Das Interesse an der Psychoanalyse 1913-011/1924
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    DAS INTERESSE AN DER
    PSYCHOANALYSE

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    „Das Interesse an der Psychoanalyse“ erschien im 7. Jg. der mehrspra-
    chigen Zeitschrift „Scientia“ (Bologna 1913) in deutscher und französischer
    Sprache (französische Übersetzung von M. W. Horn, Nifflheim-Grofiharthau).

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    ERSTER TEIL
    DAS PSYCHOLOGISCHE INTERESSE

    Die Psychoanalyse ist ein årztliches Verfahren, welches die
    Heilung gewisser Formen von Nervosität (Neurosen) mittels einer
    psychologischen Technik anstrebt. In einer kleinen, 1910 ver-
    offentlichten Schrift habe ich die Entwicklung der Psychoanalyse
    aus dem kathartischen Verfahren von J. Breuer und ihre
    Beziehung zu den Lehren von Charcot und P. Janet dar-
    gestellt."

    Als Beispiele der Krankheitsformen, welche der psychoanalytischen
    Therapie zugänglich sind, kann man die hysterischen Krämpfe
    und Hemmungserscheinungen sowie die mannigfaltigen Symptome
    der Zwangsneurose (Zwangsvorstellungen, Zwangshandlungen)
    nennen. Es sind durchwegs Zustinde, welche gelegentlich eine
    spontane Heilung zeigen und in launenhafter, bisher nicht ver-
    standener Weise dem persönlichen Einfluß des Arztes unterliegen.
    Bei den schwereren Formen der eigentlichen Geistesstórungen
    leistet die Psychoanalyse therapeutisch nichts. Aber sowohl bei
    Psychosen wie bei den Neurosen gestattet sie — zum erstenmal
    in der Geschichte der Medizin — einen Einblick in die Herkunft
    und in den Mechanismus dieser Erkrankungen zu gewinnen.

    Diese årztliche Bedeutung der Psychoanalyse wiirde indes den
    Versuch nicht rechtfertigen, sie einem Kreise von Gelehrten vor-

    1) Uber Psychoanalyse, 6. Aufl. 1922. [Enthalten in diesem Bande der Gesamt-
    ausgabe.]

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    514 Das Interesse an der Psychoanalyse

    zustellen, die sich fiir die Synthese der Wissenschaften interessieren.
    Zumal da dies Unternehmen verfriiht erscheinen müßte, solange
    noch ein groBer Teil der Psychiater und Neurologen sich ablehnend
    gegen das neue Heilverfahren benimmt und die Voraussetzungen
    wie die Ergebnisse desselben verwirft. Wenn ich diesen Versuch
    dennoch als legitim erachte, so berufe ich mich darauf, daB die
    Psychoanalyse auch bei anderen als Psychiatern Interesse bean-
    sprucht, indem sie verschiedene andere Wissensgebiete streift und
    unerwartete Beziehungen zwischen diesen und der Pathologie des
    Seelenlebens herstellt.

    Ich werde also jetzt das ärztliche Interesse an der Psychoanalyse
    beiseite lassen, und was ich von dieser jungen Wissenschaft
    behauptet habe, an einer Reihe von Beispielen erläutern.

    Es gibt eine große Anzahl von mimischen und sprachlichen
    AuBerungen sowie von Gedankenbildungen, — bei normalen wie
    bei kranken Menschen, — welche bisher nicht Gegenstand der
    Psychologie gewesen sind, weil man in ihnen nichts anderes
    erblickte als Erfolge von organischer Störung oder abnormem
    Ausfall an Funktion des seelischen Apparates. Ich meine die Fehl-
    leistungen (Versprechen, Verschreiben, Vergessen usw.), die Zufalls-
    handlungen und die Träume bei normalen, die Krampfanfälle,
    Delirien, Visionen, Zwangsideen und Zwangshandlungen bei
    neurotischen Menschen. Man wies diese Phänomene — soweit
    sie nicht wie die Fehlleistungen überhaupt unbeachtet blieben —
    der Pathologie zu und bestrebte sich physiologische Erklä-
    rungen fiir sie zu geben, die nun in keinem Falle befriedigend
    geworden sind. Dagegen gelang es der Psychoanalyse zu erweisen,
    daß all diese Dinge durch Annahmen rein psychologischer Natur
    verständlich gemacht und in den Zusammenhang des uns bekannten
    psychischen Geschehens eingereiht werden können. So hat die
    Psychoanalyse einerseits die physiologische Denkweise eingeschränkt

  • S.

    Das psychologische Interesse 315

    und andererseits ein großes Stück der Pathologie für die Psycho-
    logie erobert. Die stärkere Beweiskraft kommt hier den normalen
    Phänomenen zu. Man kann der Psychoanalyse nicht vorwerfen,
    daß sie am pathologischen Material gewonnene Einsichten auf das
    normale überträgt. Sie führt die Beweise hier und dort unabhängig
    voneinander und zeigt so, daß normale, wie sogenannte patho-
    logische Vorgänge denselben Regeln folgen.

    Von den normalen Phänomenen, die hier in Betracht kommen,
    das heißt von den am normalen Menschen zu beobachtenden,
    werde ich zweierlei ausführlicher behandeln, die Fehlleistungen
    und die Träume.

    Die Fehlleistungen, also das Vergessen von sonst vertrauten
    Worten und Namen, von Vorsätzen, das Versprechen, Verlesen,
    Verschreiben, das Verlegen von Dingen, so daß sie unauffindbar
    werden, das Verlieren, gewisse Irrtümer gegen besseres Wissen,
    manche gewohnheitsmäßige Gesten und Bewegungen — all dies,
    was ich als Fehlleistungen des gesunden und normalen Menschen
    zusammenfasse —- ist von der Psychologie im ganzen wenig
    gewürdigt worden, wurde als ,,Zerstreutheit" klassifiziert, und von
    Ermiidung, Ablenkung der Aufmerksamkeit, von der Nebenwirkung
    gewisser leichter Krankheitszustinde abgeleitet. Die analytische
    Untersuchung zeigt aber mit einer allen Ansprüchen genügenden
    Sicherheit, daß diese letztgenannten Momente bloß den Wert von
    Begünstigungen haben, die auch wegfallen können. Die Fehl-
    leistungen sind vollgültige psychische Phänomene und haben
    jedesmal Sinn und Tendenz. Sie dienen bestimmten Absichten,
    die sich infolge der jeweiligen psychologischen Situation nicht
    anders zum Ausdruck bringen können. Diese Situationen sind in
    der Regel die eines psychischen Konflikts, durch welchen die
    unterliegende Tendenz vom direkten Ausdruck abgedrängt und
    auf indirekte Wege gewiesen wird. Das Individuum, welches die
    Fehlleistung begeht, kann sie bemerken oder übersehen; die ihr
    zugrunde liegende unterdrückte Tendenz kann ihm wohl bekannt

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    316 Das Interesse an der Psychoanalyse

    sein, aber es weiß für gewöhnlich nicht ohne Analyse, daß die
    betreffende Fehlhandlung das Werk dieser Tendenz ist. Die
    Analysen der Fehlhandlungen sind oft sehr leicht und rasch
    anzustellen. Wenn man auf den MiBgriff aufmerksam geworden
    ist, bringt der nächste Einfall dessen Erklärung.

    Fehlleistungen sind das bequemste Material für jeden, der sich
    von der Glaubwürdigkeit der analytischen Auffassungen überzeugen
    lassen will. In einem kleinen, zuerst 1904. veröffentlichten Buche
    habe ich eine große Anzahl solcher Beispiele nebst ihrer Deutung
    mitgeteilt und habe diese Sammlung seither durch zahlreiche
    Beiträge anderer Beobachter bereichern kónnen.'

    Als das häufigste Motiv zur Unterdrückung einer Absicht,
    welche dann genötigt ist, sich mit der Darstellung durch eine
    Fehlleistung zu begnügen, stellt sich die Vermeidung von Unlust
    heraus. So vergißt man hartnäckig Eigennamen, wenn man gegen
    die Träger derselben einen geheimen Groll hegt, man vergißt
    Vorsätze auszuführen, wenn man sie im Grunde genommen nur
    ungern ausgeführt hätte, z. B. nur um einer konventionellen
    Nötigung zu folgen. Man verliert Gegenstände, wenn man sich
    mit demjenigen verfeindet hat, an welchen dieser Gegenstand
    mahnt, von dem er z. B. geschenkt worden ist. Man irrt sich
    beim Einsteigen in einen Eisenbahnzug, wenn man diese Fahrt
    ungerne macht und lieber anderswo geblieben wäre. Am deut-
    lichsten zeigt sich das Motiv der Vermeidung von Unlust beim
    Vergessen von Eindrücken und Erlebnissen, wie es bereits von
    mehreren Autoren vor der Zeit der Psychoanalyse bemerkt worden
    ist. Das Gedächtnis ist parteiisch und gerne bereit, alle jene Ein-
    drücke von der Reproduktion auszuschließen, an denen ein peinlicher
    Affekt haftet, wenngleich diese Tendenz nicht in allen Fällen zur
    Verwirklichung gelangen kann.

    1) Zur Psychopathologie des Alltagslebens. [10. Aufl, 1924. Enthalten in diesem
    Band der Gesamtausgabe.] Dazu Arbeiten von Maeder, A. A, Brill, E. Jones,
    О. Rank m. a.

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    Das psychologische Interesse 317

    Andere Male ist die Analyse einer Fehlleistung minder einfach
    und führt zu weniger durchsichtigen Auflösungen infolge der
    Einmengung eines Vorganges, den wir als Verschiebung
    bezeichnen. Man vergiBt z. B. auch den Namen einer Person,
    gegen die man nichts einzuwenden hat; aber die Analyse weist
    nach, daß dieser Name assoziativ die Erinnerung an eine andere
    Person mit gleichem oder ähnlich klingendem Namen geweckt
    hat, welche auf unsere Abneigung berechtigten Anspruch macht.
    Infolge dieses Zusammenhanges ist der Name der harmlosen
    Person vergessen worden; die Absicht zu vergessen hat sich gleichsam
    lings einer gewissen Assoziationsbahn verschoben.

    Auch ist die Absicht, Unlust zu vermeiden, nicht die einzige,
    die sich durch Fehlleistungen verwirklicht. Die Analyse deckt in
    vielen Fällen andere Tendenzen auf, die in der betreffenden
    Situation unterdrückt worden sind und sich - gleichsam aus dem
    Hintergrunde als Störungen äußern müssen. So dient das Ver-
    sprechen häufig dem Verrat von Meinungen, die vor dem Partner
    geheim gehalten werden sollen. Die großen Dichter haben Ver-
    sprechungen in diesem Sinne verstanden und in ihren Werken
    gebraucht. Das Verlieren wertvoller Gegenstinde erweist sich oft
    als Opferhandlung, um ein erwartetes Unheil abzuwenden, und
    manch anderer Aberglaube setzt sich bei den Gebildeten noch als
    Fehlleistung durch. Das Verlegen von Gegenständen ist gewöhnlich
    nichts anderes als eine Beseitigung derselben; Sachbeschådigungen
    werden anscheinend unabsichtlich vorgenommen, um zum Ersatz
    durch Besseres zu nötigen usw.

    Die psychoanalytische Aufklärung der Fehlleistungen bringt
    immerhin einige leise Abänderungen des Weltbildes mit sich, so
    geringfügig die betrachteten Erscheinungen auch sein mögen.
    Wir finden auch den normalen Menschen weit häufiger von
    gegensitzlichen Tendenzen bewegt, als wir erwarten konnten. Die
    Anzahl der Ereignisse, die wir „zufällige“ geheiBen haben, erfährt
    eine erhebliche Einschränkung. Es ist fast ein Trost, daß das

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    318 Das Interesse an der Psychoanalyse

    Verlieren von Gegenständen zumeist aus den Zufälligkeiten des
    Lebens ausscheidet; unsere Ungeschicklichkeit wird oft genug zum
    Deckmantel unserer geheimen Absichten. Bedeutungsvoller ist aber,
    daB viele schwere Ungliicksfille, die wir sonst ganz dem Zufall
    zugeschrieben hatten, in der Analyse den Anteil des eigenen, wenn
    auch nicht klar eingestandenen Willens enthüllen. Die in der
    Praxis oft so schwierige Unterscheidung der zufilligen Verungliickung
    vom absichtlich gesuchten Tod wird durch die analytische
    Betrachtung noch mehr zweifelhaft.

    Verdankt die Aufklårung der Fehlleistungen ihren theoretischen
    Wert der Leichtigkeit der Lösung und der Häufigkeit des Vor-
    kommens dieser Phånomene beim normalen Menschen, so steht
    dieser Erfolg der Psychoanalyse doch an Bedeutung weit hinter
    einem nächsten zurück, welcher an einem anderen Phänomen des
    Seelenlebens Gesunder gewonnen wurde. Ich meine die Deutung
    der Träume, mit welcher erst das Schicksal der Psychoanalyse,
    sich in einen Gegensatz zur offiziellen Wissenschaft zu stellen,
    seinen Anfang nimmt. Die medizinische Forschung erklirt den
    Traum fiir ein rein somatisches Phänomen ohne Sinn und
    Bedeutung, sieht in ihm die AuBerung des in den Schlafzustand
    versunkenen Seelenorgans auf körperliche Reize, die ein partielles
    Erwachen erzwingen. Die Psychoanalyse erhebt dem Traum zu
    einem psychischen Akt, der Sinn, Absicht und eine Stelle im
    Seelenleben des Individuums hat, und setzt sich dabei über die
    Fremdartigkeit, die Inkohårenz und die Absurdität des Traumes
    hinaus. Die korperlichen Reize spielen dabei nur die Rolle von
    Materialien, welche bei der Traumbildung verarbeitet werden.
    Zwischen diesen beiden Auffassungen des Traumes gibt es keine
    Vermittlung. Gegen die physiologische Auffassung spricht ihre
    Unfruchtbarkeit, für die psychoanalytische kann man geltend
    machen, daß sie mehrere Tausende von Träumen sinnvoll iiber-
    setzt und für die Kenntnis des intimen menschlichen Seelenlebens
    verwertet hat.

  • S.

    Das psychologische Interesse 319

    Ich habe das bedeutsame Thema der „Traumdeutung“ in einem
    1900 veröffentlichten Werke behandelt und die Befriedigung
    gehabt, daß fast alle Mitarbeiter an der Psychoanalyse die darin
    vertretenen Lehren durch ihre Beiträge bestätigt und gefördert
    haben. In allgemeiner Übereinstimmung wird behauptet, daß die
    Traumdeutung der Grundstein der psychoanalytischen Arbeit ist,
    und daB ihre Ergebnisse den wichtigsten Beitrag der Psycho-
    analyse zur Psychologie darstellen.

    Ich kann hier weder die Technik, durch welche man die
    Deutung des Traumes gewinnt, darlegen, noch die Resultate
    begründen, zu welchen die psychoanalytische Bearbeitung
    des Traumes geführt hat. Ich muD mich auf die Aufstellung
    einiger neuer Begriffe, die Mitteilung der Ergebnise und
    die Hervorhebung ihrer Bedeutung für die Normalpsychologie
    beschränken.

    Die Psychoanalyse lehrt also: Jeder Traum ist sinnvoll, seine
    Fremdartigkeit rührt von Entstellungen her, die an dem Ausdruck
    seines Sinnes vorgenommen worden sind, seine Absurdität ist
    absichtlich und drückt Hohn, Spott und Widerspruch aus, seine
    Inkohärenz ist für die Deutung gleichgültig. Der Traum, wie wir
    ihn nach dem Erwachen erinnern, soll manifester Trauminhalt
    genannt werden. Durch die Deutungsarbeit an diesem wird man
    zu den latenten Traumgedanken geführt, welche sich hinter dem
    manifesten Inhalt verbergen und durch ihn vertreten lassen.
    Diese latenten Traumgedanken sind nicht mehr fremdartig,
    inkohärent oder absurd, es sind vollwertige Bestandteile unseres
    Wachdenkens. Den Prozeß, welcher die latenten Traumgedanken
    in den manifesten Trauminhalt verwandelt hat, heißen wir die

    1) Die Traumdeutung [7. Aufl. 1922; enthalten im Band II und III dieser
    Gesamtausgabe]. Dazu die kleinere Schrift: Über den Traum [5. Aufl. 1921; ent-
    halten im Band III dieser Gesamtausgabe]. Andere Publikationen von O. Rank,
    W. Stekel, E. Jones, Н. Silberer, A. A. Brill, А. Maeder, К. Abraham,
    S. Ferenczi u. a.

  • S.

    320 Das Interesse an der Psychoanalyse

    Traumarbeit; er bringt die Entstellung zustande, in deren
    Folge wir die Traumgedanken im Trauminhalt nicht mehr
    erkennen.

    Die Traumarbeit ist ein psychologischer Prozeß, dessen gleichen
    in der Psychologie bisher nicht bekannt war. Sie nimmt unser
    Interesse nach zwei Hauptrichtungen in Anspruch. Erstens, indem
    sie neuartige Vorgänge wie die Verdichtung (von Vorstellungen)
    oder die Verschiebung (des psychischen Akzents von einer
    Vorstellung zur anderen) aufweist, die wir im Wachdenken
    überhaupt nicht oder nur als Grundlage sogenannter Denkfehler
    aufgefunden haben. Zweitens, indem sie uns gestattet, ein Kräfte-
    spiel im Seelenleben zu erraten, dessen Wirksamkeit unserer
    bewuBten Wahrnehmung verborgen war. Wir erfahren, daß es
    eine Zensur, eine prüfende Instanz in uns gibt, welche darüber
    entscheidet, ob eine auftauchende Vorstellung zum Bewußtsein
    gelangen darf, und unerbittlich ausschließt, soweit ihre Macht
    reicht, was Unlust erzeugen oder wiedererwecken könnte. Wir
    erinnern uns hier, daB wir sowohl von dieser Tendenz, Unlust
    bei der Erinnerung zu vermeiden, als auch von den Konflikten
    zwischen den Tendenzen des Seelenlebens Andeutungen bei der
    Analyse der Fehlleistungen gewonnen haben.

    Das Studium der Traumarbeit drängt uns als unabweisbar eine
    Auffassung des Seelenlebens auf, welche die bestrittensten Fragen
    der Psychologie zu entscheiden scheint. Die Traumarbeit zwingt
    uns, eine unbe wuBte psychische Tätigkeit anzunehmen, welche
    umfassender und bedeutsamer ist als die uns bekannte mit
    Bewußtsein verbundene. (Darüber einige Worte mehr bei der
    Erörterung des philosophischen Interesses an der Psychoanalyse.)
    Sie gestattet uns, eine Gliederung des psychischen Apparates in
    verschiedene Instanzen oder Systeme vorzunehmen, und zeigt,
    daß in dem System der unbewußten Seelentätigkeit Prozesse von
    ganz anderer Art ablaufen als im Bewußtsein wahrgenommen

    werden.

  • S.

    Das psychologische Interesse 321

    Die Funktion der Traumarbeit ist immer nur die, den Schlaf
    zu erhalten. „Der Traum ist der Hüter des Schlafes.“ Die Traum-
    gedanken selbst mögen im Dienste der verschiedensten seelischen
    Funktionen stehen. Die Traumarbeit erfüllt ihre Aufgabe, indem
    sie einen aus den Traumgedanken sich erhebenden Wunsch
    auf halluzinatorischem Wege als erfüllt darstellt.

    Man darf es wohl aussprechen, daß das psychoanalytische
    Studium der Träume den ersten Einblick in eine bisher nicht
    geahnte Tiefenpsychologie eröffnet hat." Es werden grund-
    stürzende Abånderungen der Normalpsychologie erforderlich sein,
    um sie in Einklang mit diesen neuen Einsichten zu bringen.

    Es ist ganz unmöglich, im Rahmen dieser Darstellung das
    psychologische Interesse an der Traumdeutung zu erschópfen. Ver-
    gessen wir nicht, daß wir nur hervorzuheben beabsichtigten, der
    Traum sei sinnvoll und sei ein Objekt der Psychologie,
    und setzen wir mit den Neuerwerbungen für die Psychologie auf
    pathologischem Gebiete fort.

    Die aus Traum und Fehlleistungen erschlossenen psychologischen
    Neuheiten müssen noch zur Aufkårung anderer Phänomene brauch-
    bar werden, wenn wir an ihren Wert, ja auch nur an ihre
    Existenz glauben sollen. Und nun hat die Psychoanalyse wirklich
    gezeigt, daß die Annahmen der unbewuBten Seelentåtigkeit, der
    Zensur und der Verdringung, der Entstellung und Ersatzbildung,
    welche wir durch die Analyse jener normalen Phänomene
    gewonnen haben, uns auch das erste Verständnis einer Reihe
    von pathologischen Phänomenen ermöglichen, uns sozusagen die
    Schlüssel zu allen Råtseln der Neurosenpsychologie in die Hände
    spielen. Der Traum wird so zum Normalvorbild aller psy cho-
    pathologischen Bildungen. Wer den Traum versteht, kann
    auch den psychischen Mechanismus der Neurosen und Psychosen
    durchschauen.

    1) Eine Beziehung dieser psychischen Topik auf anatomische Lagerung oder
    histologische Schichtung wird von der Psychoanalyse derzeit zurückgewiesen.

    Freud, IV, 21

  • S.

    322 Das Interesse an der Psychoanalyse

    Die Psychoanalyse ist durch ihre vom Traum ausgehende
    Untersuchungen in den Stand gesetzt worden, eine Neurosen-
    psychologie aufzubauen, zu welcher in stetig fortgesetzter Arbeit
    Stück um Stück hinzugefügt wird. Doch erfordert das psycho-
    logische Interesse, welchem wir hier folgen, nicht mehr, als daß
    wir zwei Bestandteile dieses großen Zusammenhanges ausführlicher
    behandeln: den Nachweis, daß viele Phänomene der Pathologie,
    die man glaubte physiologisch erklären zu müssen, psychische
    Akte sind, und daß die Prozesse, welche die abnormen Ergeb-
    nisse liefern, auf psychische Triebkräfte zurückgeführt werden
    können.

    Ich will die erste Behauptung durch einige Beispiele erläutern:
    Die hysterischen Anfälle sind längst als Zeichen gesteigerter
    emotiver Erregung erkannt und den Affektausbrüchen gleich-
    gestellt worden. Charcot versuchte die Mannigfaltigkeit ihrer
    Erscheinungsformen in deskriptive Formeln zu bannen; P. Janet
    erkannte die unbewußte Vorstellung, die hinter diesen Anfällen
    wirkt; die Psychoanalyse hat dargetan, daß sie mimische Dar-
    stellungen von erlebten und gedichteten Szenen sind, welche die
    Phantasie der Kranken beschäftigen, ohne ihnen bewußt zu
    werden. Durch Verdichtungen und Entstellungen der dargestellten
    Aktionen werden diese Pantomimen für den Zuschauer undurch-
    sichtig gemacht. Unter dieselben Gesichtspunkte fallen aber auch
    alle anderen sogenannten. Dauersymptome der hysterischen Kranken.
    Es sind durchwegs mimische oder halluzinatorische Darstellungen
    von Phantasien, welche deren Gefühlsleben unbewußt beherrschen
    und eine Erfüllung ihrer geheimen verdrängten Wünsche
    bedeuten. Der qualvolle Charakter dieser Symptome rührt von
    dem inneren Konflikt her, in welchen das Seelenleben dieser
    Kranken durch die Notwendigkeit der Bekämpfung solcher unbe-
    wußter Wunschregungen versetzt wird.

    Bei einer anderen neurotischen Affektion, der Zwangsneurose,
    verfallen die Kranken einem peinlich gehandhabten, anscheinend

  • S.

    Das psychologische Interesse 323

    sinnlosen Zeremoniell, das sich in der Wiederholung und Rhyth-
    mierung der gleichgültigsten Handlungen, wie Waschen, Ankleiden,
    oder in der Ausführung unsinniger Vorschriften, in der Ein-
    haltung råtselhafter Verbote äußert. Es war geradezu ein Triumph
    der psychoanalytischen Arbeit, als es ihr gelang nachzuweisen,
    wie sinnvoll all diese Zwangshandlungen sind, selbst die unschein-
    barsten und geringfügigsten unter ihnen, wie sie die Konflikte
    des Lebens, den Kampf zwischen Versuchungen und moralischen
    Hemmungen, den verfemten Wunsch selbst und die Strafen
    und BuBen dafür am indifferenten Material widerspiegeln. Bei
    einer anderen Form derselben Krankheit leiden die Betroffenen
    an peinigenden Vorstellungen, Zwangsideen, deren Inhalt sich
    ihnen gebieterisch aufdringt, von Affekten begleitet, die in
    Art und Intensität durch den Wortlaut der Zwangsideen selbst
    oft nur sehr wenig erklårt werden. Die analytische Untersuchung
    hat hier gezeigt, daB die Affekte voll berechtigt sind, indem sie
    Vorwürfen entsprechen, denen wenigstens eine psychische
    Realität zugrunde liegt. Die an diese Affekte gehängten
    Vorstellungen sind aber nicht mehr die ursprünglichen, sondern
    durch Verschiebung (Ersetzung, Substitution) von etwas Ver-
    drängtem in diese Verknüpfung geraten. Die Reduktion (das
    Rückgängigmachen) dieser Verschiebungen bahnt den Weg zur
    Erkenntnis der verdrängten Ideen und läßt die Verknüpfung von
    Affekt und Vorstellung als durchaus angemessen erscheinen,

    Bei einer anderen neurotischen Affektion, der eigentlich unheil-
    baren Dementia praecox (Paraphrenie, Schizophrenie), welche
    in ihren schlimmsten Ausgängen die Kranken völlig teilnahmslos
    erscheinen läßt, erübrigen oft als einzige Aktionen gewisse gleich-
    förmig wiederholte Bewegungen und Gesten, die als Stereotypien
    bezeichnet worden sind. Die analytische Untersuchung solcher
    Reste (durch C. G. Jung) hat sie als Überbleibsel von sinnvollen
    mimischen Akten erkennen lassen, in denen sich einst die das
    Individuum beherrschenden Wunschregungen Ausdruck verschafften.

    at

  • S.

    324 Das Interesse an der Psychoanalyse

    Die tollsten Reden und sonderbarsten Stellungen und Haltungen
    dieser Kranken haben ein Verständnis und die Einreihung in den
    Zusammenhang des Seelenlebens gestattet, seitdem man mit
    psychoanalytischen Voraussetzungen an sie herangetreten ist.

    Ganz ähnliches gilt für die Delirien und Halluzinationen und
    für die Wahnsysteme verschiedener Geisteskranker. Überall, wo
    bisher nur die bizarrste Laune zu walten schien, hat die psycho-
    analytische Arbeit Gesetz, Ordnung und Zusammenhang aufge-
    zeigt oder wenigstens ahnen lassen, insoferne diese Arbeit noch
    unvollendet ist. Die verschiedenartigen psychischen Erkrankungs-
    formen erkennt man aber als Ausgänge von Prozessen, welche
    im Grunde identisch sind, und die sich mit psychologischen
    Begriffen erfassen und beschreiben lassen. Überall sind der schon
    bei der Traumbildung aufgedeckte psychische Konflikt im
    Spiele, die Verdrängung gewisser Triebregungen, die von
    anderen Seelenkräften ins Unbewußte zurückgewiesen werden,
    die Reaktionsbildungen der verdrängenden Kräfte und die
    Ersatzbildungen der verdrängten, aber ihrer Energie nicht
    völlig beraubten Triebe. Überall äußern sich bei diesen Vorgängen
    die vom Traum her bekannten Prozesse der Verdichtung und
    Verschiebung. Die Mannigfaltigkeit der in der psychiatrischen
    Klinik beobachteten Krankheitsformen hängt von zwei anderen
    Mannigfaltigkeiten ab: von der Vielheit der psychischen Mecha-
    nismen, welche der Verdringungsarbeit zu Gebote stehen, und
    von der Vielheit der entwicklungsgeschichtlichen Dispositionen,
    welche den verdrångten Regungen den Durchbruch zu Ersatz-
    bildungen ermöglichen.

    Die gute Hålfte der psychiatrischen Aufgabe wird von der
    Psychoanalyse zur Erledigung an die Psychologie gewiesen. Doch
    wåre es ein arger Irrtum, wollte man annehmen, daB die Analyse
    eine rein psychologische Auffassung der Seelenstórungen anstrebt
    oder befürwortet. Sie kann nicht verkennen, daß die andere
    Hålfte der psychiatrischen Arbeit den EinfluB organischer Faktoren

  • S.

    Das psychologische Interesse 325

    (mechanischer, toxischer, infektiöser) auf den seelischen Apparat
    zum Inhalt hat. In der Ätiologie der Seelenstörungen nimmt sie
    nicht einmal für die mildesten derselben, für die Neurosen,
    einen rein psychogenen Ursprung in Anspruch, sondern sucht
    deren Verursachung in der Beeinflussung des Seelenlebens durch
    ein später zu erwähnendes, unzweifelhaft organisches Moment.

    Die detaillierten Ergebnisse der Psychoanalyse, welche für die
    allgemeine Psychologie bedeutsam werden müssen, sind allzu
    zahlreich, als daß ich sie hier anführen könnte. Ich will nur
    noch zwei Punkte mit einer Erwähnung streifen: Die unzwei-
    deutige Art, wie die Psychoanalyse das Primat im Seelenleben
    für die Affektvorgänge in Anspruch nimmt, und den Nachweis
    eines ungeahnten Ausmaßes von affektiver Störung und Ver-
    blendung des Intellekts bei den normalen nicht anders als bei
    den kranken Menschen.

  • S.

    ZWEITER TEIL

    DAS INTERESSE DER PSYCHOANALYSE FUR DIE
    NICHT PSYCHOLOGISCHEN WISSENSCHAFTEN

    A) Das sprachwissenschaftliche Interesse

    Ich überschreite gewiß die gebräuchliche Wortbedeutung, wenn
    ich das Interesse des Sprachforschers får die Psychoanalyse
    postuliere. Unter Sprache muf hier nicht bloB der Ausdruck von
    Gedanken in Worten, sondern auch die Gebärdensprache und
    jede andere Art von Ausdruck seelischer Tätigkeit, wie die
    Schrift, verstanden werden. Dann aber darf man geltend machen,
    daß die Deutungen der Psychoanalyse zunächst Übersetzungen
    aus einer uns fremden Ausdrucksweise in die unserem Denken
    vertraute sind. Wenn wir einen Traum deuten, so übersetzen
    wir bloß einen gewissen Gedankeninhalt (die latenten Traum-
    gedanken) aus der „Sprache des Traumes“ in die unseres Wach-
    lebens. Man lernt dabei die Eigentümlichkeiten dieser Traum-
    sprache kennen und gewinnt den Eindruck, daß sie einem in
    hohem Grade archaischen Ausdruckssystem angehört. So z. B.
    wird die Negation in der Sprache des Traumes niemals besonders
    bezeichnet. Gegensätze vertreten einander im Trauminhalt und
    werden durch dasselbe Element dargestellt. Oder, wie man auch
    sagen kann: in der Traumsprache sind die Begriffe noch
    ambivalent, vereinigen in sich entgegengesetzte Bedeutungen, wie
    es nach den Annahmen der Sprachforscher bei den ältesten

  • S.

    Das sprachwissenschaftliche Interesse 327

    Wurzeln der historischen Sprachen der Fall gewesen ist." Ein anderer
    auffålliger Charakter unserer Traumsprache ist die überaus häufige
    Verwendung der Symbole, die in gewissem MaBe eine Uber-
    setzung des Trauminhaltes unabhångig von den individuellen
    Assoziationen gestatten. Das Wesen dieser Symbole ist von der
    Forschung noch nicht klar genug erfaßt; es sind Ersetzungen
    und Vergleichungen auf Grund von Ähnlichkeiten, die zum Teil
    klar zutage liegen; bei einem anderen Teile dieser Symbole ist
    aber das zu vermutende Tertium comparationis unserer bewuBten
    Kenntnis abhanden gekommen. Gerade diese Symbole dürften
    aus den ältesten Phasen der Sprachentwicklung und Begriffs-
    bildung stammen. Im Traume sind es vorwiegend die Sexual-
    organe und die sexuellen Verrichtungen, welche eine symbolische
    Darstellung, anstatt einer direkten, erfahren. Ein Sprachforscher,
    Hans Sperber (Upsala), hat erst kürzlich den Nachweis versucht,
    daß Worte, die ursprünglich sexuelle Tätigkeiten bedeuteten, auf
    Grund solcher Vergleichung zu einem außerordentlich reichen
    Bedeutungswandel gelangt sind.”

    Wenn wir daran denken, daß die Darstellungsmittel des
    Traumes hauptsächlich visuelle Bilder, nicht Worte, sind, so wird
    uns der Vergleich des Traumes mit einem Schriftsystem noch
    passender erscheinen als der mit einer Sprache. In der Tat ist
    die Deutung eines Traumes durchaus analog der Entzifferung
    einer alten Bilderschrift, wie der ägyptischen Hieroglyphen. Es
    gibt hier wie dort Elemente, die nicht zur Deutung, respektive
    Lesung, bestimmt sind, sondern nur als Determinativa das Ver-
    ståndnis anderer Elemente sichern sollen. Die Vieldeutigkeit
    verschiedener Traumelemente findet ihr Gegenstiick in diesen
    alten Schriftsystemen ebenso wie die Auslassung verschiedener

    1) Vgl. Abel, Uber den Gegensinn der Urworte. Referat im „Jahrbuch fiir
    psychoanalytische und psychopathologische Forschungen“, II. Bd. 1910. (Enthalten
    im Bd, X dieser Gesamtausgabe).

    2) „Über den Einfluß sexueller Momente auf Entstehung und Entwicklung der
    Sprache“ (Imago I, 1912).

  • S.

    328 Das Interesse an der Psychoanalyse

    Relationen, die hier wie dort aus dem Zusammenhange ergånzt
    werden miissen. Wenn eine solche Auffassung der Traumdarstellung
    noch keine weitere Ausfithrung gefunden hat, so geht dies auf
    den leicht begreiflichen Umstand zurück, daß dem Psychoanalytiker
    durchwegs jene Gesichtspunkte und Kenntnisse abgehen, mit denen
    der Sprachforscher an ein Thema wie das des Traumes heran-
    treten würde.

    Die Traumsprache, kann man sagen, ist die Ausdrucksweise
    der unbewußten Seelentätigkeit. Aber das Unbewußte spricht
    mehr als nur einen Dialekt. Unter den veränderten psycho-
    logischen Bedingungen, welche die einzelnen Formen von Neurose
    charakterisieren und voneinander scheiden, ergeben sich auch
    konstante Abänderungen des Ausdruckes für unbewußte seelische
    Regungen. Während die Gebärdensprache der Hysterie im ganzen
    mit der Bildersprache des Traumes, der Visionen usw. zusammen-
    trifft, ergeben sich besondere idiomatische Ausbildungen für die
    Gedankensprache der Zwangsneurose und der Paraphrenien
    (Dementia praecox und Paranoia), die wir in einer Reihe
    von Fällen bereits verstehen und aufeinander beziehen können.
    Was z. B. eine Hysterika durch Erbrechen darstellt, das wird
    sich beim Zwangskranken durch peinliche Schutzmaßregeln gegen
    Infektion äußern und den Paraphreniker zur Klage oder zum
    Verdacht, daß er vergiftet werde, veranlassen. Was hier so
    verschiedenen Ausdruck findet, ist der ins Unbewußte verdrängte
    Wunsch nach Schwängerung, respektive die Abwehr der
    erkrankten Person gegen denselben.

    B) Das philosophische Interesse

    Insofern die Philosophie auf Psychologie aufgebaut ist, wird
    sie nicht umhin können, den psychoanalytischen Beiträgen zur
    Psychologie in ausgiebigster Weise Rechnung zu tragen und auf
    diese neue Bereicherung unseres Wissens in ähnlicher Art zu

  • S.

    Das philosophische Interesse 329

    reagieren, wie sie es bei allen bedeutenderen Fortschritten der
    Spezialwissenschaften gezeigt hat. Insbesondere die Aufstellung
    der unbewubten Seelentätigkeiten muß die Philosophie nötigen,
    Partei zu nehmen und im Falle der Zustimmung ihre Hypothesen
    über das Verhältnis des Seelischen zum Leiblichen zu modifizieren,
    bis sie der neuen Kenntnis entsprechen. Die Philosophie hat
    sich allerdings wiederholt mit dem Problem des UnbewuBten
    beschåftigt, aber ihre Vertreter haben dabei — mit wenigen
    Ausnahmen — eine von den zwei Positionen eingenommen, die
    nun anzuführen sind. Entweder ihr UnbewuBtes war etwas
    Mystisches, nicht Greifbares und nicht Aufzeigbares, dessen
    Beziehung zum Seelischen im Dunkeln blieb, oder sie haben das
    Seelische mit dem BewuBten identifiziert und dann aus dieser
    Definition abgeleitet, daß etwas UnbewuBtes nichts Seelisches und
    kein Gegenstand der Psychologie sein könne. Die Äußerungen
    rühren daher, daß die Philosophen das UnbewuBte beurteilt
    haben, ohne die Phänomene der unbewußten Seelentätigkeit zu
    kennen, also ohne zu ahnen, inwieweit sie den bewußten
    Phänomenen nahe kommen und worin sie sich von ihnen unter-
    scheiden. Will jemand trotz dieser Kenntnisnahme an der
    Konvention festhalten, welche Bewußtes und Psychisches gleich-
    stellt, und darum dem Unbewußten den psychischen Charakter
    absprechen, so ist dagegen natürlich nichts einzuwenden, außer
    daß eine solche Scheidung sich als höchst unpraktisch herausstellt.
    Denn das Unbewußte ist von seiten seiner Beziehung zum BewuBten,
    mit dem es so vieles gemeinsam hat, leicht zu beschreiben und
    in seinen Entwicklungen zu verfolgen; von der Seite des
    physischen Prozesses ihm näher zu kommen, erscheint hingegen
    jetzt noch völlig ausgeschlossen. Es muß also Objekt der Psycho-
    logie bleiben.

    Noch in anderer Art kann die Philosophie aus der Psycho-
    analyse Anregung gewinnen, nämlich indem sie selbst zum
    Objekt derselben wird. Die philosophischen Lehren und Systeme

  • S.

    350 Das Interesse an der Psychoanalyse

    sind das Werk einer geringen Anzahl von Personen von hervor-
    ragender individueller Ausprägung; in keiner anderen Wissenschaft
    fällt auch der Persönlichkeit des wissenschaftlichen Arbeiters eine
    annähernd so große Rolle zu wie gerade bei der Philosophie.
    Nun setzt uns erst die Psychoanalyse in den Stand, eine Psycho-
    graphie der Persönlichkeit zu geben. (Vgl. unten: Das soziologische
    Interesse.) Sie lehrt uns die affektiven Einheiten — die von
    Trieben abhängigen Komplexe — kennen, welche in jedem
    Individuum vorauszusetzen sind, und leitet uns in das Studium
    der Umwandlungen und Endergebnisse, welche aus diesen Trieb-
    kräften hervorgehen. Sie deckt die Beziehungen auf, welche
    zwischen konstitutionellen Anlagen und Lebensschicksalen einer
    Person und den dank einer besonderen Begabung bei ihr möglichen
    Leistungen bestehen. Die intime Persönlichkeit des Künstlers, die
    sich hinter seinem Werk verbirgt, vermag sie aus diesem Werk
    mit größerer oder geringerer Treffsicherheit zu erraten. So kann
    die Psychoanalyse auch die subjektive und individuelle Motivierung
    von philosophischen Lehren aufzeigen, welche vorgeblich un-
    parteiischer logischer Arbeit entsprungen sind, und der Kritik
    selbst die schwachen Punkte des Systems anzeigen. Diese Kritik
    selbst zu besorgen, ist micht Sache der Psychoanalyse, denn, wie
    begreiflich, schlieBt die psychologische Determinierung einer Lehre
    ihre wissenschaftliche Korrektheit keineswegs aus.

    C) Das biologische Interesse

    Die Psychoanalyse hat nicht wie andere junge Wissenschaften
    das Schicksal gehabt, von erwartungsvoller Teilnahme der am
    Fortschritt der Erkenntnis Interessierten begrüßt zu werden. Sie
    wurde lange Zeit nicht angehört, und als endlich Vernachlässigung
    nicht mehr möglich war, wurde sie aus affektiven Gründen
    Gegenstand heftigster Anfeindung von seiten solcher, die sich nicht
    die Mithe gegeben hatten, sie kennen zu lernen. Diese unfreund-

  • S.

    Das biologische Interesse 331

    liche Aufnahme verdankt sie dem einen Umstand, daB sie an
    ihren Forschungsobjekten frühzeitig die Entdeckung machen
    mußte, die nervösen Erkrankungen seien der Ausdruck von
    Störung der Sexualfunktion, und darum Gründe hatte, sich
    der Erforschung der allzu lange vernachlässigten Sexualfunktion
    zu widmen. Wer aber an der Forderung festhält, daß wissen-
    schaftliches Urteil nicht durch affektive Einstellungen beeinflußt
    werden darf, wird der Psychoanalyse wegen dieser ihrer Forschungs-
    richtung hohes biologisches Interesse zugestehen und die Wider-
    stände gegen sie gerade als Beweise für ihre Behauptungen
    verwerten,

    Die Psychoanalyse ist der menschlichen Sexualfunktion gerecht
    geworden, indem sie die von vielen Dichtern und manchen
    Philosophen betonte, von der Wissenschaft niemals anerkannte
    Bedeutung derselben für das seelische und praktische Leben bis
    ins Einzelne verfolgte. Für diese Absicht mußte zunächst der
    ungebührlich eingeengte Begriff der Sexualität eine Erweiterung
    erfahren, welche sich durch die Berufung auf die Überschrei-
    tungen der Sexualität (die sogenannten Perversionen) und auf das
    Benehmen des Kindes rechtfertigen ließ. Es zeigte sich als
    unhaltbar, noch länger zu behaupten, daß die Kindheit asexuell
    sei und erst zur Zeit der Pubertät von dem plötzlichen Einbruch
    der sexuellen Regungen überfallen werde. Vielmehr konnte die
    Beobachtung, wenn sie sich nur erst der Blendung durch Interesse
    und Vorurteil entzogen hatte, mit Leichtigkeit nachweisen, daß
    sexuelle Interessen und Betätigungen beim menschlichen Kinde
    fast zu jeder Lebenszeit und von allem Anfang an bestehen.
    Diese infantile Sexualität wird in ihrer Bedeutsamkeit nicht
    dadurch beeinträchtigt, daß ihre Grenzen gegen das asexuelle Tun
    des Kindes nicht an allen Stellen mit voller Sicherheit abzustecken
    sind. Sie ist aber etwas anderes als die „normal“ genannte
    Sexualität des Erwachsenen. Ihr Umfang schließt die Keime zu
    all jenen sexuellen Betätigungen ein, die später als Perversionen

  • S.

    332 Das Interesse an der Psychoanalyse

    dem normalen Sexualleben schroff gegenübergestellt werden, dann
    aber auch unbegreiflich und lasterhaft erscheinen müssen. Aus
    der infantilen Sexualität geht die normale des Erwachsenen
    hervor durch eine Reihe von Entwicklungsvorgången, Zusammen-
    setzungen, Abspaltungen und Unterdrückungen, welche fast
    niemals in idealer Vollkommenheit erfolgen und darum die
    Dispositionen zur Rückbildung der Funktion in Krankheitszuständen
    hinterlassen.

    Die infantile Sexualitåt låBt zwei weitere Eigenschaften erkennen,
    welche fiir die biologische Auffassung bedeutungsvoll sind. Sie
    erweist ihre Zusammensetzung aus einer Reihe von Partialtrieben,
    welche an gewisse Kørperregionen — erogene Zonen — gekniipft
    erscheinen, und von denen einzelne von Anfang an in Gegen-
    satzpaaren — als Trieb mit aktivem und passivem Ziel — auf-
    treten. Wie spåterhin in Zuständen des sexuellen Begehrens nicht
    bloB die Geschlechtsorgane der geliebten Person, sondern deren
    ganzer Körper zum Sexualobjekt wird, so sind von allem Anfang
    an nicht bloB die Genitalien, sondern auch verschiedene andere
    Kórperstellen die Ursprungsstätten sexueller Erregung und ergeben
    bei geeigneter Reizung sexuelle Lust. Damit in engem Zusammen-
    hange steht der zweite Charakter der infantilen Sexualität, ihre
    anfängliche Anlehnung an die der Selbsterhaltung dienenden
    Funktionen der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung,
    wahrscheinlich auch der Muskelerregung und der Sinneståtigkeit.

    Wenn wir die Sexualität mit Hilfe der Psychoanalyse beim
    gereiften Individuum studieren und das Leben des Kindes im
    Lichte der so gewonnenen Einsichten betrachten, erscheint uns
    die Sexualität nicht als eine bloß der Fortpflanzung dienende,
    der Verdauung, Atmung usw. gleichzustellende Funktion, sondern
    als etwas weit Selbständigeres, was sich vielmehr allen anderen
    Tätigkeiten des Individuums gegenüberstellt und erst durch eine
    komplizierte, an Einschränkungen reiche Entwicklung in den
    Verband der individuellen Ökonomie gezwungen wird. Der

  • S.

    Das biologische Interesse 333

    theoretisch sehr wohl denkbare Fall, daB die Interessen dieser
    sexuellen Strebungen nicht mit denen der individuellen Selbst-
    erhaltung zusammenfallen, scheint in der Krankheitsgruppe der
    Neurosen verwirklicht zu sein, denn die letzte Formel, welche
    die Psychoanalyse über das Wesen der Neurosen ergibt, lautet:
    Der Urkonflikt, aus welchem die Neurosen hervorgehen, ist der
    zwischen den das Ich erhaltenden und den sexuellen Trieben.
    Die Neurosen entsprechen einer mehr oder weniger partiellen
    Überwältigung des Ich durch die Sexualität, nachdem dem Ich
    der Versuch zur Unterdrückung der Sexualität mißlungen ist.

    Wir haben es notwendig gefunden, biologische Gesichtspunkte
    während der psychoanalytischen Arbeit ferne zu halten, und
    solche auch nicht zu heuristischen Zwecken zu verwenden, damit
    wir in der unparteiischen Beurteilung der uns vorliegenden
    psychoanalytischen Tatbestände nicht beirrt werden. Nach voll-
    zogener psychoanalytischer Arbeit müssen wir aber den Anschluß
    an die Biologie finden und dürfen zufrieden sein, wenn er schon
    jetzt in dem einen oder anderen wesentlichen Punkte gesichert
    scheint. Der Gegensatz zwischen Ichtrieben und Sexualtrieb, auf
    den wir die Entstehung den Neurosen zurückführen mußten,
    setzt sich als Gegensatz zwischen Trieben, welche der Erhaltung
    des Individuums, und solchen, die der Fortsetzung der Art dienen,
    aufs biologische Gebiet fort. In der Biologie tritt uns die
    umfassendere Vorstellung des unsterblichen Keimplasmas entgegen,
    an welchem wie sukzessiv entwickelte Organe die einzelnen ver-
    gänglichen Individuen hängen; erst aus dieser können wir die
    Rolle der sexuellen Triebkräfte in der Physiologie und Psychologie
    des Einzelwesens richtig verstehen.

    Trotz aller Bemühung, biologische Termini und Gesichtspunkte
    nicht zur Herrschaft in der psychoanalytischen Arbeit gelangen
    zu lassen, können wir es nicht vermeiden, sie schon in der
    Beschreibung der von uns studierten Phänomene zu gebrauchen.
    Wir können dem „Trieb“ nicht ausweichen als einem Grenz-

  • S.

    334 Das Interesse an der Psychoanalyse

    begriff zwischen psychologischer und biologischer Auffassung, und
    wir sprechen von „männlichen“ und „weiblichen“ seelischen
    Eigenschaften und Strebungen, obwohl die Geschlechtsverschieden-
    heiten streng genommen keine besondere psychische Charakteristik
    beanspruchen können. Was wir im Leben männlich oder weiblich
    heißen, reduziert sich für die psychologische Betrachtung auf die
    Charaktere der Aktivität und der Passivität, das heißt auf Eigen-
    schaften, welche nicht von den Trieben selbst, sondern von deren
    Zielen anzugeben sind. In der regelmäßigen Gemeinschaft solcher
    „aktiver“ und „passiver“ Triebe im Seelenleben spiegelt sich die
    Bisexualität der Individuen, welche zu den klinischen Voraus-
    setzungen der Psychoanalyse gehört.

    Ich werde befriedigt sein, wenn diese wenigen Bemerkungen
    darauf aufmerksam gemacht haben, welch ausgiebige Vermittlung
    zwischen der Biologie und der Psychologie durch die Psycho-
    analyse hergestellt wird.

    D) Das entwicklungsgeschichtliche Interesse

    Nicht jede Analyse psychologischer Phänomene wird den
    Namen einer Psychoanalyse verdienen. Die letztere bedeutet mehr
    als die Zerlegung zusammengesetzter Erscheinungen in einfachere;
    sie besteht in einer Zurückführung einer psychischen Bildung auf
    andere, welche ihr zeitlich vorhergegangen sind, aus denen sie
    sich entwickelt hat. Das ärztliche psychoanalytische Verfahren
    konnte kein Leidenssymptom beseitigen, wenn es nicht seiner
    Entstehung und Entwicklung nachspürte: so ist die Psychoanalyse
    von allem Anfang an auf die Verfolgung von Entwicklungs-
    vorgången gewiesen worden. Sie hat zuerst die Genese neurotischer
    Symptome aufgedeckt; im weiteren Fortschritt mußte sie andere
    psychische Bildungen in Angriff nehmen und die Arbeit einer
    genetischen Psychologie an ihnen leisten.

  • S.

    Das entwicklungsgeschichtliche Interesse 335

    Die Psychoanalyse ist genötigt worden, das Seelenleben des
    Erwachsenen aus dem des Kindes abzuleiten, Ernst zu machen
    mit dem Satze: das Kind ist der Vater des Mannes. Sie hat die
    Kontinuitåt der infantilen Psyche mit der des Erwachsenen ver-
    folgt, aber auch die Umwandlungen und Umordnungen gemerkt,
    welche auf diesem Wege vor sich gehen. Die meisten von uns
    haben eine Gedåchtnisliicke fiir ihre ersten Kinderjahre, aus welcher
    sich nur einzelne Brocken. Erinnerung herausheben. Man darf
    behaupten, daB die Psychoanalyse diese Liicke ausgefiillt, diese
    Kindheitsamnesie der Menschen beseitigt hat. (Vgl.: Das pådagogische
    Interesse.)

    Während der Vertiefung in das infantile Seelenleben haben
    sich einige bemerkenswerte Funde ergeben. So lieB sich beståtigen,
    was man oftmals vorher geahnt hatte, von welch auBerordentlicher
    Bedeutung fiir die ganze spåtere Richtung eines Menschen die
    Eindrücke seiner Kindheit, ganz besonders aber seiner ersten
    Kindheitsjahre, sind. Man ist dabei auf ein psychologisches
    Paradoxon gestoßen, welches nur für die psychoanalytische Auf-
    fassung keines ist, daß gerade diese allerbedeutsamsten Eindrücke
    im Gedächtnis der späteren Jahre nicht enthalten sind. Die
    Psychoanalyse hat diese Vorbildlichkeit und Unverløschbarkeit
    frühester Erlebnisse gerade, für das Sexualleben am deutlichsten
    feststellen können. „On revient toujours à ses premiérs amours“
    ist eine niichterne Wahrheit. Die vielen Rätsel des Liebeslebens
    Erwachsener lösen sich erst durch die Hervorhebung der infantilen
    Momente in der Liebe. Für die Theorie dieser Wirkungen kommt
    in Betracht, daB die ersten Kindererlebnisse dem Individuum
    nicht nur als Zufålligkeiten widerfahren, sondern auch den ersten
    Betätigungen der von ihm konstitutionell mitgebrachten Trieb-
    anlagen entsprechen.

    Eine andere, weit überraschendere Aufdeckung hat zum Inhalt,
    daß von den infantilen seelischen Formationen trotz aller späteren
    Entwicklung beim Erwachsenen nichts untergeht. Alle Wünsche,

  • S.

    336 Das Interesse an der Psychoanalyse

    Triebregungen, Reaktionsweisen, Einstellungen des Kindes sind
    beim gereiften Menschen nachweisbar noch vorhanden und können
    unter geeigneten Konstellationen wieder zum Vorschein kommen.
    Sie sind nicht zerstört, sondern bloß überlagert, wie die psycho-
    analytische Psychologie in ihrer räumlichen Darstellungsweise
    sagen muß. Es wird so zum Charakter der seelischen Vergangen-
    heit, daB sie nicht, wie die historische, von ihren Abkómmlingen
    aufgezehrt wird; sie besteht weiter neben dem, was aus ihr
    geworden ist, entweder bloB virtuell oder in realer Gleichzeitig-
    keit. Beweis dieser Behauptung ist es, daß der Traum des normalen
    Menschen allnächtlich dessen Kindercharakter wiederbelebt und
    sein ganzes Seelenleben auf eine infantile Stufe zurückführt.
    Dieselbe Rückkehr zum psychischen Infantilismus (Regression)
    stellt sich bei den Neurosen und Psychosen heraus, deren Eigen-
    tümlichkeiten zum groBen Teil als psychische Archaismen zu
    beschreiben sind. In der Stárke, welche den infantilen Resten im
    Seelenleben verblieben ist, sehen wir das Maß der Krankheits-
    disposition, so daß uns diese zum Ausdruck einer Entwicklungs-
    hemmung wird. Das infantil Gebliebene, als unbrauchbar Ver-
    drüngte im psychischen Material eines Menschen bildet nun den
    Kern seines UnbewuBten, und wir glauben in den Lebens-
    geschichten unserer Kranken verfolgen zu künnen, wie dieses
    von den verdrångenden Kräften zurückgehaltene UnbewuBte auf
    Betätigung lauert und die Gelegenheiten ausnützt, wenn es den
    späteren und höheren psychischen Bildungen nicht gelingt, der
    Schwierigkeiten der realen Welt Herr zu werden.

    In den allerletzten Jahren hat sich die psychoanalytische Arbeit
    darauf besonnen, daß der Satz „die Ontogenie sei eine Wieder-
    holung der Phylogenie^ auch auf das Seelenleben anwendbar
    sein müsse, und daraus ist eine neue Erweiterung des psycho-
    analytischen Interesses hervorgegangen.

    ı) Abraham, Spielrein, Jung.

  • S.

    Das kulturhistorische Interesse 337

    E) Das kulturhistorische Interesse

    Die Vergleichung der Kindheit des einzelnen Menschen mit
    der Frühgeschichte der Völker hat sich bereits nach mehreren
    Richtungen als fruchtbar erwiesen, trotzdem diese Arbeit kaum
    mehr als begonnen werden konnte. Die psychoanalytische Denk-
    weise benimmt sich dabei wie ein neues Instrument der Forschung.
    Die Anwendung ihrer Voraussetzungen auf die Vólkerpsychologie
    gestattet ebenso neue Probleme aufzuwerfen wie die bereits
    bearbeiteten in neuem Lichte zu sehen und zu deren Lösung
    beizutragen.

    Zunächst erscheint es durchaus möglich, die am Traum gewonnene
    psychoanalytische Auffassung auf Produkte der Vülkerphantasie
    wie Mythus und Märchen zu übertragen. Die Aufgabe einer
    Deutung dieser Gebilde liegt seit langem vor; man ahnt einen
    „geheimen Sinn“ derselben, man ist auf Abünderungen und auf
    Umwandlungen vorbereitet, welche diesen Sinn verdecken. Die
    Psychoanalyse bringt von ihren Arbeiten an Traum und Neurose
    die Schulung mit, welche die technischen Wege dieser Ent-
    stellungen erraten kann. Sie kann aber auch in einer Reihe von
    Füllen die verborgenen Motive aufdecken, welche diese Wand-
    lungen des Mythus von seinem ursprünglichen Sinn verursacht
    haben. Den ersten Anstoß zur Mythenbildung kann sie nicht in
    einem theoretischen Bedürfnis nach Erklärung der Naturerschei-
    nungen und nach Rechenschaft für unverständlich gewordene
    Kultvorschriften und Gebräuche erblicken, sondern sucht ihn in
    den nämlichen psychischen „Komplexen“, in denselben affektiven
    Strebungen, welche sie zu Grunde der Träume und der Symptom-
    bildungen nachgewiesen hat.

    Durch die gleiche Übertragung ihrer Gesichtspunkte, Voraus-
    setzungen und Erkenntnisse wird die Psychoanalyse befähigt,
    Licht auf die Ursprünge unserer großen kulturellen Institutionen,

    1) Abraham. Rank Jung.
    Freud, IV.

  • S.

    338 Das Interesse an der Psychoanalyse

    der Religion, der Sittlichkeit, des Rechts, der Philosophie zu
    werfen. Indem sie den primitiven psychologischen Situationen
    nachspürt, aus denen sich die Antriebe zu solchen Schöpfungen
    ergeben konnten, kommt sie in die Lage, manchen Erklärungs-
    versuch zurückzuweisen, der auf eine psychologische Vorläufigkeit
    gegründet war, und ihn durch tiefer reichende Einsichten zu

    ersetzen.
    Die Psychoanalyse stellt eine innige Beziehung her zwischen

    all diesen psychischen Leistungen der einzelnen. und der Gemein-
    schaften, indem sie dieselbe dynamische Quelle für beide postu-
    liert. Sie knüpft an die Grundvorstellung an, daß es die Haupt-
    funktion des seelischen Mechanismus ist, das Geschöpf von den
    Spannungen zu entlasten, die durch Bedürfnisse in ihm erzeugt
    werden. Ein Teil dieser Aufgabe wird lösbar durch Befriedigung,
    welche man von der Außenwelt erzwingt; zu diesem Zwecke
    wird die Beherrschung der realen Welt Erfordernis. Einem
    anderen Teil dieser Bedürfnisse, darunter wesentlich gewissen
    affektiven Strebungen, versagt die Realität regelmäßig die Befrie-
    digung. Daraus geht ein zweites Stück der Aufgabe hervor, den
    unbefriedigten Strebungen eine andersartige Erledigung zu ver-
    schaffen. Alle Kulturgeschichte zeigt nur, welche Wege die
    Menschen zur Bindung ihrer unbefriedigten Wünsche einschlagen
    unter den wechselnden und durch technischen Fortschritt ver-
    änderten Bedingungen der Gewährung und Versagung von
    seiten der Realität.

    Die Untersuchung der primitiven Völker zeigt die Menschen
    zunächst im kindlichen Allmachtsglauben befangen® und läßt

    1) Ansätze hiezu bei Jung, Wandlungen und Symbole der Libido, 1912, und
    Freud, Ubereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker.
    Imago, I u. II. [Totem und Tabu. Enthalten in Bd. X dieser Gesamtausgabe.]

    2) Ferenczi, Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. Intern. Zeitschr. f.
    årztl. Psychoanalyse I, 1915. 一 Freud, Animismus, Magie und Allmacht der
    Gedanken. Imago, II, 1915. [Totem und Tabu. Enthalten in Bd. X dieser Gesamt-
    ausgabe.]

  • S.

    Das kulturhistorische Interesse 339

    eine Menge von seelischen Bildungen als Bemühungen verstehen,
    die Störungen dieser Allmacht abzuleugnen und so die Realität
    von ihrer Wirkung aufs Affektleben fern zu halten, solange man
    dieselbe nicht besser beherrschen und zur Befriedigung ausniitzen
    kann. Das Prinzip der Unlustvermeidung beherrscht das mensch-
    liche Tun so lange, bis es durch das bessere der Anpassung an
    die Außenwelt abgelöst wird. Parallel zur fortschreitenden Welt-
    beherrschung des Menschen geht eine Entwicklung seiner Welt-
    anschauung, welche sich immer mehr von dem ursprünglichen
    Allmachtsglauben abwendet, und von der animistischen Phase
    durch die religiöse zur wissenschaftlichen ansteigt. In diesen
    Zusammenhang fügen sich Mythus, Religion und Sittlichkeit als
    Versuche, sich für die mangelnde Wunschbefriedigung Ent
    schådigung zu schaffen.

    Die Kenntnis der neurotischen Erkrankungen einzelner Menschen
    hat für das Verständnis der großen sozialen Institutionen gute
    Dienste geleistet, denn die Neurosen selbst enthüllten sich als
    Versuche, die Probleme der Wunschkompensation individuell zu
    lösen, welche durch die Institutionen sozial gelöst werden sollen. Das
    Zurücktreten des sozialen Faktors und das Überwiegen des
    sexuellen macht diese neurotischen Lösungen der psychologischen
    Aufgabe zu Zerrbildern, unbrauchbar für anderes als für unsere
    Aufklärung über diese bedeutsamen Probleme.

    F) Das kunstwissenschaftliche Interesse

    Über einige der Probleme, welche sich an Kunst und Künstler
    knüpfen, gibt die psychoanalytische Betrachtung befriedigenden
    Aufschluß; andere entgehen ihr völlig. Sie erkennt auch in der
    Übung der Kunst eine Tätigkeit, welche die Beschwichtigung
    unerledigter Wünsche beabsichtigt, und zwar zunächst beim schaffen-
    den Künstler selbst, in weiterer Folge beim Zuhörer oder Zuschauer.
    Die Triebkräfte der Kunst sind dieselben Konflikte, welche andere

    Pe

  • S.

    340 Das Interesse an der Psychoanalyse

    Individuen in die Neurose drängen, die Gesellschaft zum Auf-
    bau ihrer Institutionen bewogen haben. Woher dem Künstler die
    Fähigkeit zum Schaffen kommt, ist keine Frage der Psychologie.
    Der Künstler sucht zunächst Selbstbefreiung und führt dieselbe
    durch Mitteilung seines Werkes den anderen zu, die an den
    gleichen verhaltenen Wünschen leiden. Er stellt zwar seine persón-
    lichsten Wunschphantasien als erfüllt dar, aber diese werden zum
    Kunstwerk erst durch eine Umformung, welche das AnstóDige
    dieser Wünsche mildert, den persönlichen Ursprung derselben
    verhüllt, und durch die Einhaltung von Schónheitsregeln den
    anderen bestechende Lustpråmien bietet. Es fällt der Psycho-
    analyse nicht schwer, neben dem manifesten Anteil des kiinstle-
    rischen Genusses einen latenten, wiewohl weit wirksameren, aus
    den versteckten Quellen der Triebbefreiung nachzuweisen. Der
    Zusammenhang zwischen den Kindheitseindrücken und Lebens-
    schicksalen des Künstlers und seinen Werken als Reaktionen auf
    diese Anregungen gehört zu den anziehendsten Objekten der
    analytischen Betrachtung.“

    Im übrigen harren noch die meisten Fragen des Kunstschaffens
    und Kunstgenießens einer Bearbeitung, welche das Licht analy-
    tischer Erkenntnis auf sie fallen läßt und ihnen ihre Stelle in
    dem komplizierten Aufbau der menschlichen Wunschkompen-
    sationen anweist. Als konventionell zugestandene Realität, in
    welcher dank der künstlerischen Illusion Symbole und Ersatz-
    bildungen wirkliche Affekte hervorrufen dürfen, bildet die Kunst
    ein Zwischenreich zwischen der wunschversagenden Realität und der
    wunscherfüllenden Phantasiewelt, ein Gebiet, auf dem die All-
    machtbestrebungen der primitiven Menschheit gleichsam in Kraft
    verblieben sind.

    1) Vgl. O. Rank, Der Künstler, Wien 1907.

    2) Siehe O. Rank, Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Wien 1912. — Auch
    für die Anwendung auf ästhetische Probleme: Freud, Der Witz und seine Beziehung
    zum Unbewußten, 1905. [Enthalten in Bd. X dieser Gesamtausgabe.]

  • S.

    Das soziologische Interesse 341

    G) Das soziologische Interesse

    Die Psychoanalyse hat zwar die individuelle Psyche zum Objekt
    genommen, aber bei der Erforschung derselben konnten ihr die
    affektiven Grundlagen fiir das Verhåltnis des einzelnen zur Gesell-
    schaft nicht entgehen. Sie hat gefunden, daß die sozialen Gefühle
    regelmäßig einen Beitrag von seiten der Erotik führen, dessen
    Uberbetonung und nachfolgende Verdrängung zur Charakteristik
    einer bestimmten Gruppe von Seelenstórungen wird. Sie hat den
    asozialen Charakter der Neurosen überhaupt erkannt, welche ganz
    allgemein dahin streben, das Individuum aus der Gesellschaft zu
    drången und ihm das Klosterasyl fritherer Zeiten durch die
    Krankheitsisolierung zu ersetzen. Das intensive Verschuldungs-
    gefühl, welches so viele Neurosen beherrscht, erwies sich ihr als
    die soziale Modifikation der neurotischen Angst.

    Andererseits deckt die Psychoanalyse den Anteil, welchen soziale
    Verhältnisse und Anforderungen an der Verursachung der Neurose
    haben, im weitesten AusmaBe auf. Die Krifte, welche die Trieb-
    einschrinkung und Triebverdrångung von seiten des Ich herbei-
    fithren, entspringen wesentlich der Gefiigigkeit gegen die sozialen
    Kulturforderungen. Dieselbe Konstitution und dieselben Kindheits-
    erlebnisse, welche sonst zur Neurose fithren miiBten, werden diese
    Wirkung nicht hervorrufen, wenn solche Gefiigigkeit nicht vor-
    handen ist, oder solche Anforderungen von dem sozialen Kreis,
    får welchen das Individuum lebt, nicht gestellt werden. Die alte
    Behauptung, daB die fortschreitende Nervositåt ein Produkt der
    Kultur sei, deckt wenigstens die Hilfte des wahren Sachverhalts.
    Erziehung und Beispiel bringen die Kulturforderung an das jugend-
    liche Individuum heran; wo sich bei diesem die Triebverdrängung
    unabhängig von den beiden einstellt, liegt die Annahme nahe, daß
    urvorzeitliche Anforderung endlich zum organisierten erblichen
    Besitz der Menschen geworden ist. Das Kind, welches spontan
    Triebverdrängungen produziert, würde auch damit nur ein Stück

  • S.

    342 Das Interesse an der Psychoanalyse

    der Kulturgeschichte wiederholen. Was heute eine innere Abhaltung
    ist, war einmal nur eine äußere, vielleicht durch die Not der Zeiten
    gebotene, und so kann auch einmal zur internen Verdringungs-
    anlage werden, was heute noch als äußere Kulturforderung an
    jedes heranwachsende Individuum herantritt.

    H) Das pädagogische Interesse

    Das gewichtige Interesse der Erziehungslehre an der Psycho-
    analyse stützt sich auf einen zur Evidenz gebrachten Satz. Ein
    Erzieher kann nur sein, wer sich in das kindliche Seelenleben
    einfühlen kann, und wir Erwachsenen verstehen die Kinder nicht,
    weil wir unsere eigene Kindheit nicht mehr verstehen. Unsere
    Kindheitsamnesie ist ein Beweis dafiir, wie sehr wir ihr entfremdet
    sind. Die Psychoanalyse hat die Wiinsche, Gedankenbildungen,
    Entwicklungsvorgånge der Kindheit aufgedeckt; alle friiheren Be-
    mühungen waren in årgster Weise unvollständig und irreleitend,
    weil sie den unschåtzbar wichtigen Faktor der Sexualität in ihren
    körperlichen und seelischen Äußerungen ganz beiseite gelassen
    hatten. Das ungläubige Erstaunen, mit welchem die gesichertsten
    Ermittlungen der Psychoanalyse über die Kindheit aufgenommen
    werden — über den Ödipuskomplex, die Selbstverliebtheit (Nar-
    zißmus), die perversen Anlagen, die Analerotik, die sexuelle Wiß-
    begierde — mißt die Distanz, welche unser Seelenleben, unsere
    Wertungen, ja unsere Gedankenprozesse von denen auch des
    normalen Kindes trennt.

    Wenn sich die Erzieher mit den Resultaten der Psychoanalyse
    vertraut gemacht haben, werden sie es leichter finden, sich mit
    gewissen Phasen der kindlichen Entwicklung zu versöhnen, und
    werden unter anderem nicht in Gefahr sein, beim Kind auf-
    tretende sozial unbrauchbare oder perverse Triebregungen zu
    überschätzen. Sie werden sich eher von dem Versuch einer
    gewaltsamen Unterdrückung dieser Regungen zurückhalten, wenn

  • S.

    Das pädagogische Interesse 343

    sie erfahren, daß solche Beeinflussungen oft nicht minder uner-
    wünschte Erfolge liefern, als das von der Erziehung gefürchtete
    Gewährenlassen kindlicher Schlechtigkeit. Gewalttätige Unter-
    drückung starker Triebe von außen bringt bei Kindern niemals
    das Erlöschen oder die Beherrschung derselben zustande, sondern
    erzielt eine Verdrängung, welche die Neigung zu späterer neu-
    rotischer Erkrankung setzt. Die Psychoanalyse hat oft Gelegen-
    heit zu erfahren, welchen Anteil die unzweckmäßige einsichtslose
    Strenge der Erziehung an der Erzeugung von nervöser Krankheit
    hat, oder mit welchen Verlusten an Leistungsfåhigkeit und Genuß-
    fähigkeit die geforderte Normalität erkauft wird. Sie kann aber
    auch lehren, welch wertvolle Beiträge zur Charakterbildung diese
    asozialen und perversen Triebe des Kindes ergeben, wenn sie
    nicht der Verdrängung unterliegen, sondern durch den Prozeß der
    sogenannten Sublimierung von ihren ursprünglichen Zielen
    weg zu wertvolleren gelenkt werden. Unsere besten Tugenden
    sind als Reaktionsbildungen und Sublimierungen auf dem Boden
    der bösesten Anlagen erwachsen. Die Erziehung sollte sich vor-
    sorglich hüten, diese kostbaren Kraftquellen zu verschütten und
    sich darauf beschränken, die Prozesse zu befördern, durch welche
    diese Energien auf gute Wege geleitet werden. In der Hand einer
    psychoanalytisch aufgeklärten Erziehung ruht, was wir von einer
    individuellen Prophylaxe der Neurosen erwarten können. (Vergl.
    die Arbeiten des Züricher Pastors Dr. Oskar Pfister.)

    Ich konnte mir in diesem Aufsatze nicht die Aufgabe stellen,
    Umfang und Inhalt der Psychoanalyse, die Voraussetzungen,
    Probleme und Ergebnisse derselben einem wissenschaftlich
    interessierten Publikum vorzufiihren. Meine Absicht ist erfüllt,
    wenn deutlich geworden ist, für wie viele Wissensgebiete sie
    interessant ist, und wie reiche Verknüpfungen sie zwischen den-
    selben herzustellen beginnt.