Rezension [unsigniert] von: Leube, W. ›Über die Behandlung der Urämie‹ 1883-206/1883
S.

82. Ueber die Behandlung der Urämie.    

Von W. L e u b e (Aus den Verhandlungen des II. Kongresses für innere
Medizin).

Seitdem die Abhängigkeit des urämischen Zustandes von der Zurückhaltung
der Harnbestandtheile im Organismus erkannt ist, sind mannigfache, zum
Theile einander prinzipiell widersprechende Methoden der Behandlung zur
Anwendung gebracht worden. Chloroforminhalationen, salinische Abführmittel,
Diuretica und Injektionen von Pilokarpin, die gegenwärtig gebräuchlichsten
therapeutischen Massnahmen bei Urämie, erstreben die Entfernung
der Harnbestandtheile, wie leicht ersichtlich, auf verschiedenen und ungleich
wirksamen Wegen.
Gegen die Diaphoretica muss eingewendet werden, dass weder die Haut,
noch der Darmkanal geeignet sind, genügend grosse Mengen von Urinstoffen
auszuscheiden und dass der durch die Diaphorese verursachte Wasserverlust
eine relative Steigerung des Gehaltes an festen Harnbestandtheilen
im Blute herbeiführt.

Die Anwendung der Diuretica erscheint dagegen bei akuter Ne-
phritis und bei mechanischem Verschlusse der Harnwege aussichtslos, so dass
die Therapie der Urämie nicht immer dieselbe sein kann, sondern die Ursache
des Eintrittes der Urämie und die jeweilige anatomische Veränderung
der Nieren in Betracht zu ziehen hat. Ein weiteres zur Berücksichtigung
empfohlenes Moment ist das Verhalten des Pulses.

Tritt der urämische Zustand plötzlich ein (meist in Folge von akuter Nephritis
oder bei mechanischem Verschlusse der Harnwege) so erscheint die
Anregung der Diurese, wie erwähnt, ausgeschlossen. Es empfiehlt sich, durch
Einpackungen und Pilokarpininjektionen ausgiebige kompensatorische Ausscheidung
von Harnstoff durch die Haut einzuleiten. Ist der Puls voll und
gespannt, so darf die Therapie der Steigerung des Blutdruckes und der Herzarbeit
nicht entgegentreten; ist der Puls dagegen klein (in welchem Falle er
noch oft sphygmographisch die Zeichen erhöhter Spannung erkennen lässt),
so ist einzig ein excitirendes Verfahren mittelst Aether- und Kampherinjektionen
am Platze. Die günstige Wirkung von Chloroforminhalationen
bei plötzlichem Eintritte der Urämie unter Krämpfen und Bewusstlosigkeit
wird anerkannt, aber durch die anderweitig nachgewiesene Steigerung der
Stickstoffausscheidung in Folge der Chloroformnarkose erklärt.

Entwickelt sich der urämische Zustand (bei chronischer Nephritis) allmälig,
so liegt der Schwerpunkt der Therapie in der prophylaktischen Behandlung
durch reichliches Getränk, Selterswasser, Kali aceticum etc. Tritt
dennoch ein urämischer Anfall auf, so ist das Verhalten des Pulses massgebend.
Wird der bisher volle und harte Puls klein, beschleunigt und weniger
gespannt, dann ist allein Digitalis im Stande, den Zustand zu beheben. Die
Ursache der Urämie ist in solchen Fällen eine vorübergehende oder dauernde
Insuffizienz des hypertrophischen Herzmuskels. Von den Krankengeschichten,
welche für die günstigen Wirkungen der Digitalis bei Urämie zeugen,
ist besonders eine erwähnenswerth, in welcher die Urämie mehrmals durch
die Komplikation der Nephritis mit fieberhaften Infektionen hervorgerufen
wurde.

Aber auch, wenn der Puls im urämischen Zustande hart und voll bleibt,
hat L e u b e mit Erfolg Digitalis versucht und redet einer vorsichtigen Anwendung
dieses Mittels selbst bei kräftiger Herzthätigkeit das Wort.