Rezension [unsigniert] von: Löwenfeld ›Ueber den gegenwärthigen Stand der Therapie der chronischen Rückenmarkskrankheiten‹ 1884-244/1884
  • S.

    44. Ueber den gegenwärtigen Stand der Therapie
    der chronischen Rückenmarkskrankheiten.

    Von L ö w e n f e l d (Aerztl. Intelligenzbl., Sep.-Abdr., 1884).

    Als massgebend für die Ziele und Aussichten der Therapie bei Rückenmarkserkrankungen
    werden unsere Kenntnisse von der Fähigkeit des Organes,
    pathologische Veränderungen rückgängig zu machen, hingestellt.
    Blos molekulare Veränderungen des Nerven-

  • S.

    gewebes sind entschieden der Heilung fähig, obwohl in manchen Fällen (Neurasthenie) nur
    sehr schwer; strukturelle Veränderungen bieten viel geringere Chance der
    Restitution, und zwar scheint ein Verlust an Nervenfasern leichter zu ersetzen,
    als an Nervenzellen. Hohe Grade von Veränderung der Struktur sind
    unter gewissen Verhältnissen mit der Erhaltung der Funktion vereinbar:
    daraus ergibt sich für die Therapie der Hinweis, chronische Erkrankungen
    so früh als möglich in Behandlung zu nehmen, so lange wahrscheinlich
    nur molekulare, des Ausgleichs fähige Veränderungen bestehen. Auch bei
    entwickeltem Krankheitsbilde aber bleibt ein gewisses Maass von Besserung
    erreichbar, weil es neben den zerstörten Elementen stets eine Anzahl von
    mehr oder minder geschädigten gibt, deren Kräftigung angestrebt werden
    kann.

    Von den therapeutischen Methoden wird zunächst die Anwendung des
    Wassers besprochen. Die Erfahrung hat kalte See- und Flussbäder, Dampfund
    heisse Luftbäder, ebenso eingreifende hydriatische Prozeduren als
    schädlich erkannt, dagegen den lauen Bädern, Soolen, Thermen bis 26° R.,
    milden hydrotherapeutischen Massregeln eine grosse und zahlreiche Krankheitsformen
    deckende therapeutische Bedeutung zugewiesen. Ebenso wie
    allzu hohe und allzu niedrige Temperaturen ist lange Dauer des Bades als
    schädlich zu vermeiden. Lokale Anwendung der Kälte ist bei Rückenmarkserkrankungen
    mit Betheiligung der Meningen und der Wirbel, sowie bei den
    lanzinirenden Schmerzen der Tabiker von Nutzen.

    Als das wirksamste Heilmittel bei chronischen Rückenmarkserkrankungen
    wird die Elektrizität bezeichnet, deren Applikationsweisen ausführlich
    besprochen werden. Es wird empfohlen, die Dauer der einzelnen Sitzungen
    nicht unter 5 und nicht über 15 Minuten und die Stromstärke zwischen
    5–10 M. A. zu wählen. Auf die faradische Pinselung der Haut wird wegen
    des reflektorischen Einflusses auf das Rückenmark Werth gelegt. Von
    den neuerdings sehr in den Hintergrund gedrängten Derivantien wird die
    Anbringung von Pointes de feu bei Tabes und verschiedenen Formen von
    Meningitis empfohlen.

    Nach Bemerkungen über die arzneiliche Behandlung der chronischen texturellen
    Rückenmarkskrankheiten, die Verwerthung der Massage, Heilgymnastik, Beurtheilung der blutigen und unblutigen Dehnung etc., wird die Therapie der funktionellen Erkrankungen, insbesondere der Neurasthenia spinalis besprochen, und dabei die zentrale Galvanisation, allgemeine Faradisation und hydriatische Prozeduren als werthvoll hervorgehoben.