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[Metadaten zu den Personen, die zur Generierung dieses Textes beigetragen haben:
Christine Diercks: Konzept für die Edition und die Datenbank, Richtlinien, Quellenforschung, Signaturen
Julian Roedelius: technische Umsetzung der Datenbank
Arkadi Blatow: Quellenforschung, Digitalisierung der Datenquellen, Bildbearbeitung, Faksimile-Ausgabe, Bibliografie
Christine Diercks: Diplomatische Umschrift, Lektorat]
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NEUROSE UND PSYCHOSE
Zuerst erschienen in der „Internationalen Zeit-
schrift für Psychoanalyse“, X. Band (1924), Heft I.In meiner kürzlich erschienenen Schrift „Das Ich und das
Es“ habe ich eine Gliederung des seelischen Apparates angegeben,
auf deren Grund sich eine Reihe von Beziehungen in einfacher
und übersichtlicher Weise darstellen läßt. In anderen Punkten,
zum Beispiel was die Herkunft und Rolle des Über-Ichs betrifft,
bleibt genug des Dunkeln und Unerledigten. Man darf nun
fordern, daß eine solche Aufstellung sich auch für andere Dinge
als brauchbar und förderlich erweise, wäre es auch nur, um
bereits Bekanntes in neuer Auffassung zu sehen, es anders zu
gruppieren und überzeugender zu beschreiben. Mit solcher An-
wendung könnte auch eine vorteilhafte Rückkehr von der grauen
Theorie zur ewig grünenden Erfahrung verbunden sein.Am genannten Orte sind die vielfältigen Abhängigkeiten des
Ichs geschildert, seine Mittelstellung zwischen Außenwelt und Es u
nd sein Bestreben, all seinen Herren gleichzeitig zu Willen zu
sein. Im Zusammenhange eines von anderer Seite angeregten
Gedankenganges, der sich mit der Entstehung und Verhütung
der Psychosen beschäftigte, ergab sich mir nun eine einfache
Formel, welche die vielleicht wichtigste genetische Differenz
zwischen Neurose und Psychose behandelt: die Neurose sei
der Erfolg eines Konflikts zwischen dem Ich und
seinem Es, die Psychose aber der analoge Ausgang
einer solchen Störung in den Beziehungen zwischen
Ich und Außenwelt.S.
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Es ist sicherlich eine berechtigte Mahnung, daß man gegen so
einfache Problemlösungen mißtrauisch sein soll. Auch wird
unsere äußerste Erwartung nicht weiter gehen, als daß diese
Formel sich im Gröbsten als richtig erweise. Aber auch das wäre
schon etwas. Man besinnt sich auch sofort an eine ganze Reihe
von Einsichten und Funden, welche unseren Satz zu bekräftigen
scheinen. Die Übertragungsneurosen entstehen nach dem Ergebnis
aller unserer Analysen dadurch, daß das Ich eine im Es mächtige
Triebregung nicht aufnehmen und nicht zur motorischen Erledigung
befördern will, oder ihr das Objekt bestreitet, auf das sie zielt.
Das Ich erwehrt sich ihrer dann durch den Mechanismus der
Verdrängung; das Verdrängte sträubt sich gegen dieses Schicksal,
schafft sich auf Wegen, über die das Ich keine Macht hat, eine
Ersatzvertretung, die sich dem Ich auf dem Wege des Kompromisses
aufdrängt, das Symptom; das Ich findet seine Einheitlichkeit
durch diesen Eindringling bedroht und geschädigt, setzt den
Kampf gegen das Symptom fort, wie es sich gegen die ursprüngliche
Triebregung gewehrt hatte, und dies alles ergibt das Bild der
Neurose. Es ist kein Einwand, daß das Ich, wenn es die Ver-
drängung vornimmt, im Grunde den Geboten seines Über-Ichs
folgt, die wiederum solchen Einflüssen der realen Außenwelt
entstammen, welche im Über-Ich ihre Vertretung gefunden
haben. Es bleibt doch dabei, daß das Ich sich auf die Seite dieser
Mächte geschlagen hat, daß in ihm deren Anforderungen stärker
sind als die Triebansprüche des Es, und daß das Ich die Macht
ist, welche die Verdrängung gegen jenen Anteil des Es ins Werk
setzt und durch die Gegenbesetzung des Widerstandes befestigt.
Im Dienste des Über-Ichs und der Realität ist das Ich in Konflikt
mit dem Es geraten und dies ist der Sachverhalt bei allen
Übertragungsneurosen.Auf der anderen Seite wird es uns ebenso leicht, aus unserer
bisherigen Einsicht in den Mechanismus der Psychosen Beispiele
anzuführen, welche auf die Störung des Verhältnisses zwischenS.
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Ich und Außenwelt hinweisen. Bei der Amentia Meynerts,
der akuten halluzinatorischen Verworrenheit, der vielleicht extremsten
und frappantesten Form von Psychose, wird die Außenwelt
entweder gar nicht wahrgenommen oder ihre Wahrnehmung
bleibt völlig unwirksam Normalerweise beherrscht ja die Außen-
welt das Ich auf zwei Wegen: erstens durch die immer von
neuem möglichen aktuellen Wahrnehmungen, zweitens durch den
Erinnerungsschatz früherer Wahrnehmungen, die als „Innenwelt“
einen Besitz und Bestandteil des Ichs bilden. In der Amentia
wird nun nicht nur die Annahme neuer Wahrnehmungen verweigert,
es wird auch der Innenwelt, welche die Außenwelt als ihr
Abbild bisher vertrat, die Bedeutung (Besetzung) entzogen; das
Ich schafft sich selbstherrlich eine neue Außen- und Innenwelt
und es ist kein Zweifel an zwei Tatsachen, daß diese neue Welt
im Sinne der Wunschregungen des Es aufgebaut ist, und daß eine
schwere, unerträglich erscheinende Wunschversagung der Realität
das Motiv dieses Zerfalles mit der Außenwelt ist. Die innere
Verwandtschaft dieser Psychose mit dem normalen Traum ist
nicht zu verkennen. Die Bedingung des Träumens ist aber der
Schlafzustand, zu dessen Charakteren die volle Abwendung von
Wahrnehmung und Außenwelt gehört.Von anderen Formen von Psychose, den Schizophrenien, weiß
man, daß sie zum Ausgang in affektiven Stumpfsinn, das heißt
zum Verlust alles Anteiles an der Außenwelt tendieren. Über die
Genese der Wahnbildungen haben uns einige Analysen gelehrt,
daß der Wahn wie ein aufgesetzter Fleck dort gefunden wird,
wo ursprünglich ein Einriß in der Beziehung des Ichs zur Außen-
welt entstanden war. Wenn die Bedingung des Konflikts mit
der Außenwelt nicht noch weit auffälliger ist, als wir sie jetzt
erkennen, so hat dies seinen Grund in der Tatsache, daß im
Krankheitsbild der Psychose die Erscheinungen des pathogenen
Vorganges oft von denen eines Heilungs- oder Rekonstruktions-
versuches überdeckt werden.S.
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Die gemeinsame Ätiologie für den Ausbruch einer Psycho-
neurose oder Psychose bleibt immer die Versagung, die Nicht-
erfüllung eines jener ewig unbezwungenen Kindheitswünsche,
die so tief in unserer phylogenetisch bestimmten Organisation
wurzeln. Diese Versagung ist im letzten Grunde immer eine
äußere; im einzelnen Fall kann sie von jener inneren Instanz
(im Über-Ich) ausgehen, welche die Vertretung der Realitäts-
forderung übernommen hat. Der pathogene Effekt hängt nun
davon ab, ob das Ich in solcher Konfliktspannung seiner Ab-
hängigkeit von der Außenwelt treu bleibt und das Es zu knebeln
versucht, oder ob es sich vom Es überwältigen und damit von
der Realität losreißen läßt. Eine Komplikation wird in diese an-
scheinend einfache Lage aber durch die Existenz des Über-Ichs
eingetragen, welches in noch nicht durchschauter Verknüpfung
Einflüsse aus dem Es wie aus der Außenwelt in sich vereinigt,
gewissermaßen ein Idealvorbild für das ist, worauf alles Streben
des Ichs abzielt, die Versöhnung seiner mehrfachen Abhängig-
keiten. Das Verhalten des Über-Ichs wäre, was bisher nicht
geschehen ist, bei allen Formen psychischer Erkrankung in
Betracht zu ziehen. Wir können aber vorläufig postulieren, es
muß auch Affektionen geben, denen ein Konflikt zwischen Ich
und Über-Ich zugrunde liegt. Die Analyse gibt uns ein Recht
anzunehmen, daß die Melancholie ein Muster dieser Gruppe ist,
und dann würden wir für solche Störungen den Namen „narzißtische
Psychoneurosen“ in Anspruch nehmen. Es stimmt ja nicht übel
zu unseren Eindrücken, wenn wir Motive finden, Zustände wie
die Melancholie von den anderen Psychosen zu sondern.
Dann merken wir aber, daß wir unsere einfache genetische Formel
vervollständigen konnten, ohne sie fallen zu lassen. Die Über-
tragungsneurose entspricht dem Konflikt zwischen Ich und Es,
die narzißtische Neurose dem zwischen Ich und Über-Ich, die
Psychose dem zwischen Ich und Außenwelt. Wir wissen freilich
zunächst nicht zu sagen, ob wir wirklich neue Einsichten gewonnenS.
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oder nur unseren Formelschatz bereichert haben, aber ich meine,
diese Anwendungsmöglichkeit muß uns doch Mut machen, die
vorgeschlagene Gliederung des seelischen Apparates in Ich,
Über-Ich und Es weiter im Auge zu behalten.Die Behauptung, daß Neurosen und Psychosen durch die
Konflikte des Ichs mit seinen verschiedenen herrschenden
Instanzen entstehen, also einem Fehlschlagen in der Funktion
des Ichs entsprechen, das doch das Bemühen zeigt, all die ver-
schiedenen Ansprüche miteinander zu versöhnen, fordert eine
andere Erörterung zu ihrer Ergänzung heraus. Man möchte
wissen, unter welchen Umständen und durch welche Mittel es
dem Ich gelingt, aus solchen gewiß immer vorhandenen Kon-
flikten ohne Erkrankung zu entkommen. Dies ist nun ein neues
Forschungsgebiet, auf dem sich gewiß die verschiedensten Faktoren
zur Berücksichtigung einfinden werden. Zwei Momente lassen
sich aber sofort herausheben. Der Ausgang aller solchen Situationen
wird unzweifelhaft von ökonomischen Verhältnissen, von den
relativen Größen der miteinander ringenden Strebungen abhängen.
Und ferner: es wird dem Ich möglich sein, den Bruch nach
irgendeiner Seite dadurch zu vermeiden, daß es sich selbst
deformiert, sich Einbußen an seiner Einheitlichkeit gefallen läßt,
eventuell sogar sich zerklüftet oder zerteilt. Damit rückten die
Inkonsequenzen, Verschrobenheiten und Narrheiten der Menschen
in ein ähnliches Licht wie ihre sexuellen Perversionen, durch
deren Annahme sie sich ja Verdrängungen ersparen.Zum Schlusse ist der Frage zu gedenken, welches der einer
Verdrängung analoge Mechanismus sein mag, durch den das Ich
sich von der Außenwelt ablöst. Ich meine, dies ist ohne neue
Untersuchungen nicht zu beantworten, aber er müßte, wie die
Verdrängung, eine Abziehung der vom Ich ausgeschickten
Besetzung zum Inhalt haben.
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