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28. Eine hysterische Hemiplegie.
Von C h a r c o t (Prog. Méd. Nr. 11, 1884).
Ein 19jähriges Mädchen hatte vor 3 Jahren Scharlach überstanden, in der
Rekonvaleszenz traten Anfälle von Bewusstseinsverlust ohne Krämpfe auf,
an die sich beim Erwachen Globus hystericus und Weinkrampf knüpften. Die
Anfälle hielten etwa ein Jahr lang an, der Zustand war von Störungen der
Menstruation begleitet. Seither gesund.
Am 30. November 1883 heftiges Erschrecken im Schlafe durch das Herabfallen
eines über ihrem Bette angebrachten Brettes auf ihren Kopf. Keine
Zeichen von Kontusion. Am nächsten Tage Abends wurde sie in der Arbeit
plötzlich durch den Eintritt einer Lähmung der rechtsseitigen Extremitäten
unterbrochen. Dabei keinerlei zerebrale Erscheinungen, kein Schwindelgefühl,
Verworrenheit u. dgl. Die Lähmung des Beines ging in den nächsten
drei Tagen soweit zurück, dass Pat. beschwerlich gehen konnte. Die Lähmung
der rechten oberen Extremität schien bei der klinischen Vorstellung eine
komplete, zeigte jedoch bei näherer Untersuchung bemerkenswerthe Eigenthümlichkeiten.
Der Tonus war aufgehoben; am Triceps, an den Fingerbeu-
gern und an den Muskeln des Daumenballens war ein Rest von willkürlicher
Beweglichkeit erhalten, die Schulter- und Rumpfmuskeln zeigten bis auf den
Deltoides keine Betheiligung, die Gesichtsmuskeln, worauf C h . besonderes
Gewicht legte, waren ebenfalls nicht betheiligt. Die Reflexe an den unteren
Extremitäten waren nicht erhöht, auf der paretischen Seite [790] eher herabgesetzt,
es bestand eine vollständige sensible Lähmung des rechten Armes
und eine gleichmässige Herabsetzung aller Qualitäten der Empfindung auf
dem rechten Beine.
Nachdem C h . die Gründe auseinandergesetzt hatte, diese Hemiplegie
oder vielmehr brachio-crurale Monoplegie für hysterisch anzusehen, liess er
die rechte obere Extremität faradisiren; im Verlaufe weniger Minuten kehrte
die Sensibilität zurück und schwand die Lähmung, wie die Kranke dem Auditorium
durch ihren kräftigen Händedruck bewies. Die Parese des rechten
Beines wich, sich selbst überlassen, wenige Tage darauf.
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