S.
[Metadaten zu den Personen, die zur Generierung dieses Textes beigetragen haben:
Christine Diercks: Konzept, Richtlinien, Aufbau der Datenbank, Quellenforschung, Signaturen
Julian Roedelius: technische Umsetzung der Datenbank
Arkadi Blatow: Quellenforschung, Digitalisierung der Datenquellen, Bildbearbeitung, Faksimile-Ausgabe, Bibliografie
Christine Diercks: Diplomatische Umschrift, Lektorat]
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DER UNTERGANG DES ÖDIPUSKOMPLEXES
Zuerst erschienen in der „Internationalen Zeit-
schrift für Psychoanalyse“, X. Band (1924), Heft 3.Immer mehr enthüllt der Ödipuskomplex seine Bedeutung als das
zentrale Phänomen der frühkindlichen Sexualperiode. Dann geht
er unter, er erliegt der Verdrängung, wie wir sagen, und ihm folgt
die Latenzzeit. Es ist aber noch nicht klar geworden, woran er
zugrunde geht; die Analysen scheinen zu lehren: an den vor-
fallenden schmerzhaften Enttäuschungen. Das kleine Mädchen,
das sich für die bevorzugte Geliebte des Vaters halten will, muß
einmal eine harte Züchtigung durch den Vater erleben und sieht
sich aus allen Himmeln gestürzt. Der Knabe, der die Mutter
als sein Eigentum betrachtet, macht die Erfahrung, daß sie Liebe
und Sorgfalt von ihm weg auf einen neu Angekommenen richtet.
Die Überlegung vertieft den Wert dieser Einwirkungen, indem
sie betont, daß solche peinliche Erfahrungen, die dem Inhalt des
Komplex es widerstreiten, unvermeidlich sind. Auch wo nicht besondere
Ereignisse, wie die als Proben erwähnten, vorfallen, muß das
Ausbleiben der erhofften Befriedigung, die fortgesetzte Versagung
des gewünschten Kindes, es dahin bringen, daß sich der kleine
Verliebte von seiner hoffnungslosen Neigung abwendet. Der Ödipus-
komplex ginge so zugrunde an seinem Mißerfolg, dem Ergebnis
seiner inneren Unmöglichkeit.Eine andere Auffassung wird sagen, der Ödipuskomplex muß fallen,
weil die Zeit für seine Auflösung gekommen ist, wie die Milchzähne
ausfallen, wenn die definitiven nachrücken. Wenn der ÖdipuskomplexS.
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auch von den meisten Menschenkindern individuell durchlebt wird,
so ist er doch ein durch die Heredität bestimmtes, von ihr angelegtes
Phänomen, welches programmgemäß vergehen muß, wenn die
nächste vorherbestimmte Entwicklungsphase einsetzt. Es ist dann
ziemlich gleichgültig, auf welche Anlässe hin das geschieht, oder
ob solche überhaupt nicht ausfindig zu machen sind.Beiden Auffassungen kann man ihr Recht nicht abstreiten. Sie
vertragen sich aber auch miteinander; es bleibt Raum für die
ontogenetische neben der weiter schauenden phylogenetischen.
Auch dem ganzen Individuum ist es ja schon bei seiner Geburt
bestimmt zu sterben und seine Organanlage enthält vielleicht
bereits den Hinweis, woran. Doch bleibt es von Interesse zu
verfolgen, wie dies mitgebrachte Programm ausgeführt wird, in
welcher Weise zufällige Schädlichkeiten die Disposition ausnützen.Unser Sinn ist neuerlich für die Wahrnehmung geschärft
worden, daß die Sexualentwicklung des Kindes bis zu einer Phase
fortschreitet, in der das Genitale bereits die führende Rolle über-
nommen hat. Aber dies Genitale ist allein das männliche, genauer
bezeichnet der Penis, das weibliche ist unentdeckt geblieben.
Diese phallische Phase, gleichzeitig die des Ödipuskomplexes,
entwickelt sich nicht weiter zur endgültigen Genitalorganisation,
sondern sie versinkt und wird von der Latenzzeit abgelöst. Ihr
Ausgang vollzieht sich aber in typischer Weise und in Anlehnung
an regelmäßig wiederkehrende Geschehnisse.Wenn das (männliche) Kind sein Interesse dem Genitale
zugewendet hat, so verrät es dies auch durch ausgiebige manuelle
Beschäftigung mit demselben und muß dann die Erfahrung
machen, daß die Erwachsenen mit diesem Tun nicht einverstanden
sind. Es tritt mehr oder minder deutlich, mehr oder weniger
brutal, die Drohung auf, daß man ihn dieses von ihm hoch-
geschätzten Teiles berauben werde. Meist sind es Frauen, von
denen die Kastrationsdrohung ausgeht, häufig suchen sie ihre
Autorität dadurch zu verstärken, daß sie sich auf den Vater oderS.
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den Doktor berufen, der nach ihrer Versicherung die Strafe voll-
ziehen wird. In einer Anzahl von Fällen nehmen die Frauen
selbst eine symbolische Milderung der Androhung vor, indem sie
nicht die Beseitigung des eigentlich passiven Genitales, sondern
die der aktiv sündigenden Hand ankündigen. Ganz besonders
häufig geschieht es, daß das Knäblein nicht darum von der
Kastrationsdrohung betroffen wird, weil es mit der Hand am
Penis spielt, sondern weil es allnächtlich sein Lager näßt und
nicht rein zu bekommen ist. Die Pflegepersonen benehmen sich
so, als wäre diese nächtliche Inkontinenz Folge von und Beweis
für allzueifrige Beschäftigung mit dem Penis und haben wahr-
scheinlich Recht darin. Jedenfalls ist das andauernde Bettnässen
der Pollution des Erwachsenen gleichzustellen, ein Ausdruck der
nämlichen Genitalerregung, welche das Kind um diese Zeit zur
Masturbation gedrängt hat.Die Behauptung ist nun, daß die phallische Genitalorganisation
des Kindes an dieser Kastrationsdrohung zugrunde geht. Aller-
dings nicht sofort und nicht ohne daß weitere Einwirkungen
dazukommen. Denn der Knabe schenkt der Drohung zunächst
keinen Glauben und keinen Gehorsam. Die Psychoanalyse hat
neuerlichen Wert auf zweierlei Erfahrungen gelegt, die keinem
Kinde erspart bleiben und durch die es auf den Verlust wert-
geschätzter Körperteile vorbereitet sein sollte, auf die zunächst
zeitweilige, später einmal endgültige Entziehung der Mutterbrust
und auf die täglich erforderte Abtrennung des Darminhaltes.
Aber man merkt nichts davon, daß diese Erfahrungen beim
Anlaß der Kastrationsdrohung zur Wirkung kommen würden.
Erst nachdem eine neue Erfahrung gemacht worden ist, beginnt
das Kind mit der Möglichkeit einer Kastration zu rechnen, auch
dann nur zögernd, widerwillig und nicht ohne das Bemühen, die
Tragweite der eigenen Beobachtung zu verkleinern.Die Beobachtung, welche den Unglauben des Kindes endlich
bricht, ist die des weiblichen Genitales. Irgend einmal bekommtS.
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das auf seinen Penisbesitz stolze Kind die Genitalregion eines
kleinen Mädchens zu Gesicht und muß sich von dem Mangel
eines Penis bei einem ihm so ähnlichen Wesen überzeugen. Damit
ist auch der eigene Penisverlust vorstellbar geworden, die Kastrations-
drohung gelangt nachträglich zur Wirkung.Wir dürfen nicht so kurzsichtig sein wie die mit der Kastration
drohende Pflegeperson und sollen nicht übersehen, daß sich das
Sexualleben des Kindes um diese Zeit keineswegs in der Mastur-
bation erschöpft. Es steht nachweisbar in der Ödipuseinstellung
zu seinen Eltern, die Masturbation ist nur die genitale Abfuhr
der zum Komplex gehörigen Sexualerregung und wird dieser
Beziehung ihre Bedeutung für alle späteren Zeiten verdanken.
Der Ödipuskomplex bot dem Kinde zwei Möglichkeiten der
Befriedigung, eine aktive und eine passive. Es konnte sich in
männlicher Weise an die Stelle des Vaters setzen und wie er
mit der Mutter verkehren, wobei der Vater bald als Hindernis
empfunden wurde, oder es wollte die Mutter ersetzen und sich
vom Vater lieben lassen, wobei die Mutter überflüssig wurde.
Worin der befriedigende Liebesverkehr bestehe, darüber mochte
das Kind nur sehr unbestimmte Vorstellungen haben; gewiß
spielte aber der Penis dabei eine Rolle, denn dies bezeugten seine
Organgefühle. Zum Zweifel am Penis des Weibes war noch kein
Anlaß. Die Annahme der Kastrationsmöglichkeit, die Einsicht, daß
das Weib kastriert sei, machte nun beiden Möglichkeiten der
Befriedigung aus dem Ödipuskomplex ein Ende. Beide brachten
ja den Verlust des Penis mit sich, die eine, männliche, als Straf-
folge, die andere, weibliche, als Voraussetzung. Wenn die Liebes-
befriedigung auf dem Boden des Ödipuskomplexes den Penis
kosten soll, so muß es zum Konflikt zwischen dem narzißtischen
Interesse an diesem Körperteile und der libidinösen Besetzung
der elterlichen Objekte kommen. In diesem Konflikt siegt normaler-
weise die erstere Macht; das Ich des Kindes wendet sich vom
Ödipuskomplex ab.S.
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Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, in welcher Weise dies
vor sich geht. Die Objektbesetzungen werden aufgegeben und
durch Identifizierung ersetzt. Die ins Ich introjizierte Vater- oder
Elternautorität bildet dort den Kern des Über-Ichs, welches vom
Vater die Strenge entlehnt, sein Inzestverbot perpetuiert und so
das Ich gegen die Wiederkehr der libidinösen Objektbesetzung
versichert. Die dem Ödipuskomplex zugehörigen libidinösen
Strebungen werden zum Teil desexualisiert und sublimiert, was
wahrscheinlich bei jeder Umsetzung in Identifizierung geschieht,
zum Teil zielgehemmt und in zärtliche Regungen verwandelt.
Der ganze Prozeß hat einerseits das Genitale gerettet, die Gefahr
des Verlustes von ihm abgewendet, anderseits es lahmgelegt, seine
Funktion aufgehoben. Mit ihm setzt die Latenzzeit ein, die nun
die Sexualentwicklung des Kindes unterbricht.Ich sehe keinen Grund, der Abwendung des Ichs vom Ödipus-
komplex den Namen einer „Verdrängung“ zu versagen, obwohl
spätere Verdrängungen meist unter der Beteiligung des Über-Ichs
zustandekommen werden, welches hier erst gebildet wird. Aber
der beschriebene Prozeß ist mehr als eine Verdrängung, er kommt,
wenn ideal vollzogen, einer Zerstörung und Aufhebung des
Komplexes gleich. Es liegt nahe anzunehmen, daß wir hier auf
die niemals ganz scharfe Grenzscheide zwischen Normalem und
Pathologischem gestoßen sind. Wenn das Ich wirklich nicht viel
mehr als eine Verdrängung des Komplexes erreicht hat, dann
bleibt dieser im Es unbewußt bestehen und wird später seine
pathogene Wirkung äußern.Solche Zusammenhänge zwischen phallischer Organisation,
Ödipuskomplex, Kastrationsdrohung, Über-Ichbildung und Latenz-
periode läßt die analytische Beobachtung erkennen oder erraten.
Sie rechtfertigen den Satz, daß der Ödipuskomplex an der
Kastrationsdrohung zugrunde geht. Aber damit ist das Problem
nicht erledigt, es bleibt Raum für eine theoretische Spekulation,
welche das gewonnene Resultat umwerfen oder in ein neuesS.
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Licht rücken kann. Ehe wir aber diesen Weg beschreiten, müssen
wir uns einer Frage zuwenden, welche sich während unserer
bisherigen Erörterungen erhoben hat und so lange zur Seite
gedrängt wurde. Der beschriebene Vorgang bezieht sich, wie
ausdrücklich gesagt, nur auf das männliche Kind. Wie vollzieht
sich die entsprechende Entwicklung beim kleinen Mädchen?Unser Material wird hier – unverständlicherweise – weit
dunkler und lückenhafter. Auch das weibliche Geschlecht ent-
wickelt einen Ödipuskomplex, ein Über-Ich und eine Latenzzeit.
Kann man ihm auch eine phallische Organisation und einen
Kastrationskomplex zusprechen? Die Antwort lautet bejahend,
aber es kann nicht dasselbe sein wie beim Knaben. Die femi-
nistische Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter
trägt hier nicht weit, der morphologische Unterschied muß sich
in Verschiedenheiten der psychischen Entwicklung äußern. Die
Anatomie ist das Schicksal, um ein Wort Napoleons zu variieren.
Die Klitoris des Mädchens benimmt sich zunächst ganz wie ein
Penis, aber das Kind nimmt durch die Vergleichung mit einem
männlichen Gespielen wahr, daß es „zu kurz gekommen“ ist, und
empfindet diese Tatsache als Benachteiligung und Grund zur
Minderwertigkeit. Es tröstet sich noch eine Weile mit der
Erwartung, später, wenn es heranwächst, ein ebenso großes
Anhängsel wie ein Bub zu bekommen. Hier zweigt dann der
Männlichkeitskomplex des Weibes ab. Seinen aktuellen Mangel ver-
steht das weibliche Kind aber nicht als Geschlechtscharakter, sondern
erklärt ihn durch die Annahme, daß es früher einmal ein ebenso großes
Glied besessen und dann durch Kastration verloren hat. Es scheint
diesen Schluß nicht von sich auf andere, erwachsene Frauen aus-
zudehnen, sondern diesen, ganz im Sinne der phallischen Phase, ein
großes und vollständiges, also männliches, Genitale zuzumuten.
Es ergibt sich also der wesentliche Unterschied, daß das Mädchen
die Kastration als vollzogene Tatsache akzeptiert, während sich
der Knabe vor der Möglichkeit ihrer Vollziehung fürchtet.S.
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Mit der Ausschaltung der Kastrationsangst entfällt auch ein
mächtiges Motiv zur Aufrichtung des Über-Ichs und zum Abbruch
der infantilen Genitalorganisation. Diese Veränderungen scheinen
weit eher als beim Knaben Erfolg der Erziehung, der äußeren Ein-
schüchterung zu sein, die mit dem Verlust des Geliebtwerdens droht.
Der Ödipuskomplex des Mädchens ist weit eindeutiger als der des
kleinen Penisträgers, er geht nach meiner Erfahrung nur selten
über die Substituierung der Mutter und die feminine Einstellung
zum Vater hinaus. Der Verzicht auf den Penis wird nicht ohne
einen Versuch der Entschädigung vertragen. Das Mädchen gleitet
– man möchte sagen: längs einer symbolischen Gleichung –
vom Penis auf das Kind hinüber, sein Ödipuskomplex gipfelt in
dem lange festgehaltenen Wunsch, vom Vater ein Kind als
Geschenk zu erhalten, ihm ein Kind zu gebären. Man hat den
Eindruck, daß der Ödipuskomplex dann langsam verlassen wird,
weil dieser Wunsch sich nie erfüllt. Die beiden Wünsche nach
dem Besitz eines Penis und eines Kindes bleiben im Unbewußten
stark besetzt erhalten und helfen dazu, das weibliche Wesen für
seine spätere geschlechtliche Rolle bereit zu machen. Die
geringere Stärke des sadistischen Beitrages zum Sexualtrieb, die
man wohl mit der Verkümmerung des Penis zusammenbringen
darf, erleichtert die Verwandlung der direkt sexuellen Strebungen
in zielgehemmte zärtliche. Im ganzen muß man aber zugestehen,
daß unsere Einsichten in diese Entwicklungsvorgänge beim
Mädchen unbefriedigend, lücken- und schattenhaft sind.Ich zweifle nicht daran, daß die hier beschriebenen zeitlichen
und kausalen Beziehungen zwischen Ödipuskomplex, Sexual-
einschüchterung (Kastrationsdrohung), Über-Ichbildung und Eintritt
der Latenzzeit von typischer Art sind; ich will aber nicht
behaupten, daß dieser Typus der einzig mögliche ist. Abänderungen
in der Zeitfolge und in der Verkettung dieser Vorgänge müssen
für die Entwicklung des Individuums sehr bedeutungsvoll werden.S.
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Seit der Veröffentlichung von O. Ranks interessanter Studie
über das „Trauma der Geburt“ kann man auch das Resultat
dieser kleinen Untersuchung, der Ödipuskomplex des Knaben
gehe an der Kastrationsangst zugrunde, nicht ohne weitere Dis-
kussion hinnehmen. Es erscheint mir aber vorzeitig, heute in
diese Diskussion einzugehen, vielleicht auch unzweckmäßig, die
Kritik oder Würdigung der Rankschen Auffassung an solcher
Stelle zu beginnen.
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