Rezension von: Hegar, Alfred ›Der Geschlechtstrieb. Eine social-medicinische Studie‹ 1895-202/1895
S.

Der Geschlechtstrieb.
Eine social-medicinische Studie von A. Hegar.
Stuttgart 1894.

Diese kleine Schrift des berühmten Frauenarztes wird Manchem
eine Enttäuschung bereiten, der durch den Titel verleitet — von
einem Kenner authentische Aufschlüsse über das Geschlechtsleben
der Frauen erwarten würde. Es handelt sich um eine Entgegnung
auf Bebel’s bekanntes Buch «Die Frau und der Socialismus»
eine Entgegnung aber, die weder durch Inhalt noch durch Dar-
stellungsweise befähigt ist, dem Gegner erfolgreich den Einfluss
auf die Leser streitig zu machen. Uebrigens ist die Schrift

Hegar’s ebensowenig frei von Tendenz, wie die des Socialisten-
führers. Während letzterer möglichst die Ansprüche des Geschlechts-
triebes hervorkehrt, denen die heutige Ordnung der Gesellschaft
nicht gerecht wird, zeigt sich der Arzt bemüht, den unbequemen
Dränger als einen relativ harmlosen Gesellen hinzustellen. Man
kann sich — nach Hegar — der Vermuthung nicht entziehen,
dass der naturgemässe Geschlechtstrieb bei dem jetzigen civilisirten
Menschen gar nicht so excessiv stark sei, als er geschildert wurde.
Beim Manne ist «zwischen natürlicher Anlage und künstlich an-
gefachter Flamme» (p. 5) zu unterscheiden, während «die natürliche
Neigung des Weibes zur physischen Liebe im Allgemeinen, von
Ausnahmen natürlich abgesehen, nicht sehr gross» ist.
Wie vorauszusehen, muss Hegar gelegentlich Thatsachen
constatiren, die schlecht zu dieser niedrigen Schätzung des Ge-
schlechtstriebes passen. So heisst es bei der Besprechung der «wilden
Liebe»: «Man sollte bei den heutzutage so genau festgestellten Gefahren,
welche die wilde Liebe mit sich bringt, es kaum für möglich halten,
dass sich Jemand ihnen aussetze» (p. 51). Eine Erklärung findet Hegar
darin, dass die grosse Menge von den Schädlichkeiten der wilden
Liebe noch keine deutliche Vorstellung hat. In dem Exemplar der
Hegar’schen Schrift, welches ich erworben habe, findet sich hiezu
eine Randglosse: «Herr Hegar vergisst eben — den Geschlechts-
trieb». Sonst enthält die Schrift vielerlei Statistik über Themata,
die mit dem Geschlechtstrieb nicht direct, jedenfalls nicht wesentlich
zusammenhängen: Bevölkerungswachs, Kindersterblichkeit u. dgl.
Ueber den Kern des ganzen Problems, die Thatsache, dass die
Menschen — bei sonstiger Schädigung ihrer Gesundheit — genöthigt
sind, ihre Kinder als unbeabsichtigte Nebenproducte bei der Be-
friedigung eines natürlichen Bedürfnisses zu erzeugen, findet Hegar
kaum ein Wort und für die Bedeutung der Bestrebungen, die darauf
abzielen, die Conception vom Coitus ohne Gesundheitsstörung zu
trennen, kein Verständniss! F.