Neurose und Psychose 1924-001/1924.2
  • S.

     

    [Metadaten zu den Personen, die zur Generierung dieses Textes beigetragen haben:

    Christine Diercks: Konzept für die Edition und die Datenbank, Richtlinien, Quellenforschung, Signaturen

    Julian Roedelius: technische Umsetzung der Datenbank

    Arkadi Blatow: Quellenforschung, Digitalisierung der Datenquellen, Bildbearbeitung, Faksimile-Ausgabe, Bibliografie

    Christine Diercks: Diplomatische Umschrift, Lektorat]

     

    418

    NEUROSE UND PSYCHOSE

    Zuerst erschienen in der „Internationalen Zeit-
    schrift für Psychoanalyse“, X. Band (1924), Heft I.

    In meiner kürzlich erschienenen Schrift „Das Ich und das
    Es“ habe ich eine Gliederung des seelischen Apparates angegeben,
    auf deren Grund sich eine Reihe von Beziehungen in einfacher
    und übersichtlicher Weise darstellen läßt. In anderen Punkten,
    zum Beispiel was die Herkunft und Rolle des Über-Ichs betrifft,
    bleibt genug des Dunkeln und Unerledigten. Man darf nun
    fordern, daß eine solche Aufstellung sich auch für andere Dinge
    als brauchbar und förderlich erweise, wäre es auch nur, um
    bereits Bekanntes in neuer Auffassung zu sehen, es anders zu
    gruppieren und überzeugender zu beschreiben. Mit solcher An-
    wendung könnte auch eine vorteilhafte Rückkehr von der grauen
    Theorie zur ewig grünenden Erfahrung verbunden sein.

    Am genannten Orte sind die vielfältigen Abhängigkeiten des
    Ichs geschildert, seine Mittelstellung zwischen Außenwelt und Es u
    nd sein Bestreben, all seinen Herren gleichzeitig zu Willen zu
    sein. Im Zusammenhange eines von anderer Seite angeregten
    Gedankenganges, der sich mit der Entstehung und Verhütung
    der Psychosen beschäftigte, ergab sich mir nun eine einfache
    Formel, welche die vielleicht wichtigste genetische Differenz
    zwischen Neurose und Psychose behandelt: die Neurose sei
    der Erfolg eines Konflikts zwischen dem Ich und
    seinem Es, die Psychose aber der analoge Ausgang
    einer solchen Störung in den Beziehungen zwischen
    Ich und Außenwelt.

  • S.

    419

    Es ist sicherlich eine berechtigte Mahnung, daß man gegen so
    einfache Problemlösungen mißtrauisch sein soll. Auch wird
    unsere äußerste Erwartung nicht weiter gehen, als daß diese
    Formel sich im Gröbsten als richtig erweise. Aber auch das wäre
    schon etwas. Man besinnt sich auch sofort an eine ganze Reihe
    von Einsichten und Funden, welche unseren Satz zu bekräftigen
    scheinen. Die Übertragungsneurosen entstehen nach dem Ergebnis
    aller unserer Analysen dadurch, daß das Ich eine im Es mächtige
    Triebregung nicht aufnehmen und nicht zur motorischen Erledigung
    befördern will, oder ihr das Objekt bestreitet, auf das sie zielt.
    Das Ich erwehrt sich ihrer dann durch den Mechanismus der
    Verdrängung; das Verdrängte sträubt sich gegen dieses Schicksal,
    schafft sich auf Wegen, über die das Ich keine Macht hat, eine
    Ersatzvertretung, die sich dem Ich auf dem Wege des Kompromisses
    aufdrängt, das Symptom; das Ich findet seine Einheitlichkeit
    durch diesen Eindringling bedroht und geschädigt, setzt den
    Kampf gegen das Symptom fort, wie es sich gegen die ursprüngliche
    Triebregung gewehrt hatte, und dies alles ergibt das Bild der
    Neurose. Es ist kein Einwand, daß das Ich, wenn es die Ver-
    drängung vornimmt, im Grunde den Geboten seines Über-Ichs
    folgt, die wiederum solchen Einflüssen der realen Außenwelt
    entstammen, welche im Über-Ich ihre Vertretung gefunden
    haben. Es bleibt doch dabei, daß das Ich sich auf die Seite dieser
    Mächte geschlagen hat, daß in ihm deren Anforderungen stärker
    sind als die Triebansprüche des Es, und daß das Ich die Macht
    ist, welche die Verdrängung gegen jenen Anteil des Es ins Werk
    setzt und durch die Gegenbesetzung des Widerstandes befestigt.
    Im Dienste des Über-Ichs und der Realität ist das Ich in Konflikt
    mit dem Es geraten und dies ist der Sachverhalt bei allen
    Übertragungsneurosen.

    Auf der anderen Seite wird es uns ebenso leicht, aus unserer
    bisherigen Einsicht in den Mechanismus der Psychosen Beispiele
    anzuführen, welche auf die Störung des Verhältnisses zwischen

  • S.

    420

    Ich und Außenwelt hinweisen. Bei der Amentia Meynerts,
    der akuten halluzinatorischen Verworrenheit, der vielleicht extremsten
    und frappantesten Form von Psychose, wird die Außenwelt
    entweder gar nicht wahrgenommen oder ihre Wahrnehmung
    bleibt völlig unwirksam Normalerweise beherrscht ja die Außen-
    welt das Ich auf zwei Wegen: erstens durch die immer von
    neuem möglichen aktuellen Wahrnehmungen, zweitens durch den
    Erinnerungsschatz früherer Wahrnehmungen, die als „Innenwelt“
    einen Besitz und Bestandteil des Ichs bilden. In der Amentia
    wird nun nicht nur die Annahme neuer Wahrnehmungen verweigert,
    es wird auch der Innenwelt, welche die Außenwelt als ihr
    Abbild bisher vertrat, die Bedeutung (Besetzung) entzogen; das
    Ich schafft sich selbstherrlich eine neue Außen- und Innenwelt
    und es ist kein Zweifel an zwei Tatsachen, daß diese neue Welt
    im Sinne der Wunschregungen des Es aufgebaut ist, und daß eine
    schwere, unerträglich erscheinende Wunschversagung der Realität
    das Motiv dieses Zerfalles mit der Außenwelt ist. Die innere
    Verwandtschaft dieser Psychose mit dem normalen Traum ist
    nicht zu verkennen. Die Bedingung des Träumens ist aber der
    Schlafzustand, zu dessen Charakteren die volle Abwendung von

    Wahrnehmung und Außenwelt gehört.

    Von anderen Formen von Psychose, den Schizophrenien, weiß
    man, daß sie zum Ausgang in affektiven Stumpfsinn, das heißt
    zum Verlust alles Anteiles an der Außenwelt tendieren. Über die
    Genese der Wahnbildungen haben uns einige Analysen gelehrt,
    daß der Wahn wie ein aufgesetzter Fleck dort gefunden wird,
    wo ursprünglich ein Einriß in der Beziehung des Ichs zur Außen-
    welt entstanden war. Wenn die Bedingung des Konflikts mit
    der Außenwelt nicht noch weit auffälliger ist, als wir sie jetzt
    erkennen, so hat dies seinen Grund in der Tatsache, daß im
    Krankheitsbild der Psychose die Erscheinungen des pathogenen
    Vorganges oft von denen eines Heilungs- oder Rekonstruktions-
    versuches überdeckt werden.

  • S.

    421

    Die gemeinsame Ätiologie für den Ausbruch einer Psycho-
    neurose oder Psychose bleibt immer die Versagung, die Nicht-
    erfüllung eines jener ewig unbezwungenen Kindheitswünsche,
    die so tief in unserer phylogenetisch bestimmten Organisation
    wurzeln. Diese Versagung ist im letzten Grunde immer eine
    äußere; im einzelnen Fall kann sie von jener inneren Instanz
    (im Über-Ich) ausgehen, welche die Vertretung der Realitäts-
    forderung übernommen hat. Der pathogene Effekt hängt nun
    davon ab, ob das Ich in solcher Konfliktspannung seiner Ab-
    hängigkeit von der Außenwelt treu bleibt und das Es zu knebeln
    versucht, oder ob es sich vom Es überwältigen und damit von
    der Realität losreißen läßt. Eine Komplikation wird in diese an-
    scheinend einfache Lage aber durch die Existenz des Über-Ichs
    eingetragen, welches in noch nicht durchschauter Verknüpfung
    Einflüsse aus dem Es wie aus der Außenwelt in sich vereinigt,
    gewissermaßen ein Idealvorbild für das ist, worauf alles Streben
    des Ichs abzielt, die Versöhnung seiner mehrfachen Abhängig-
    keiten. Das Verhalten des Über-Ichs wäre, was bisher nicht
    geschehen ist, bei allen Formen psychischer Erkrankung in
    Betracht zu ziehen. Wir können aber vorläufig postulieren, es
    muß auch Affektionen geben, denen ein Konflikt zwischen Ich
    und Über-Ich zugrunde liegt. Die Analyse gibt uns ein Recht
    anzunehmen, daß die Melancholie ein Muster dieser Gruppe ist,
    und dann würden wir für solche Störungen den Namen „narzißtische
    Psychoneurosen“ in Anspruch nehmen. Es stimmt ja nicht übel
    zu unseren Eindrücken, wenn wir Motive finden, Zustände wie
    die Melancholie von den anderen Psychosen zu sondern.
    Dann merken wir aber, daß wir unsere einfache genetische Formel
    vervollständigen konnten, ohne sie fallen zu lassen. Die Über-
    tragungsneurose entspricht dem Konflikt zwischen Ich und Es,
    die narzißtische Neurose dem zwischen Ich und Über-Ich, die
    Psychose dem zwischen Ich und Außenwelt. Wir wissen freilich
    zunächst nicht zu sagen, ob wir wirklich neue Einsichten gewonnen

  • S.

    422

    oder nur unseren Formelschatz bereichert haben, aber ich meine,
    diese Anwendungsmöglichkeit muß uns doch Mut machen, die
    vorgeschlagene Gliederung des seelischen Apparates in Ich,
    Über-Ich und Es weiter im Auge zu behalten.

    Die Behauptung, daß Neurosen und Psychosen durch die
    Konflikte des Ichs mit seinen verschiedenen herrschenden
    Instanzen entstehen, also einem Fehlschlagen in der Funktion
    des Ichs entsprechen, das doch das Bemühen zeigt, all die ver-
    schiedenen Ansprüche miteinander zu versöhnen, fordert eine
    andere Erörterung zu ihrer Ergänzung heraus. Man möchte
    wissen, unter welchen Umständen und durch welche Mittel es
    dem Ich gelingt, aus solchen gewiß immer vorhandenen Kon-
    flikten ohne Erkrankung zu entkommen. Dies ist nun ein neues
    Forschungsgebiet, auf dem sich gewiß die verschiedensten Faktoren
    zur Berücksichtigung einfinden werden. Zwei Momente lassen
    sich aber sofort herausheben. Der Ausgang aller solchen Situationen
    wird unzweifelhaft von ökonomischen Verhältnissen, von den
    relativen Größen der miteinander ringenden Strebungen abhängen.
    Und ferner: es wird dem Ich möglich sein, den Bruch nach
    irgendeiner Seite dadurch zu vermeiden, daß es sich selbst
    deformiert, sich Einbußen an seiner Einheitlichkeit gefallen läßt,
    eventuell sogar sich zerklüftet oder zerteilt. Damit rückten die
    Inkonsequenzen, Verschrobenheiten und Narrheiten der Menschen
    in ein ähnliches Licht wie ihre sexuellen Perversionen, durch
    deren Annahme sie sich ja Verdrängungen ersparen.

    Zum Schlusse ist der Frage zu gedenken, welches der einer
    Verdrängung analoge Mechanismus sein mag, durch den das Ich
    sich von der Außenwelt ablöst. Ich meine, dies ist ohne neue
    Untersuchungen nicht zu beantworten, aber er müßte, wie die
    Verdrängung, eine Abziehung der vom Ich ausgeschickten
    Besetzung zum Inhalt haben.