreiten, oder soll ich mich lieber
    vorerst der Masse von Einwänden und Zweifeln zu begegnen
    suchen, die jetzt von Ihrer Aufmerksamkeit Besitz ergriffen
    haben, wie ich wohl mit Recht vermuthen darf? Ich wähle
    das letztere; vielleicht können wir dann umso ruhiger beim
    Thatsächlichen verweilen:

    a) Wer der psychologischen Auffassung der Hysterie
    überhaupt feindlich entgegensteht, die Hoffnung nicht auf-
    geben möchte, dass es einst gelingen wird, ihre Symptome
    auf «feinere anatomische Veränderungen» zurückzuführen, und
    die Einsicht abgewiesen hat, dass die materiellen Grundlagen
    der hysterischen Veränderungen nicht anders als gleichartig
    sein können mit jenen unserer normalen Seelenvorgänge, der
    wird selbstverständlich die Ergebnisse unserer Analysen
    kein Vertrauen übrig haben; die principielle Verschiedenheit
    seiner Voraussetzungen von den unserigen entbindet uns aber
    auch der Verpflichtung, ihn in einer Einzelfrage zu überzeugen.

    Aber auch ein Anderer, der sich minder abweisend
    gegen die psychologischen Theorien der Hysterie verhält, wird
    angesichts unserer analytischen Ergebnisse die Frage aufzu-
    werfen versucht sein, welche Sicherheit die Anwendung der
    Psychoanalyse mit sich bringt, ob es denn nicht sehr wohl
    möglich sei, dass entweder der Arzt solche Scenen als an-
    gebliche Erinnerung dem gefälligen Kranken aufdrängt, oder
    dass der Kranke ihm absichtliche Erfindungen und freie
    Phantasien vorträgt, die jener für echt annimmt. Nun, ich habe

  • S.

    darauf zu erwidern, die allgemeinen Bedenken gegen die Ver-
    lässlichkeit der psycho-analytischen Methode können erst ge-
    würdigt und beseitigt werden, wenn eine vollständige Dar-
    stellung ihrer Technik und ihrer Resultate vorliegen wird.
    die Bedenken gegen die Echtheit der infantilen Sexualscenen
    aber kann man bereits heute durch mehr als ein Argument
    entkräften. Zunächst ist das Benehmen der Kranken, während
    sie diese infantilen Erlebnisse reproduciren, nach allen Rich-
    tungen hin unvereinbar mit der Annahme, die Scenen seien
    etwas anderes als peinlich empfundene und höchst ungerne
    eingeräumte Realität. Die Kranken wissen vor Anwendung der
    Analyse nichts von diesen Scenen, sie pflegen sich zu empören,
    wenn man ihnen etwa den Auftrag ertheilt, eine Andeutung
    sie können nur durch den stärksten Zwang der Behandlung
    bewogen werden, sich in deren Reproduction einzulassen,
    sie leiden unter den heftigsten Sensationen, derer sie sich
    diese infantilen Erlebnisse in's Bewusstsein rufen, und noch
    nachdem sie dieselben in so überzeugender Weise wieder-
    durchgemacht haben, versuchen sie es, ihnen den Glauben zu
    versagen, indem sie betonen, dass sich hiefür nichts wie bei
    anderem Vergessenem ein Erinnerungsgefühl eingestellt hat.

    Letzteres Verhalten scheint nun absolut beweiskräftig
    zu sein. Wozu sollten die Kranken mich so entschieden ihres
    Unglaubens versichern, wenn sie aus irgend einem Motiv die
    Dinge, die sie entwerfen wollen, selbst erfunden haben? —
    Dass der Arzt dem Kranken derartige Reminiscenzen
    aufdränge, ihn zu ihren Vorstellung und Wiedergabe suggerire,
    ist weniger bequem zu widerlegen, erscheint mir aber ebenso
    unhaltbar. Mir ist es noch nie gelungen, einem Kranken eine
    Scene, die ich erwartete, derart aufzudrängen, dass er sie mit
    allen zu ihr gehörigen Empfindungen zu durchleben schien.
    vielleicht treffen es andere besser.

    Es gibt aber noch eine ganze Reihe anderer Bürgschaften
    für die Realität der infantilen Sexualscenen. Zunächst deren
    Uniformität in so vielen Einzelheiten, wie sie sich aus den
    gleichartig wiederkehrenden Voraussetzungen dieser Erlebnisse
    ergeben muss, während man sonst geheimste Verabredungen
    zwischen den einzelnen Kranken für glaubhaft halten müsste.
    Sodann dass die Kranken gelegentlich wie harmlos Vorgänge
    beschreiben, deren Bedeutung sie offenbar nicht verstehen,
    weil sie sonst entsetzt sein müssten, oder, dass sie, ohne
    Werth darauf zu legen, Einzelheiten berühren, die nur ein
    Lebenserfahrener kennt und als feine Charakterzüge des
    Realen zu schätzen versteht.

    Verstärken solche Vorkommnisse den Eindruck, dass die
    Kranken wirklich erlebt haben müssen, was sie unter dem
    Zwange der Analyse als Scene aus der Kindheit reproduciren,
    so entspringt ein anderer und macschinerer Beweis hiefür aus
    der Beziehung der Infantilescenen zum Inhalt der ganzen
    übrigen Krankengeschichte. Wie bei den Zusammenlegbildern
    der Kinder sich nach mancherlei Proben schliesslich eine ab-
    solute Sicherheit herausstellt, welches Stück in die freige-
    lassene Lücke gehört, weil nur dieses eine gleichzeitig das
    Bild ergänzt und sich mit seinen unregelmässigen Zacken
    zwischen die Zacken der anderen so einpassen lässt, dass
    kein freier Raum bleibt und kein UebereinanderSchieben noth-
    wendig wird, so erweisen sich die Infantilescenen inhaltlich als
    unabweisbare Ergänzungen für das associative und logische
    Gefüge der Neurose, nach deren Einfügung erst der Hergang
    verständlich man möchte oftmals sagen: selbstverständlich
    wird.

    Dass auch der therapeutische Beweis für die Echtheit
    der Infantilescenen in einer Reihe von Fällen zu erbringen ist,
    füge ich hinzu, ohne diesen in den Vordergrund drängen zu
    wollen. Es gibt Fälle, in denen ein vollständiger oder par-
    tieller Heilerfolg zu erreichen ist, ohne dass man bis zu den
    Infantilerlebnissen herabsteigen musste, andere, in welchen jeder
    Erfolg ausbleibt, ehe die Analyse ihr natürliches Ende mit
    der Aufdeckung der frühesten Traumen gefunden hat. Ich

    meine, er im ersten Fall sei man vor Recidiven nicht gesichert;
    ich erwarte, dass eine vollständige Psychoanalyse die radicale
    Heilung einer Hysterie bedeutet. Indess, greifen wir hier den
    Lehren der Erfahrung nicht vor!

            Es gäbe noch einen, einen wirklich unantastbaren Be-
    weis für die Echtheit der sexuellen Kindererlebnisse, wenn
    nämlich die Angabe der einen Person in der Analyse durch
    die Mittheilung einer anderen Person in oder ausserhalb einer
    Behandlung bestätigt würden. Diese beiden Personen müssten
    in ihrer Kindheit an demselben Erlebniss Antheil genommen
    haben, etwa in einem sexuellen Verhältniss zu einander ge-
    standen. Solche Kinderverhältnisse sind, wie Sie gleich
    hören werden, gar nicht selten, es kommt auch häufig genug
    vor, dass beide Betheiligte später an Neurose erkranken, und
    doch, meine ich, ist es ein Glücksfall, dass mir eine solche
    objective Bestätigung unter 18 Fällen zweimal gelungen ist.
    Einmal war es der gesund gebliebene Bruder des mir an-
    vertrauten kranken Schwester überwiesene, solche Scenen aus
    ihrer späteren Kindheit und die Thatsache von weiter, normal
    erfolgenden sexuellen Beziehungen bekräftigte. Ein andermal
    traf es sich, dass zwei in Behandlung stehende Frauen, als
    Kinder mit den nämlichen männlichen Person sexuell verkehrt
    hatten, wobei einzelne Scenen à trois zustande gekommen
    waren. Ein gewisses Symptom, das sich von diesen Kinder-
    erlebnissen ableitete, war als Zeuge dieser Gemeinschaft, in
    beiden Fällen zur Ausübung gelangt.

            b) Sexuelle Erfahrungen der Kindheit, die in Reizungen
    der Genitalien, coitushnlichen Handlungen u. s. w. bestehen,
    sollen also in letzter Analyse als jene Traumen anerkannt
    werden, von denen die hysterische Reaction gegen Pubertäts-
    erlebnisse und die Entwicklung hysterischer Symptome aus-
    geht. Gegen diesen Ausspruch werden sicherlich viele verschie-
    dene Seelen zwei zu einander gegensätzliche Einwendungen
    erheben wollen. Die einen werden sagen, derartige sexuelle
    Missbräuche, an Kindern verübt oder von Kindern unter ein-
    ander kämen zu selten vor, als dass man mit ihnen die
    Bedingtheit einer so häufigen Neurose wie der Hysterie
    ableiten könnte; Andere werden vielleicht geltend machen, der-
    artige Erlebnisse seien im Gegentheil sehr häufig, allzu
    häufig, als dass man ihnen Feststellung eine ätiologische Be-
    deutung zusprechen könnte. Sie werden ferner aufführen, dass
    es bei einiger Umfrage leicht fällt, Personen aufzufinden, die
    sich an Scenen von sexueller Verführung und sexuellem Miss-
    brauch in ihren Kinderjahren erinnern, und die doch niemals
    hysterisch gewesen sind. Endlich werden wir als schwer-
    wiegendstes Argument zu hören bekommen, dass wir in den
    Mischichten der Bevölkerung die Hysterie gewiss nicht häufiger
    vorkommt, als in den hochsten, während doch alles dafür
    spricht, dass das Gebot der sexuellen Schonung des Kindes-
    alters an den Proletarierkindern ungleich häufiger über-
    treten wird.

            Beginnen wir unsere Vertheidigung mit dem leichteren
    Theil der Aufgabe. Es scheint mir sicher, dass unsere Kinder
    weit häufiger sexuellen Angriffen ausgesetzt sind, als man
    diese Fälle mir zum Gefallen ausgesucht hat, werden Sie es
    begreiflich finden, dass ich jene Erwartung nicht theile, sondern
    bereit bin, mit meinem Glauben über die Beweiskraft meiner
    bisherigen Erfahrungen hinauszugehen. Dazu bewegen mich übrigen-
    noch ein anderes Motiv von einstweilen blos subjectiver Art. Es
    ist dem einzigen Erklärungsversuch für den physiologischen
    und psychischen Mechanismus der Hysterie, der ich mir zur
    Zusammenfassung meiner Beobachtungen gestalten konnte,
    ist, mir die Einmengung sexueller Triebkräfte zur unentbehr-
    lichen Voraussetzung geworden.
    vermehrt mir meine Meinung von Dr. Gekel in Wien herrührende Studie
    in die Hand gerathen, welche sich mit dem «Coitus in
    adultes» beschäftigt (Wiener medic. Blätter, 18. April 1890).
    Ich habe nicht Zeit gehabt, andere literarische Zeugnisse zu
    sammeln, aber selbst wenn diese sich uns verstreut fänden,
    dürfte man erwarten, dass mit der Steigerung der Aufmerk-
    samkeit für dieses Thema sehr bald die grosse Häufigkeit von
    sexuellen Erlebnissen und sexueller Bethätigung im Kindes-
    alter bestätigt werden wird.

  • S.

    Schliesslich sind die Ergebnisse meiner Analysen im
    Stande, für sich selbst zu sprechen. In sämmtlichen 18 Fällen
    (von reiner Hysterie und Hysterie mit Zwangsvorstellungen
    combinirt, 6 Männer und 12 Frauen) bin ich, wie erwähnt,
    zur Kenntniss solcher sexueller Erlebnisse des Kindesalters
    gelangt. Ich kann meine Fälle in 3 Gruppen bringen, je nach
    der Herkunft der sexuellen Reizung. In der ersten Gruppe
    handelt es sich um Attentate, einmaligen oder doch verein-
    zelten Missbrauch meist weiblicher Kinder von Seiten er-
    wachsener, fremder Individuen (die dabei groben, mechanischen
    Insult zu vermeiden verstanden), wobei die Einwilligung der
    Kinder nicht in Frage kam und als nächste Folge des Erleb-
    nisses der Schreck überwog. Eine zweite Gruppe bilden jene
    weit zahlreicheren Fälle, in denen eine das Kind wartende
    erwachsene Person, — Kindermädchen, Kindsfrau, Gouver-
    nante, Lehrer, leider auch allzuhäufig ein naher Verwandter —
    das Kind in den sexuellen Verkehr einführte und ein — auch
    nach der seelischen Richtung ausgebildetes — förmliches
    Liebesverhältniss, oft durch Jahre, mit ihm unterhielt. In die
    dritte Gruppe endlich gehören die eigentlichen Kinderverhält-
    nisse, sexuelle Beziehungen zwischen zwei Kindern ver-
    schiedenen Geschlechts, zumeist zwischen Geschwistern, die
    oft über die Pubertät hinaus fortgesetzt werden und die
    nachhaltigsten Folgen für das betreffende Paar mit sich
    bringen. In den meisten meiner Fälle ergab sich combinirte
    Wirkung von zwei oder mehreren solcher Aetiologien; in ein-
    zelnen war die Häufung der sexuellen Erlebnisse von ver-
    schiedenen Seiten her geradezu erstaunlich. Sie verstehen aber
    diese Eigenthümlichkeit meiner Beobachtungen leicht, wenn
    Sie in Betracht ziehen, dass ich durchwegs Fälle von schwerer
    neurotischer Erkrankung, die mit Existenzunfähigkeit drohte,
    zu behandeln hatte.

    (Fortsetzung folgt.)