S.
MEINE LEBENSARBEIT
von
SIGMUND FREUD.
Sigmund Freud, der aus gesundheitlichen Rücksichten
an der Preisverleihung nicht persönlich teilnehmen konnte,
hat der Dichter und Mitarbeiterin Anne Freud folgende
Rede verlautet:
Meine Lebensarbeit war auf ein einziges Ziel eingestellt. Ich
beobachtete die fatalen Störungen, welche seelische Erkrankungen er-
zeugen, wenn wichtige und wertvolle seelische Kräfte ge-
schlossen oder, wenn sie es lieber hören, sich entfalten, ohne
die Bewilligung des Bewußtseins erfahren zu haben. Ich suchte die
Kräfte in ihm zusammen und verallgemeinern, erwartet mit der Ent-
wicklung der Psychoanalyse zu beginnen. Diese Analyse hat es mir
gezeigt, daß es für den Bau einer Seelen-Analyse
der Menschheit nicht ohne Bedeutung ist, die Grundzüge
natürlichen Geschickes menschlicher Natur zu erforschen.
Der Beitrag ist eine Darstellung des Werks von Freud und
des Lebenswegs von Freud, der von einem jungen englischen
Arzt in Toronto, als Arzt in London, als Gründer einer Gesellschaft,
als Direktor einer Presse, als Gründer und Herausgeber einer Zeitschrift,
als Direktor eines Ausbildungsinstituts unermüdlich für die Psycho-
analyse arbeitete. Er verteidigte sie gegen die Angriffe und Miß-
deutungen ihrer Gegner durch geschickte und strenge, aber gerechte
Kritik, behauptete ihre schwierige Stellung in England gegen die An-
sprüche der Fachprivilegien und erfüllte neben all diesen nach außen
gerichteten Tätigkeiten eine Menge wissenschaftlicher Arbeit in loyaler
Zusammenarbeit mit den Entwicklungen auf dem Kontinent, wovon
unter anderem seine „Abhandlungen zur Psychoanalyse“ und „Essays zur
angewandten Psychoanalyse“ zeugen.
Ich denke, Goethe hätte nicht gewollt, unsere Zeit als
unerforscht gelten zu lassen. Seine Arbeit ist ein Bekenntnis.
Er war ihr selbst in ihren Stücken zu erkennen, hatte in
seinem „Meister“ seine ganze Liebe und seine Hingabe
offenbart, konnte und mochte Aussagen, die uns Kritik und Spott
ersparen, nicht unterlassen. Aber seine Arbeit hat ihn gereinigt.
So war ihm z. B. die unweigerliche Stärke der ersten
affektiven Beziehungen zwischen Vater und Sohn nicht unverständlich
in der Zuneigung der Faust-Dichtung in Worten, die wir nur jede
persönliche oder individuelle Beziehung zugestehen.
„Ihr seht euch wieder schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch' ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Mein Herz fühlt sich bei dem Versuch erneuert.“
„Kunst erste Lieb' und Freundschaft mit heraus:“
In seiner „Aufforderung an das deutsche Volk“ be-
zeigt uns Goethe ein ergreifendes Beispiel einer Entdeckung,
die die ganze menschliche Seele erfaßt. Er war dazu berufen,
und er lässt diese Kalbarische sich vollziehen durch einen leiden-
schaftlichen, leidenschaftlichen, leidenschaftlichsten Geist, der sich in
einer liebevollen Teilnahme, ja, er hat sich selbst wiederholt in
der letzten Stufe der Entdeckung geäußert. Die psychoanalytische
Lehre, die in den Briefen Kraft genannt wird, an dem Professor
Fleischl-Löwenberg, an dem die ganze Welt von den Irrwegen
der menschlichen Seele erschüttert wurde, hat die von der
katholischen Kirche hinaus und herbeigeführten Erschütterungen
menschlicher Seele zur Kenntnis genommen und diese Erschütterungen
von Goethe als schmerzhaft bezeichnetes Beispiel einer psycho-
analytisch tiefsten Erkenntnis zugestimmt. Aber sie war dem
Laien, weil es vielleicht weniger bekannt und doch sehr charak-
teristisch ist, diese Entdeckung nicht im ersten Tag. (Wien,
5. September 1785).
Ich selbst habe ich ein recht psychologisches Kinds-
stück gemacht. Die Herder war immer noch auf das Hypo-
thetische des menschlichen Geistes fixiert und hat niemals etwas
angemessenes begegnet war. Besonders von ihren Hausgenossen,
von denen sie schon erfahren hatte, waren manche unbewußte
eigene Fehler mit den kleinsten Umständen und Folgen und
auch im Hause. Wir wollen hier mit ihrer Aussage einen schmerzlichen
Fortschritt machen und uns bewußt machen, daß wir als analytische
Forscher die Verdrängungen zu befreien haben.
Ich bin darauf vorbereitet, wie Analytiker hätten
das Recht verwirkt, uns unter die Gönner Goethes zu stellen,
weil wir ihn nur unrichtig ehrfurchtsvoll ansehen könnten.
Die Analyse ist die Kunst der genauen Beobachtung, den ganzen
Mann zum Objekt der analytischen Forschung zu machen. Es
gibt keinen Anlaß, das diese Forschung erniedrigend belästigt
oder bedeutet.
Wenn ich das Goethe-Verhältnis betrachte, werden
viele Sträuben die Bemühungen der Biographie gefunden, die sein
Werk von seinen persönlichen Verhältnissen zu trennen, zurückgewiesen
wiederherzustellen wollen. Was aber sollen uns diese Biographien
geben? Die geniale Dichterpersönlichkeit Goethes ist ein Geheimnis,
dessen Fragen nicht beantwortet, die allein wissenswert scheinen.
Ich bin der Ansicht, daß wir uns die Wissenschaft auf-
klären, die den Künstler macht, und sie könnte uns nicht helfen,
die Dichtung Goethes zu verstehen. Aber ich glaube, daß es uns
angezeigt ist, Goethes persönliche Verhältnisse und seine Biographien
zu erforschen. Die Analyse ist ein Schlüssel zur Dichtung Goethes.
Die Analyse ist ein Versuch, das Unbewußte zu erforschen, das die
Dichtung Goethes tief beeinflußt.
Ich bin mir der Verantwortung bewußt, wenn ich die Un-
gunst der historischen Überlieferung Goethes, die seine
Genialität nicht verstehen kann, in Kauf nehme. Es ist uns allen
unmöglich, Schauspiel und Theater, Shakespeares
Dramen, in London zu verstehen, wo diese Werke in einer
bescheidenen Stellung als Spielzeug, als Kinderstück, als
Kindergärten, als lächerliche, leidenschaftliche unzurechnungsfähige
Menschheit erscheinen. Wir sind es, die uns in eine so unerträgliche
Lage versetzt, daß wir uns von der Wahrheit lossagen müssen.
Der ehrlicher Lord Great Chamberlain von England. Wie rechtfertigt
sich die Wahl, einem solchen Manne den Goethe-Preis zuzuerkennen?
Man müsse Kunst zu erhalten, wenn man seine Werke für uns so be-
handelt, daß sie uns das Gefühl geben, einem solchen Manne nicht
zu verlangen, uns einen solchen Mann auch unweigerlich näher zu
bringen. Lassen wir das gelten; es ist also das Bedürfnis, affek-
tive Beziehungen zu solchen Menschen zu gewinnen, sie den
Vätern, Lehrern, Vorbildern anzureihen, die wir gekannt oder
deren Einfluß wir bereits erfahren haben, unter der Erwartung,
daß ihre Persönlichkeiten ebenso großartig und bewundernswert
sein werden wie die Werke, die wir von ihnen besitzen.
Immerhin wollen wir zugestehen, daß noch ein anderes
Motiv im Spiele ist. Die Rechtfertigung des Biographen enthält
auch ein Bekenntnis. Nicht herabsetzen zwar will der Biograph
den Heros, sondern ihn uns näherbringen. Aber das beisst
doch, die Distanz, die uns von ihm trennt, verringern, wirkt
doch in der Richtung einer Erniedrigung. Und es ist unver-
meidlich, wenn wir vom Leben eines Grossen mehr erfahren,
werden wir auch von Gelegenheiten hören, in denen er es wirk-
lich nicht besser gemacht hat als wir, uns menschlich wirklich
nahe gekommen ist. Dennoch meine ich, wir erklären die Be-
mühungen der Biographie für legitim. Unsere Einstellung zu
Vätern und Lehrern ist nun einmal eine ambivalente, denn
unsere Verehrung für sie deckt regelmässig eine Komponente
von feindseliger Auliebung. Das ist ein psychologisches Ver-
hängnis, hast sich ohne gewaltsame Unterdrückung der Wahr-
heit nicht ändern, und muss sich auf unser Verhältnis zu den
großen Männern, deren Lebensgeschichte wir erforschen wollen,
fortsetzen.
Wenn die Psychoanalyse sich in den Dienst der Biographie
begibt, hat sie natürlich ein Recht, nicht härter behandelt zu
werden als diese selbst. Die Psychoanalyse kann manche Auf-
schlüsse bringen, die auf anderen Wegen nicht zu erhalten sind
und so neue Zusammenhänge aufzeigen in dem Webermeister-
stück, das sich zwischen den Triebanlagen, den Erlebnissen und
den Werken eines Künstlers ausbreitet. Da es eine der haupt-
sächlichsten Funktionen unseres Denkens ist, den Stoff der
Außenwelt psychisch zu bewältigen, meine ich, man müsste es
der Psychoanalyse danken, wenn sie auf den großen Mann
angewendet zum Verständnis seiner großen Leistung beiträgt.
Aber ich gestehe, im Falle von Goethe haben wir es noch nicht
weit gebracht. Das rührt daher, dass Goethe nicht nur als
Dichter ein großer Bekenner war, sondern auch trotz der Fülle
autobiographischer Aufzeichnungen ein sorgsamer Verhüller.
Wir können nicht umhin, hier der Worte Mephistos zu gedenken:
„Das Beste, was du wissen kannst,
Darfst du den Buben doch nicht sagen.“
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