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Physiologie des centralen und sympathischen Nerven-
systemes.
L. Landois. Ueber die Eriregung typischer Krampfanfälle nach Behandlhung
des centralen Nervensystems mit chemischen Substanzen, mit besonderer
Berücksichtigung der Urämie (Wiener med. Presse, Nr. 7, 8, 9, 1887).
In der Absicht, den Mechanismus der urämischen Krämpfe auf-
zuklären, hat Lu. in einer grösseren Versuchsreihe bei Kaninchen frei-
gelegte Theile des Centralnervensystems in directe Berührung mit
versehiedenen chemischen Substanzen gebracht. Die, betreffende Sub-
stanz wurde dabei entweder in feingepulvertem Zustande in dünner
Schicht aufgetragen oder in verschieden concentrirter Lösung Ver
wendet. Er konnte durch solche Behandlung das Grosshirm in einen
Zustand versetzen, der in periodischen Zwischenräumen völlig typische
Krampfanfälle verursachte, während zwischen den Anfällen Ruhe
herrschte.
Brachte er solche chemisch reizende Substanzen (saures, phosphor-
saures Kalium, Kreatin, Kreatinin, Uralsedimente aus Menschenharn etc.)
auf eine vorher in der Aethernarkose freigelegte Grosshirnoberfläche
des Kaninchens, so entwickelte sich, meist nach wenigen Minuten,
ein Krampfanfall, welcher zuerst der Reihe nach die Kau-, Lippen-,
Nasen-, Augen- und Ohrmuskeln der gekreuzten Seite in klonische
Zusammenziehungen versetzte. Darauf folgten Kopfdrehung, Rumpf-
drehung und Krämpfe in der Vorderextremität; das Hinterbein wurde
seltener befallen. Bei stärkeren Anfällen zeigte sich dieselhe Folge
Von klonischen Zuckungen auch an der gleichnamigen Seite, aber stets
in geringerer Intensität. Athmung und Herzschlag blieben dabei un-
beeinträchtigt, die Empfindlichkeit der Haut erhalten. Solche Anfülle
wiederholen sieh nun nach einmaliger chemiseher Keizung der Gross-
hirnoberfiäche durch etwa zwei Tage in Pausen von mehreren Minuten.
Zuletzt treten sie seltener auf und sind unrollkommener ausgebildet.
Nach besonders starken_Aufällen zeigen die Thiere eigenthümlichbe
motorisehe Unruhe und Sehstörungen, indem sie meist_mit der un-
gleichnamigen Gesichtshälfte an Gegenstände anlaufen. Erregung des
Thieres beschleunigt den Ausbruch eines neuen Anfalles. Die Körper-
temperatur wird meist erhőht gefunden.
Bei beiderseitiger Application des chemischen Reizes auf* die
Grosshirnoberiläche verfallen die Thiere sofort in einen Zustand von
Apathie, später zeigen sie hochgradige motorische Unruhe, stärkere
Sehstörung und klonische Krämpfe auf beiden Seiten. Tetanische An-
fälle wurden von der Grosshirnoberflüche aus nicht erzeugt.
Bei Application des chemischen Reizes auf die freigelegte Medulla
oblongata tritt die Reizwirkung im Allgemeinen sehneller und heftiger,S.
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oft blitzschnell hervor. Es kommt zu allgemeinen tetanischen Krämpfen,
an welehe sich noch klonische Zuckungen anschliessen. Die Empfind-
lichkeit sinkt sehr bedeutend, Athmung und Herzschlag sind erheblich
beeinträchtigt, die Körpertemperatur kann nach einem Anfall erhöht
sein, sinkt aber im weiteren Verlaufe bedeutend unter die Norm. Im
Harn findet sich nach dem Anfall selten Eiweiss, häufiger reducirende
Substanz. Bei schwåcherer_ kReizung_zeigt sich zunăchst nur ein gewisser
Grad von spastischer Steitheit in den Bxtremitäten und Brhöhung der
Reflexthätigkeit. Insbesondere erwies sich die Auftragung von Harn-
stoff auf die Oblongata als ein solcher gering. wirkender Reiz.
Auch die durch Reizung der Oblongata erzeugten AnfAlle können
sich in nicht zu grossen Pausen periodisch wiederholen.
Bei chemischer Reizung der Oberfiläche des Bückenmarkes zeigte
Sich als nãchster Brfolg eine spastische Erschwerung in den Bewegungen
der Bxtremitäten und eine Erhöhung der Hautempfindlichkeit, so dass
das Thier schon bei mässigem Druck auf die Zehen laut und anhaltend
schreit. schreit. Auch spontan treten Bewegungen auf, welche auf ein Gefühl
von Irritation in der Haut deuten. In weiterer Folge Lahmung der
Motilität und Sensibilität in den hinter der bestrichenen Bückenmarks-
höhe liegenden Körpertheilen. Krämpfe mehr intermittirenden Charakters
wurden durch chemische Reizung des Rückenmarkes bei Fröschen
erzeugt.
Eine Analyse der Symptome des urämisehen Anfalles zeigt nach
Landois so bemerkenswerthe Uebereinstimmung mit den Folgen seiner
chemischen Grosshirnreizungen, dass er nicht ansteht, die Grosshirn-
rinde als den Ausgangsort der urämischen Krämpfe anzunehmen.
Weitere Mittheilungen sind in Aussicht gestellt. Sigm. Freud (Wien).
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