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26. Pikrinsäure als Reagens für Eiweiss und Zucker im Urin.
Referat von Dr. Edgar G a n s in Karlsbad.
Herr Prof. George J o h n s o n in London hat mich ersucht, seine Methode der
quantitativen Bestimmung des Zuckers im Urin durch Pikrinsäure in deutscher
Sprache zu publiziren. Der mir in diesem Blatte zugemessene Raum erlaubt mir
leider nur, ein kurzes Referat zu erstatten, ich muss daher im Vorhinein in Bezug
auf viele Details vorläufig auf das Pharmaceutical-Journal verweisen, das in
seiner Nummer vom 9. Juni 1883 die Arbeit des berühmten Forschers enthält.
J. setzt zu 1 Drachme Zuckerlösung, welche 1 Gran Zucker auf 1 Unze
Flüssigkeit enthält, ½ Drachme KHO, 10 Tropfen einer saturirten Pikrinsäurelösung
und so viel destillirtes Wasser hinzu, dass er im Ganzen eine Mischung
von 4 Drachmen erhält. Letztere kocht J. in einer Eprouvette von 10 Zoll Länge
und ¾ Zoll Diameter, die für 2 und 4 Drachmen graduirt ist, bis die blassgelbe
Flüssigkeit ein schönes Bordeauxroth angenommen hat. Die also erhitzte Flüssigkeit
kühlt er vorsichtig ab, falls während des Kochens etwas verdampft ist,
ergänzt er es durch Zusatz von dest. Wasser wieder bis auf 4 Drachmen.
Die Farbe, welche die Flüssigkeit angenommen hat, entspricht der Um-
wandlung der Pikrinsäure in Pikraminsäure durch eine vierfach verdünnte
Zuckerlösung, welche 1 Gran Zucker auf 1 Unze Flüssigkeit enthält, oder
mit anderen Worten: die Farbe entspricht ¼ Gran Zucker per Unce.
Da nun die Farbe der Pikraminlösung nicht lichtbeständig ist, so bedient
sich J. einer Mischung von
Liq. ferri perchlor. fort. Ʒ j,
Liq. ammon. acet. Ʒ IV,
Acid. acet. glacial. Ʒ IV,
Aq. dest. ad. Ʒ II,
die, nach Angabe seines Sohnes G. S t i l l i n g f l e e t bereitet, genau jene
Farbe hat, die der Dekolorisation der Pikrinsäure durch ¼ Gran Zucker
per Unze entspricht. Und diese Eisenlösung nimmt J. als „Standard“ zur
Vergleichung.
Zur praktischen Ausführung seiner Methode hat J. ein „Picro-Saccharimeter“
angegeben, das aus 2 parallelen, durch ein Sförmig gekrümmtes Stück
Metall verbundenen Glasröhren besteht, welche durch eingeriebene Stöpsel
verschliessbar sind. Die eine Röhre – 12 Zoll lang, 1 Zoll im Durchmesser,
mit 1/10 und 1/100 Theilstrichen versehen – ist für die zu analysirende Flüssigkeit
bestimmt und steht in fester Verbindung mit einem Metallfusse. Die
andere Röhre – 6 Zoll lang und 1 Zoll im Durchmesser – dient zur Aufnahme
der Eisenlösung.
Wenn nun ein Diabetesurin analysirt werden soll, so mischt man 1
Drachme desselben mit ½ Drachme KHO, 10 Tropfen saturirter Pikrinlösung
und so viel dest. Wasser, bis man ein Gemisch von 4 Drachmen erhalten
hat, kocht etc., wie wir das oben beschrieben. Mit der erhaltenen dunkelrothen
Mischung füllt man die graduirte Röhre bis zum 10. Theilstriche
und fügt so viel dest. Wasser hinzu, bis die Farbe der Vergleichsflüssigkeit
(Eisenlösung) in der nebenan befindlichen Röhre erreicht ist.
Würde die Zuckerlösung, die wir vor dem Kochen 4 Mal verdünnten, die
Farbe des „Standard“ haben, ohne dass wir zu verdünnen brauchen, so würde
damit angezeigt sein, dass darin 1 Gran Zucker per Unze enthalten ist. Ist
aber eine Verdünnung nöthig, sagen wir vom 10. bis zum 20. Theilstriche,
so heisst das, es kommen 2 Gran Zucker auf die Unze. Oder wäre etwa eine
Verdünnung vom 10. bis zum 35. Theilstriche nöthig, so hiesse das, es kommen
3.5 Gran Zucker auf die Unze.
Interessant ist es, dass Herr Prof. J o h n s o n nur durch einen Zufall,
gelegentlich der Versuche, die er mit Pikrinsäure als Reagens auf Albumen
anstellte, diese auch als ein Reagens auf Traubenzucker kennen lernte, indem
er absichtslos zu einem mit KHO versetzten diabetischen Urin Pikrinsäurelösung
hinzuthat (Lancet, 18. Nov. 1882).
Wenngleich, wie sich später herausstellte, bereits im Jahre 1865 C. D.
B r a u n in der Zeitschr. für Chemie angegeben hatte, dass die gelbe Pikrinsäure
in einem mit KHO versetzten diabetischen Urin in die tiefrothe
Pikraminsäure umgewandelt wird und der Grad der Verfärbung im geraden
Verhältnisse zur Zuckermenge steht, so gebührt J o h n s o n jedenfalls
das Verdienst, die Pikrinsäure zum quali- und quantitativen Nachweise von
Traubenzucker im Urin zuerst für klinische Zwecke eingeführt zu haben.
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