S.
Physiologie des centralen uud sympathischen Nervensystems,
M. Küokenthal und Th. Ziehen. Das Centralnervenayatem der
Cetacren (Aus den Denksebriften d. med.-naturwissenseh. Ges. zu
Jena IlI. B., 1889).
Die vorstehende. sebr sorgfiltige und inhaltsreiche Arbeit, welche,
vom Gehirne der Cetaceen ausgehend, vorwiegend die Homologisirung
der Windungsverhiltnisse der Oberfliche bei allen Plaeentariern fest-
zustellen versucht, bietet durch die Natur und Fülle von thatsächlichen
Angaben dem Referate eine schier unlösbare Aufgabe und nöthigt
Ref, sieh auf die Hervorhebung eiuzeluer besonders wichtiger Befunde
und Angaben zu beschränken.
Die Abhandlung. der zehn schöne- aber natîrlich zur Ver.
anschaulichung des Jnhalts nicht ausreichende -Tafeln beigegeben
sind, zerfillt in drei Hauptabschnitte. Der erste briugt die eigenen
Untersuchungen der Autoren an den Gebirnen von Hyperoodon und
Beluga, an welche sich eine Charakteristik des Cetaceengehirns im
Allgemeinen anschliesst (mit Berüeksiehtigung insbesondere der Arbeiten
Fon Guldberg). Ein zweiter Abschnitt fasst die Untersuchungen fiber
Ungulaten, Chelophoren. Pinnipedier und Carnivoren zusammen, und
ein dritter fübrt die Vergleichung des Centralnervensystems der
Cetaceen mit dem anderer Placentarier dureh.
L Das Centralnervensystem ron Hyperoodon rostratus.
Die äussere Contour des Gehirns ist annähernd kreisrund. Vomn
Cerebellum ist höchstens ein Fünftel bedeckt. Auf der Obertläche des
Vorderhirns lassen sich nur zwei Lappen unterscheiden: Stirnseheitel-
und Hinterbauptsehläfenlappen, welche aber nur in ihren basalen und
seitliehen Theilen dureh die Fossa Sylvii gesehieden sind. Die Gehirn-
furehen sind sehr zahlreieh. aber treten kaum zu priignanten Grup-
pirungen zusammen. Vielmehr erscheint die ganze Oberlache fast
gleichmässig gestückelt.
An der eonvexen Oberfläcbe werden drei grosse Bogenfurchen
besehrieben. welcbe vier Urwindungsbezirke abgrenzen. Erstens die
Fissura ectosylvia, die annähernd kreisförmig um das Ende der
S.
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Sylvi'schen Furche verläuft und die Gehirnbasis nicht erreicht; zweitens
die Fissura suprasylvia, die häufig gegabelt ist; drittens die Fissura
lat eralis, die nur 2 Centimeter vom Medianrand der Hemisphäre
diesem parallel läuft. Die vier Urwindungen sind: 1. Gyrus Sylvii
inferior um die Sylvi' sehe Grube gelegen, oben durch die Fissura
ectosylvia begrenzt; 2. Gyrus Sylvii superior zwischen letzterer und
der Fissura suprasylvia; 3. Gyrus suprasylvius, zwischen letzterer
Furehe und der Fissura lateralis; 4. Gyrus medialis und fornicatus,
der Complex zwischen Fissura lateralis und Fissura corporis callosi.
Dieser Gyrus liegt zum grösseren Theil auf der medialen Grosshirn
fäche. Bine Fissura splenialis schneidet den unteren, den Balken îber
deckenden Theil als Gyrus fornicatus ab.
An der Basalfläche findet man, von der Subst. perf. antica aus-
gebend, als vordere Begrenzung derselben eine Fas. circularis interna.
Vor derselben liegt, aus der Sylvi'schen Grube kommend, die ihr
parallele Fissura cireularis externa (oder rhinalis anterior). Als Fissura
rhinalis posterior_gilt das in den Haken des Schläfelappens einschnei-
dende Ende der Fissura splenialis. Ein Suleus olfactorius ist vorhanden,
ihm parallel läuft eine variable Fissura praesylvia, die bis auf die
Convexität reichen und dort einen dem Suleus cruciatus der Carni-
oren täuschend ähnlichen Einschnitt hervorrufen kann. Zur Insel
gelangt man durch die Verfolgung der Fissura circularis externa in
die Sylvi'sche Grube. Man fivdet fünf_ Gyri breves und zwei Ueber-
gangswindungen zum Stirn- und zum Schläfenlappen. Das Kleinhirn
zeigt Wurm und Hemisphären, reichliche Gliederung, auf die hier
Dicht einzugehen ist. An der Oblongata treten die unteren Oliven
sehr plastisch hervor.
Von denweiteren makroskopisch sichtbaren Verhältoissen ist
zu bemerken: Der N. olfactorius ist ausserordentlich schwach; der
Trigeminus bei seinem Ursprung deutlich in zwei Portionen geschieden;
der Acusticus durch besondere Stärke auffällig. Das Corpus striatum
ist sebr verkleinert, im Linsenkern sind Glieder nicht deutlich zu
unterseheiden, eine Commissura anterior scheint zu fehlen. Dagegen
ist der Thalamus opticus relativ sehr entwickelt, die Commissura
media (mollis) sehr breit. ie Vierhügel sind fast ebenso mächtig
als der Thalamus.
Die Autoren haben eine Reihe von Frontalschnitten durch den
Hirnstamm angelegt und mit Nigrosin gefärbt, um den Faserverlauf
im Gehirne von Hyperoodon zu studiren. Sie fanden die gro8sen
Leitungsbahnen, die aus der menschlicben Anatomie bekannt sind,
hier im Wesentlichen wieder; entscheidende Beiträge zur Lösung der
dort schwebenden Fragen konnten sie nicht liefern. Von Besonder
heiten des Faserverlaufes bei Hyperoodon heben sie hervor: 1. Die,
Pyramidenbahn ist deutlich vorhanden, jedoch wenig mächtig, sie
betragt kaum ein Dreissigstel des Gesammtquerschnittes des Stammes.
Weitaus ihr_grösster Theil gelangt in die contralateralen Seiten-
strange; 2. Vorderstranggrundbündel und Seitenstrangreste sind sehr
stark entwickelt; 3. eine directe Kleinhirnseitenstrangbahn ist vor-
handen; 4. die Goll'sehen Stränge, Olivenzwischenschicht und mediale
Sehleife sind sebr schwach entwickelt; 5. die Burdach'schen Stränge,S.
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das Corpus restiforme und namentlich die Brückenarme sind stark
entwickelt; 6. die untere Olive ist ungefāltelt und stellt einen fast
Compacten Ganglienzellenkörper dar. Sie ist stark der Raphe genähert:
7. Corpus restiforme und aufsteigende Trigeminuswurzel sind dureh
das Acusticusfeld stark ventralwärts gedrängt; 8. die Bindearme sind
eher schwach entwickelt; 9. der Hypoglossus verläuft lateral von
der grossen Olive; 10. der Abdubenskern liegt auffillig weit ventral;
11. das Corpus trapezoides ist ziemlich mächtig, desgleichen die
Oliva superior; 12. die Substantia nigra ist ausserordentlich māchtig,
ebenso die Bahnen des Hirnsehenkelfusses mit Ausnahme der Pyra
midenbahn.
Ein Theil der beobachteten Eigenthümlichkeiten des Gehirn-
baues bei Hyperoodon ist ohneweiteres physiologisch verständlich.
So entspricht die Kleinheit des Corpus striatum, das Fehlen der Com-
missura anterior der Verkümmerung des Olfactorius. die geringe Bnt
wickelung von Goll'schem Kern und medialer Schleife (und Binde
arm?) der Umbildung der Extremitäten, die mächtige Entwickelang
von oberer Olive, Corpus trapezoides und hinterem Vierhûgel. der
massigen Entwickelung des Acusticus, welche gerade bei den Cetaceen
wohl nicht seiner Hörfunction wegen - suftritt und schon ro
Spitzka bemerkt wurde. Vom Verlaufe des Ácusticus sagen die Autorea
aus, dass die grosse Masse seiner Hörfasern obne Zellenunterbrechung
zum Corpus geniculatum int. zieht, dass ein Theil der Vestibularíasero
ins Kleinbirn elangt und dass nur für den sogenannten vorderen
Kern ein Zusammenhang mit Acustiensfasern wahrseheinlich ist.
Die Spinalganglien der aufeinanderfolgenden hinteren Wurzeln
steben durch dieke Faserstränge miteinander in Verbindung, in welche
selbst einzelne hintere Wurzeln einmûnden. Die Halsansehwellung 1s
gegen das übrige (Cervicalmark wenig ausgezeichnet. Die Grosshirn
rinde ist vierschichtig gebaut. Die erste Schicht enthält ein reiehes
Netz von Tangentialfasern und wenige Nervenzellen, die zweite Sehicbt
ist ebenfalls noch zellenarm und entbält keine Pyramiden. die dritte
Sehicbt führt die grossen Pyramiden, deren Fortsätze weit zwisehen
die Zellen der zweiten hineidragen. Die vierte Schicht ist die der
Körnerzellen, die Markleiste ist relatv schma, Zellen, ähnlich denes
der vierten Sehicht, erstrecken sich weit in sie binein. Die Hypophrsa
besteht aus einem zelligen (drüsigen) und einem nervösen Lappen.
Ref. übergeht die Darstellung des Gehirnbaues von Belugs
leucas, welche wenig Abweichendes ergibt, und wendet sich zum
Zweiten Abschnitt der Vergleichung der Cetaceengebirne untereioander.
Aus den in diesem Abschnitt enthaltenen Daten folgt nachstehende
allgemeine Charakteristik des Cetaceengehirns.
Die äusseren Contouren bilden ein Sechseck oder einen Kreis
Das absolute Hirngewicht schwankt zwischen 455 und 4700 Grama,
das relative zwischen /3a und 1/2s00. Ein Drittel bis ein Füoftel des
Kleinbirns wird vom Grosshirn bedeckt. Das Verhältniss des Klein
hirngewichts zu dem des Grosshirns ist wie 1:3 bis 1:4s
Corpus trapezoides liegt nur. bei Beluga frei. Die grossen Oliren
treten bei einigen Arten an der Oberfläche hervor, bei anderen nieht
Die Fissura Sylvii ist seheinbar dreiästig. Die drei Theile der FissuraS.
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ectosylvia sind im Allgemeinen zu einer verschmolzen. Die Fissura
8uprasylvia verlauft sehr unregelmässig Die Fissura lateralis communi
cirt wohl mit der Fissura coronalis, oft anch mit der Fissura supra-
sylvia. Die Fissura ectolateralis ist nur bei Belug& constant. Die Fissura
rhinalis anterior communicirt stets mit dem Ramus anterior der Fissura
sylvii, die Fissura rhinalis post. ist meist mit der Fissura splenialis
verbunden, die Fissura olfactoria fehlt bei Phoca, bei den anderen
communicirt sie mit der Fissura rhinalis anterior. Ein Suleus circularis
externus wie internus kommt allen Walen zu. Der Wurm des Kein-
hirns ist (ausser bei Balaenoptera) scharf gegen die Hemisphären ab-
gesetzt, der Arbor vitae zeigt 7 bis 10 Hauptäste. Der Olfactorius
feblt bei den Delhphiniden. Die Sebenkel des Chiasma n. o. weichen
in sehr gestrecktem Winkel auseinander. Eine Portio Wrisbergú scheintt
bei allen Walen Forzukommen. Der Acusticus ist durehgängig stark
entwickelt. Der Balken hat ein Länge von 6 bis 8/, Centimeter. Die
hinteren Vierhügel sind besonders stark. entwickelt, die Thalami
optici durch øine sehr breite Commissura mollis verbunden, der Tha
lamus ist gegenüber dem immer schwach entwickelten Corpus striatum
mächtig, gegenüber den Vierhügeln als klein zu bezeichnen.
dem Gehirne anderer Placentarier, entzieht sich einer auszugsweisen Der folgende Abscboitt, Vergleichung des Cetaceengehirns mit
Darstellung, dagegen verdient die ,Feststellung der Homologien der
Grosshirnfurchen eingehendere Besprechung. Die physiologische
Dignität der Hirnfurchung als solcher ist noch strittig, ür die Einen
haben die Furchen die Bedeutung von Nährschlitzen, Andere sehen
die Furchung als einen Ausweg der Natur an, die Hirnoberfäche
obne Zunahme des Hirnvolumens zu vergrössern; Andere noch bringen
sie in Beziehung zu gewissen Knotenpunkten des Wachsthums, zur
Configuration des Sehädels und endlich zur Localisation der Funetionen
auf der Grossbirnrinde. Die Principien, auf Grund deren man die
Furehen homologisirt, dûrfen aber zunächst nicht physiologische sein,
weil die experimentelle Pathologie gezeigt hat, dass physiologisch
homologe Rindenstellen, z. B. beim Menschen und beim Hunde, gegen
die Furchen und Wiadungen der Gehirnoberfläche ganz verschieden
situirt sind. Die Antwort suf die Frage, wann zwei Furchen homolog
sind, muss also wesentlich morphologisch ausfallen. Ein rein ent-
wickelungsgeschichtlicher Standpunkt ist gleichfalls zu verwerfen; die
Homologisirung der Furchen nach der Reihentolge der Entwickelung
warde die gleich gelegenen auseinanderbringen, und die entfern-
testen zusammenstellen. Die Blutgefässe bieten keinen Anhalt, denn
sie folgen bald den Furchen, bald kreuzen sie dieselben senkrecht
(Hund), ferner wechselt der Verlauf der Blutgefässe bei einer und
derselben Species, und vor Allem wird auf diese Weise die ganze
Frage nach der Homologie blos verschoben.
Es bleibt also nur die Aehnlichkeit der Lage als Hauptgrund
für die Annahme einer Homologie. Von vorneherein muss man dabei
die Leuret'sche Annahme ablehnen, welche die F'urchung auf den
Typus mehrerer paralleler Bogen zurûckführen will. Vielmehr muss
jeder Versuch einer Homologisirung von der Thatsache ausgehen,
dass im Laufe der Gehirnentwickelung durch verminderte Wachs-S.
630 Centralblatt für Physiologie. Ar. 23,
thumsenergie an einer Stelle eine Fossa Sylvia entsteht, und es sind
diejenigen Furchen als homolog zu betrachten, welche die gleiehe
Lage zur Fossa Sylvii haben. Nur lässt sich dieses Princip_nicht mit
aller Strenge durchführen, man muss eine Reihe von Variations-
gesetzen für die Furchen gelten lassen, die im Nachstehenden auf-
geführt werden:
Erstes Variationsgesetz. Eine Furche kann in ihrem Yer-
laufe ein- oder mehrmals unterbrochen werden. Seltener gilt die ln-
kehrung: Eine Brücké, die eine Furche ron einer anderen ihr parallelen
trennt. kann verschwinden.
Zweites Gesetz. Bei grösseren Gehirnen kann eine Furebe
in einem Theil ihres Verlaufes oder in ihrer ganzen Lange begleitet
werden von einer Parallelfurche.
Drittes Gesetz. Jede Furche kann sich verlängern, wobei die
Richtung der Verlängerung durch die Nachbarfurche bestimmt wird
In der Regel wird dabei das Einmünden einer Furche in die andere
vermieden.
Viertes Gesetz. Nebenäste sind im Allgemeinen für die Con
figuration der Gehirnoberfläche gleicbgiltig.
Mit Zubilfenabme dieser Variationsgesetze geben die Autoren
nun folgende Deutung für die Furchung im Gebiet des Sylvi'sehea
Lappens. Eine Fossa Sylvii ist bei allen von íhnen behandelten Ord-
nungen zugegen, eine Fissura sylvia nur dort, wo Stirn- und Schentel-
lappen einerseits, Schläfenlappen andererseits die Insel überwallen. Bei
den Thieren, bei welchen die Ueberwallung des Seheitel- und des
Stirnlappens auch getrennt stattfindet, zeigt die Fissura Sylvii zwei
Aeste (Primaten), den Ramus medius und den Bamus posterior.
Bei den anderen Ordaungen besteht letzterer allein. Wenn die
überwallenden Stirnscheitel- und Schläfenmündungen nur in ihrem
oberen Theile zusammenstossen, so scheint sich die Fissura Sylni
nach unten zu gabeln. Die beiden Gabeläste sind am besten as
Ramus inferior anterior und posterior zu bezeichnen, zwischen ihnen
liegt ein Theil der Insel frei. Dieses Verhältniss ist bei den Ungulaten
am schönsten zu sehen. Eine Fissura circularis externa, wie sie bei
den Walen in classischer Reinheit zu sehen ist, stellt die erste Bogen-
furche dar. Beim Menschen entsprechen ihr die drei Burdach'schen
Spalten.
Als Fissura rhinalis anterior ist zu definiren die laterale Grens
farche des Trigonum olfactorium. Dieselbe ist im Allgemeinen de
hintere Begrenzung der Insel. Die Fissura rhinalis posterior ist definirt
als die laterale Grenzfurcthe des sogenannten Lobus pyriformis; se
entspringt aus der Fissura splenialis und liegt mit ihrem vorderen
Ende in der Sylvi'schen Grube. Die Fissura praesylvia läuft typiseh
in der Verlängerung der Fissura circularis externa. Auf dieses an das
Gehirn der Wale angelehnte Sehema werden nun die Furchungsrer-
hältnisse dieser Region bei den anderen Säugern zurûckgeführt.
Aus der Darstellung der Homologisirung für die anderen Furcben,
der das Referat im Einzelnen nicht folgen kapn, sei nur noch hervor
gehoben, dass die Fissura ectosylvia schon früher als bei den Primalen
versehwendet, dass das Homologon der Fissura suprasylvii beimS.
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