Über Deckerinnerungen 1899-001/1925
  • S.

    ÜBER DECKERINNERUNGEN

    Zuerst nachim in a„ „Mnmflmhnfl fiir
    Pijchiaryin und Nmmlogv'z“, r599‚

    Im Zusammenhangen meiner psychoanalyrischen Behandlungen
    (hei Hysterie7 Zwangsneurosc u, n,) hin ich oftmals in die Lage
    gekommen, mich urn die Bruchstücke von Erinnerungen zu be—
    kümmernY die den einzelnen aus den ersten Jahren ihrer Kind-
    heit im Gedächtnisse geblieben sind. Wie ich schon an anderer
    Stelle angedeutet habe, muß man für die Eindrücke dieser Lebens-
    zeit eine große puthngene Bedeutung in Anspruch nehmen. Ein
    psycholop'sches Interesse aber ist dem Thema der Kindheiw
    Erinnerungen in allen Fällen gesichert, weil hier eine funda-
    mentale Verschiedenheii. zwischen dem psychischen Verhs1ten des
    Kindes und des Erwachsenen auffällig zutage tritt. Es bezweifelt
    niemand, daß die Erlebnisse unserer ersten Kinderjaln-e unver-
    1u'schhare Spuren in unserem Seeleninnern zurückgelassen haben;
    wenn wir aber unser Gedächtnis befragen, welches die Ein-
    drücke sind, unter deren Einwirkung bis an unser Lebensende zu
    stehen uns bestimmt ist, so liefert es entweder nichts oder eine
    relativ kleine Zahl vereinzelt stehender Erinnerungen vnn oft frag-
    wiirdigexn oder rätsellnftem Wert. Daß das Leben vom Gedächtnis
    als zusammenhängende Kette von Begebenheiten reproduziert wird,
    kommt nicht vor dem secth oder siehenten, bei vielen em

    7rentt :.

    un

  • S.

    465 Fn'i}u Arbeiten. zur I\imrurznklrm

    nach dem zehnten Lebensjahr zustande. Vun du ein slelll sich aber
    auch eine konstante Beziehung zwisehen der psychischen Bedeutung
    eine; Erlebnisse; und dessen Heften im Gedächtnis her. Was ver-
    möge seiner unmittelhnren oder bald nachher erfolgten Wir-
    kungen wieheig erseheint, das wird gemerkt; das für unwesent-
    lich Erachbete wird vergessen. Wenn ich mich an eine Ile-gehen»
    heit über lange Zeit hin erinnern kann, so finde ich in der Tat»
    sache dieser Erhaltung im Gedächtnisse einen Beweis dafür, daß
    dieselbe mir damals einen tiefen Eindruck gemacht hat. Ich pflege
    mieh zu wundern, wenn ich etwas Wichtiges vergessen, noch
    mehr vielleicht„ wenn ich etwas scheinbar Gleichgülliges bewahrt
    haben sollte

    Erst in gewissen pnl_hologischeu Seelenzuständen wird die fiir
    den normalen Erwachsenen gültige Beziehung zwischen psychi—
    scher Wichtigkeit und Gedächtnishaftnng eines Eindruckes wieder
    gelöst, Der Hysterische z. B, erweist sich regelmäßig als amnestisch
    für das Ganze oder einen Teil jener Erlebnisse, die zum Aus
    brach seiner Leiden geführt haben, und die (loch durch diese
    Verursnehung fiir ihn hedeutsam geworden sind oder es auch ab—
    gesehen davon, nach ihrem eigenen Inhalt, sein mögen. Die Anne
    logie dieser pathologischen Amnesie mit der normalen Amnesie für
    unsere Kindheilsjahre möchte ich als einen wertvollen Hinweis
    auf die intimen Beziehungen zwischen dem psychischen Inhalt
    der Neurose und unserem Kinderleben ansehen.

    Wir sind so sehr en diese Erinnemngslosigkeit der Kinder-
    eindrücke gewöhnt, daß wir das Problem zu verkennen pflegen,
    welches sich hinter ihr verhirgi‚ und geneigt sind, sie als sellst-
    veis!ändlinh aus dern mdimentären Zustand der seelischen Tätig
    keiten heim Kinde ahzuleinen. In Wirklichkeit zeigt uns das
    normal enlwickelte Kind schon im Alter von drei bis vier Jahren
    eine Unsumrne hoch zusammengesetzcer Seelenleistungen in seinen
    Vergleichungen, Schlußfnlgenmgen und im Ausdruck seiner Gefühle,
    und es ist nicht nlme weiteres einzusehen, daß für diese, den

  • S.

    Über Deckerr‘nnemngrn 467

    späteren su voll gleiehwerfigen, psychischen Akte Amnesie be-
    stehen muß.

    Eine unerläßliche Vorheriingung für die Bearbeitung jener
    psychologischen Probleme, die sich an die elsleu Kindheitserinne-
    rungen knüpfen, wäre nariirlich die Sammlung von Material,
    indem man durch Umfrage fesesrellr, was für Erinnerungen uns
    dieser Lebenszeit eine größere Anzahl vun normalen Erwachsenen
    mitzuteilen vermag, Einen ersten Schritt nach dieser Richtung
    haben v. und c. Henri „395 durch Verhreiiung eines von
    ihnen anfgäetzten Fragcbugans getan; che überaus enregenden Er-
    gebnisse dieser Umfrage, auf welche von hundemireiundzwanzig
    Personen Antworten einliefen, wurden dann van den beiden Autoren
    1897 in L‘nnnée psychologiun T, 111 veröffenilicht. (Enquéte sur
    les premiers Souvenirs de l'enfance.) Du mir uber gegenwärtig die
    Absicht ferne liegt, das Thema in seiner Vollständigkeit zu behandeln,
    werde ich mich mit der Hervorhebung jener wenigen Punlne
    begnügen‚ vun denen aus ich zur Einführung der von mir su ge-
    nannten „Deckerinnerungen“ gelangen kann,

    Das Lebensalter, in welches der Inhalt der frühesten Kindheihs»
    Erinnerung verlegt wird, isL meisL die Zeit. zwischen zwei und
    vier Jahren (so hei achtundachtzig Persnnen in der Beobachtung?-
    reihe der Henri). Es gibt aber einzelne, deren Gedächtnis weiter
    zurückmicht, selbst bis in das Alter vor dem vollendeten ersten
    Jahr, und anderseiis Personen, bei denen die früheste Erinnerung
    erst aus dem sechsten, siebenten, ja achten Jahre stammt. Wumil
    diese individuellen Verschiedenheiten sonst Zusammenhängen, läßt
    sich vorläufig nicht angehen, man hernerlrr aber, sagen die Henri,
    daß eine Person, deren früheste Erinnerung in ein sehr zarte;
    Alber fällt, etwa ins erste Lebensjahr, auch über weitere einzelne
    Erinnerungen aus den nächsten Jahren verfügt, und daß die Repriy
    duktion des Erlebens als fortlaufende Erinnerungskette bei ihr von
    einem früheren Termin — etwa vom fünften Jahre an — anhebt.
    als bei anderen, deren erste Erinnerung in eine spätere Zeit iä]lt.

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  • S.

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    iss Früh; Arbeiten zur Nmmsznlehrz

    Es ist also nicht nur der Zeitpunkt für das Auftreten einer erswn
    Erinnerung, sondern die ganze Funkl.ion des Erinnerns bei einzelnen
    Personen vei+riiht oder verspätet.

    Ein ganz besonderes Interesse wird sich der Frage zuwenden,
    welches der Inhalt dieser frühesten Kindheitserinnerungen zu
    sein pflegt. Aus der Psychologie der Erwachsenen müßte man die
    Erwartung heriihernehrncn, daß aus dem Stoff des Erichton solche
    Eindrücke als merkenswert ausgewählt werden, welehe einen
    mächtigen Aflekt hervorgerufen haben nder durch ihre Folgen
    bald nachher als bedeutsam erkannt worden sind. Ein Teil der
    von den Henri gesammelten Erfahrungen scheint diese Erwar-
    tung auch zu bestätigen, denn sie führen als die häufigsten Inhalte
    der ersten Kindheilserinnemngen eineßeil.s Anlässe zu Furcht,
    Besehärnung, Körperschmeuen u. dgl., anderseits wichtige Begehen
    heiten wie Krankheiten, Todesfälle, Brände, Geburt von ng
    sehwistern usw. su£ Man würde so geneigt anzunehmen, daß das
    Prinzip der Godiichmisauswahl für die Kindersaele das nämliche
    sei wie für die Erwachsenen. Es ist nicht unversläncllich, aber
    doch ausdrücklicher Erwähnung wen.‚ daß die erhaltenen Kind-
    heitserinnerungen ein Zeugnis dafiir ablegen müssen, auf welehe
    Eindrücke sich das Interesse des Kindes zum Unterschiede von dem
    des Erwachsenen gerichtet hat. So erklärt es sich dann leicht, daß
    7.. B. eine Persnn mitteilt, sie erinnere sich aus dem Alter von
    zwei Jahren an versehiedene Unfälle, die ihren Puppen zugeswßen
    sind, sei aber amneslisch für die ernslen und traurigen Ereig
    nisse, die sie damals hätte wahrnehmen können.

    Es steht nun im schärfsten Gegensatz zu jener Erwaang und
    muß gerechtes Befr-emden hervorrufen, wenn wir hören, daß bei
    manchen Personen die frühesten Kindheilscrinnenmgen alltägliche
    und gleichgültige Eindrücke zum Inhalt haben, die beim Erleben
    eine Afiektwirkung auch auf das Kind nicht entfallen konnten, und
    die doch mit allen Details —— man möchte sagen: überscharf —
    gemerkt werden sind, während etwa gleichzeitige Ereignisse

  • S.

    Über Decksn‘nnerungzn 459

    nicht im Gedächtnis behalten wurden, selbst wenn sie nach dem
    Zeugnis der Eltern seinerzeit das Kind intensiv ergriffen hatten.
    So erzählen Henri von einem Professor der Philologie, dessen
    i'rühäte Erinnerung, in die Zeit mischen drei und vier Jahren
    verlegt, ihm das Bild eines gedeckten Tisches zeigte, auf dem eine
    Schüsel mit Eis steht. In dieselbe Zeit fällt. auch der Tod seiner
    Großmutter, der das Kind nach der Aussage seiner Eltern sehr
    erschüttert hat. Der nunmehr-ig: meenror der Philologie weiß
    aber nichts von diesem Todesfall, er erinnert sich aus dieser Zeit
    nur an eine Schüssel mit Eis.

    Ein anderer berichtet als erste Kindheitserinnerung eine Episode
    von einem Spaziergang, auf dem er von einem Baum einen Ast
    abhrar.h. Er glaubt noch heute angehen zu können, an welchem
    Ort das vorfiel, F: waren nehme Personen mit dabei, und eine
    leistete ihm Hilfe.

    Henri bezeichnen solche Fälle als seinen vorkommende; nach
    meinen —— allerdings zumeist bei Neurut.ikern gesammelten ——
    Erfahrungen sind äe häufig genug. Eine der Gewährspersonen
    der Henri hat. einen Erklärungsvelsuch für diese ob ihrer Hm—
    losigkm't unhegreiflichen Erinnerungsbihler gewagt, dm ich für
    ganz zutreffend erklären muß. Er meint, ee sei in solchen Fällen
    die ben-eifeude Szene vielleicht nur unvollständig in der Erinne—
    mng erhalten; gerade darum erscheint sie nichtssagend; in den
    vergessenen Bestandteilen wäre wohl all der enthalten, was den
    Eindruck merkenswert machte. Ich kann bestätigen, daß dies
    sich wirklich so verhält; nur würde ich es vorziehen, nnstatt
    „vergessene Elemente des Erlebnisses“ „weggdassene“ zu sagen.
    Es ist mit oftmals gelungen, durch psyohoanalyrische Behandlung
    die fehlenden Stücke des Kindererlebnises aufzudecken und so
    den Nachweis zu führen, daß der Eindruck, von dem ein Torso
    in der Erinnerung verblieben war, nach seiner Ergänzung wirk-
    lich der Voraussetzung von der Gedächtniserhultung des Wichtigsten
    entsprach. Damit ist eine Erklärung für die sonderbare Auswahl,

  • S.

    „n Frühe Arbeiten zur vannlchre

    welche das Gedächtnis unter den Elementgn eines Erlebnisses
    nifli, allerdings nicht gegeben; man muß sich erst. fragen, Warum
    gerade das Bedeutsnme unterdrückt, das Gleichgültige erhalten
    wird. Zu einer Erklärung gelangt man am, wenn man tiefer in
    den Mechanismus solcher Vorgänge eindringt; man bildet sich
    dann die Vorstellung, daß zwei psychische Kräfte an dem zii;
    standeknmmen dieser Erinnerungen beteiligt sind, von denen die
    eine die Wichtigkeit des Erlebnisses zum Motiv nimmt, es erinnern
    zu wollen7 die andere aber — ein Widerstand —— dieser Aus-
    zeichnung vvidersuebt. Die beiden entgegengesetzt wirkenden
    Kräfte haben einander nicht auf; es kommt nicht dazu, daß das
    eine Motiv das andere ——— mit oder ohne Einbuße — überwältigt,
    sondern es kommt eine Kompromißwirkung zustande, etwa analog
    der Bildung einer Resultierenden im Kräfteparallelogrninrn. Das
    Knrupromiß beshehl hier darin, daß zwar nicht. das betreflende
    Erlebnis selbst das Erinneningshild nbgibt ——— hieriu behält der
    Widmud recht ‚ wahl aber ein anderes psychisches Element,
    welches mit: dern nnstiißigen durch nahe Assuziatiunswege ven
    kunden ist; hierin zeigt sich wiederum die Macht des ersten
    Prinzips, wäches bedeutsame Eindrücke durch die Herstellung von
    rqzmduzierbaren Erinnerungsbildem fixieren möchte. Der Erfolg des
    Konflikts ist also der, daß anstatt des ursprünglich berechtigten
    ein anderes Erinnerungstti zustande kommt, welches gegen das
    erstere um ein Stück in der Aäoziation verschoben ist. Da
    gerade die wichtigen Bestandteile des Eindmcks diejenigen sind,
    welche den Ansmß wachgerufen haben, so muß die Wende
    Erinnerung dieser wichtigen E1anents bar sein; sie wird darum
    leicht haha] ausfallen, Unverständlich erscheint sie uns, weil wir
    den Grund ihrer Gedächiniserhnltung gern aus ihrem eigenen
    Inhalt. ersehen möchten, während er doch in der Beziehung
    dieses Inhalts zu einem anderen, unterdrückten Inhalt ruht»
    Um mich eine; pnpulären Gleichnisses zu bedienen, ein ge-
    wiss; Erlebnis der Kinderzeit kommt zur Geltung im Gedächt-

  • S.

    Ihrer Drekzrmncmngen 4.71

    nis, nicht etwa weil es selbst Gold ist, sondern weil es bei Gold
    gelegen ist.

    Unter den vielen möglichen Fällen von Ersetzung eines psychi—
    schen lnhalts durch einen anderen, welche alle ihre Verwirle
    lichung in verschiedenen psychologischen Konstellationen finden,
    ist der Fall, der bei den hier betrachteten Kindererinnerungen
    vorliegt, daß nämlich die unwesentlichen Bestandteile eines Er-
    lebnisscs die wesentlichen des männlichen Erlebnisseé im Gedächt-
    nisse vertreten, offenbar einer der einfachsten Es ist eine Ver-
    schiebung auf der Kontignitätsassoziation, oder wenn man den
    ganzen Vurgang ins Auge fallt, eine Verdrängung mit Ersctzung
    durch etwas Benachbartes (im örtlichen und zeitlichen Zusammen-
    hänge). Ich habe einmal Anlaß gehabt, einen sehr ähnlichen Fall
    von Emelzung uns der Analyse einer Pnr-nnoin mitzuteilen.‘ Ich
    erzählte von einer halluzinierenden Frau, der ihre Stimmen große
    Stücke aus der „Heiterethei“ von 04 Ludwig wiederholten, und zwar
    gerade die helung und beziehungslosesten Slellen der Dichtung.
    Die Analyse wies nach, daß es andere Stellen derselben Geschichte
    waren, welche die peinlichsten Gedanken in der Kranken wach-
    gemfen hatten. Der peinliche Affnkt war ein Motiv zur Abwehr,
    die Mutive zur Fortsetzung dieser Gedanken waren nicht zu
    unterdrücken, und so ergab sich als Kompromiß, daß die harm-
    losen Stellen mit pathologische! Stärke und Deutlichkeit in der
    Erinnerung hervorlrdten. Der hier erkannte Vorgang: Konflikt,
    Verdrängung, Ersetzung unter Kompromißhildung kehrt
    bei allen psychoneurotischen Symptomen wieder, er gibt den
    Schlüssel für das Verständnis der Symptnmhildung; es ist also
    nicht ohne Bedeutung, wenn er sich auch im psychischen Leben
    der normalen Individuen nachweisen läßt; daß er bei nor-
    malen Menschen die Auswahl gerade der Kindheitserinnerungeu
    beeinflußt, erscheint als ein neuer Hinweis auf die bereits betonten

    .; V\'eltere Bemerkungen einer die Alvwellr»Neurupiydnoam. Neumlngi.elren Zenml.
    lrlntr, 1356, Nr. in. [Enthalten in diesem Band der Germtnmgnhe]

  • S.

    47r Frühe Arbeitm zur Nmunlzhrz

    innigen Beziehungen zwischen dem Seelenleben des Kindes und
    dem psychischen Material der Neurcsen

    Die offenbar sehr hedenunrnen Vorgänge der normalen und
    pathologischen Abwehr und die Verschiebungserfolge, zu denen
    sie führen, sind, soweit. meine Kenntnis reicht, von den Psycho-
    lügen nnch gar nicht studiert werden, und es bleibt nach festzu-
    stellen, in welchen Schichten der psychischen Tätigkeit und unter
    welchen Bedingungen sie sich gehend machen. Der Grund für
    diese Vernachlässigung mag wohl sein, daß unser psycllisches
    Lehen, insofern es Objekt unserer bewußten inneren Wahr-
    nehmung wird, von diesen Vorgängen nichrs erkennen läßt, er
    sei denn in solchen Fällen, die wir als „Denkfehler“ klassifizieren,
    oder in manchen auf komischen Effekt angelegten psychischen
    Opereiionen. Die Behauptung, daß sich eine psychische Intensität
    von einer Vorstellung her, die dann verlassen bleibt, auf eine
    andere verschiehcn kann, welche nun die psychologische Rolle der
    ersteren weiielipielt, wirkt auf uns ähnlich befremdend, wie etwa
    gewisse Züge des griechischen Mythus, wenn 1, B. Götter einen
    Menschen mit Schönheit 'w-ie mil. einer Hülle überldeiden, wo
    wir nur die Verkleinrng durch verändertes Mienenspiel kennen.

    Weitere Untersuchungen über die gleichgülrigen Kindheivy
    erinne'rungerl haben mirh dann belehrt, daB deren Ennrehung
    nach anders zugehen kann, und daß sich hinter ihrer scheinbaren
    Harmlosigkeil eine ungeahnte Fülle von Bedeutung zu verbergen
    pflegt. lliefür Will ich mich aber nicht auf bloße Behauptung
    beschränken, sondern ein einzelnes Beispiel breit ausführen, welches
    mir unter einer größeren Anzahl ähnlicher als das lehneichste
    erscheint, und das durch seine Zugehörigkeit zu einem nicht oder
    nur sehr wenig nourotiscl'ien Individuum sicherlich an Wert»
    schälzung gewinnt,

    Ein achlunddreißigjähriger alradernisch gehildeter Mann, der
    sich trau seines fernab liegenden Berufs ein Interesse für psychrr
    logische Fragen bewahrt init, seitdem ich ihn durch Psychoana-

  • S.

    Über Dackerinn:mngm '„5

    lyse von m‘ner kleinen Phobie befreien konnte, lenkte im Vor-
    jahre meine Au£merksamkeit auf seine Kindheitserinnerungen, die
    schon in der Analyse eine gewisse Rolle gespielt hatten. Nach-
    dem er mit der Untersuchung von V. und C. Henri bekannt
    geworden war, teilte er mir folgende zusammenfassende Dar—
    stellung mit:

    „Ich verfüge über eine ziemliche Anzahl von £rü.lirm Kindheits-
    erinnert-ungen, die ich mit großer Sicherheit datieren kann. Im
    Alter von voll drei Jahren habe ich nämlich meinen kleinen
    Geburtsort verlassen, um in eine große Stadt zu übersiedeln;
    meine Erinnerungen spielen nun sämtlich in dem Orte, wo ich
    geboren hin, fallen also in das zweite bis dritte Jahr. Es sind
    meist kurze Szenen, aber sehr gut erhalten und mit. allen Demi];
    der Sinneswahrnehmung gestaltet., so recht im Gegensatz zu
    meinen Erinnerungshildern am reifen Jahren, denen das visuelle
    Element völlig abgeht. Vom dritten Jahr an werden die Erinne-
    rungen spärlicher und weniger deutlich; es finden sich Lücken
    vor, die mehr als ein Jahr umfassen müssen; erst vom sechsten
    oder siehenten Jahre an, glaube ich, wird der Strom der Erinne<
    rung kontinuierlich. Ich teile mir die Erinnerungen bis zum Ver-
    lassen meine; ersten Aufenthaltes ferner in drei Gruppen. Eine
    ers“) Gruppe bilden jene Szenen, vun denen mir die Eltern nach-
    träglich wiederholt erzählt haben; ich fühle mich bei diesen nicht
    sicher, ob ich das Erinnerungsbild von Anfnng an gehabt, oder
    ob ich & mir erst nach einer solchen Emblung gesuhaßen habe.
    Ich bemerke, daß es auch Vorlälle gibt., denen bei mir Irm1 mehr-
    maliger Schilderung von seiten der Eltern kein Erinnerungsbihl
    entspricht. Auf die zweite Gruppe lege ich mehr Wert; es sind
    Szenen, von denen mir — soviel ich weiß — nicht erzählt.
    wurde, zum Teil auch nicht erzählt. werden konnte, weil ich die
    mithandelnden Personen: Kinder-frau, .Tugendgespielen nicht wieder-
    gesehen habe. Von (ler dril.ten Gruppe werde ich später reden.
    Was den Inhalt dieser Szenen und somit deren Anspruch auf

  • S.

    474 Früh: Arbeiten zur Nmnarerdßlxrz

    Erhaltung im Gedächtnis betrifft, so möchte ich behaupten, daß
    ich über diesen Punkt nicht ganz ohne Orientierung bin. Ich
    kann zwar nicht sagen, daß die erhaltenen Erinnerungen den
    wichtigsten Begebenheiten jener Zeit entsprechen, oder Was ich
    heute so beurteilen würde, Von der Geburt einer Schwester, die
    zweieinhalb Jahre jünger ist als ich, weiß ich nichts; die Abreise,
    der Anblick der Eisenbahn, die lange VVagenfahrt vorher haben
    keine Spur in meinem Gedächtnis hinterlassen. Zwei kleine Var-
    flille Während der Eisenbahnfahrl. habe ich mir dagegen gemerkt;
    wie Sie sich erinnern, sind diese in der Analyse meiner Phobie
    Vorgokummen. Am meisten Eindruck hätte mir duch eine Ver-
    letzung im Gesicht machen müssen, bei der ich viel Blut verlor
    und vom Chirurgen genäht wurde. Ich kann die Narbe, die von
    diesem Unfall zeugt, noch heute tasten, aber ich weiß von keiner
    Erinnerung, die direkt oder indirekt auf dieses Erlebnis hinwiesc.
    Vielleicht war ich übrigens damals noch nicht zwei Jahre.“
    „Demnach verwundere ich mich über die Bilder und Szenen
    der beiden ersten Gruppen nicht. Es sind allerdings verschobene
    Erinnerungen, in denen das Wesentliche zumeist ausgeblieben ist;
    aber in einigen ist es zum mindesten angedeutet, in anderen
    wird es mir leicht, nach gewissen Fingeneigen die Ergänzung
    vorzunehmen, und wenn ich es verfahre, so stellt sich mir ein
    guter Zusammenhang zwischen den einzelnen Erinnerungsbrucken
    her, und ich ersehe klar, welches kindliche Interesse gerade diese
    Vorkommnisse dem Gedächtnis empfohlen hat. Anders steht es
    aber mit dem Inhalt der driuen Gruppe, deren Besprechung ich
    mir bisher aufgespart habe Hier handelt es sich um ein Material.,
    —— eine längere Szene und mehrere kleine Bilder, * mit dem
    =‘ich wirklich nichts anzufangen weiß, Die Szene erscheint mir
    ziemlich gleichgültig, ihre Fixierung unverständlich. Erlauben Sie,
    daß ich sie Ihnen sehildere: Ich sehe eine vierecliige, etwas ab—
    sehüssige Wiese, grün und dicht hewachsen; in dem Grün sehr
    viele gelbe Blumen, uli'enbar der gemeine Löwenzahn. Oberhalb

  • S.

    Über Dzd'zn'nnerungm 475

    der Wiese ein Bauernhaus, var dessen Tür zwei Frauen sinehen1
    die miteinander angelegemlich plaudern, die Bäuerin im Kopiltuch
    und eine Kinderfrau Auf der Wiese spielen drei Kinder, eines
    davon bin ich (zwischen zwei und drei Jahren alt), die beiden
    anderen moin Vetter, der uni ein Jahr älLer ist, und meine fast
    genau gleichaltrige Cousine, seine Schwester. Wir pflücken die
    gelben Blumen ab und halten jedes eine Anzahl von bereits ge-
    pflückten in den Händen. Den schönsten Strauß hat das kleine
    Mädchen; wir Buben aber fallen wie auf Verabredung über sie
    her und entreißen ihr die Blumen Sie läuft weinend die Wiese
    hinauf und beknmml. zum Trust von der Bäuerin ein großes'
    Stück Schwarzllrot. Kaum daß wir das gesehen haben, werfen wir
    die Blumen weg, eilen auch zum Haus und verlangen gleichfalls
    Brut, Wir bekommen es auch1 die Bäuerin schneidet den Laib
    mit einem langen Messer. Dieses Brot schmeckt mir in der Er-
    innerung so köstlich und damit bricht die Szene aim“

    „Was an diesem Erlebnis rechtferljgt nun den Gedächtnisau£
    wand, zu dem es mich veranlaßf. hat? Ich habe mir vergeblich
    den Knopf darüber zerbrochen; liegt der Akzent auf unserer Un-
    liehenswürdigkcil. gegen das kleine Mädchen; „lies das Gelb des
    Löwenzahns, den ich natürlich heute gar nicht schön finde, meinem
    Auge damals so gefallen haben; oder hat mir nach dem Hemm—
    mllen auf der Wiese das Brot so viel besser geschmeckt als sonst,
    (laß daraus ein unverlöschbarer Eindruck geworden ist? Beziehun»
    gen dieser Szene zu dem unschwer zu. erratenden Interesse, welches
    die anderen Kinderszenen zusammenhält‚ kann ich auch nicht finden.
    Ich habe überhaupt den Eindruck, als ob es mit dieser Szene
    nicht richtig zuginge; das Ger der Blumen stichi aus dem En-
    semble gar zu sehr hervor, und der Wohlgeschmack des Brules
    erscheint mir auch wie halluzinm‘mrisch übertrieben Ich muß mich
    dabei an Bilder erinnern, die ich einmal auf einer pamdistischen
    Ausslellung gesehen habe, in denen gewisse Bestandteile anstatt
    gemalt plastisch aufgetragen waren, natürlich die unpassendsten,

  • S.

    475 Frühe Arbeiten zur Newmenklve

    z. B. die Tournüren der gemalten Damen, Können Sie mir nun
    einen Weg zeigen, der zur Aufklärung oder Deutung dieser über-
    flüssigen Kindheitserlnnerung führt?“

    Ich hielt es für geraten zu fragen., seit wann ihn diese Kind-
    heitserinnerung beschäftige, ob er meine, daß sie seit der Kind-
    heit periodisch in seinem Gedächtnis wlederkehre, oder ab sie
    etwa irgendwann später nach einem zu erinnernden Anlaß aufL
    getaucht sei. Diese Frage war alles, was ich zur Lösung der Auf-
    gabe heizutragen brauchte, das übrige fand mein Panner, der kein
    Neuling in solchen Arbeiten war, von selbst.

    Er antwortete: „Daran habe ich noch nicht gedacht. Nachdem
    Sie mir diese Frage gestellt haben, wird es mir fast zur Gewiß-
    heil7 daß diese Kindererinnerung mich in jüngeren Jahren gar
    nicht beschäftigt hat. Ich kann mir aber auch den Anlaß denken,
    von dem die Erwecknng dieser und vieler anderer Erinnerungen
    an meine ersten Jahre ausgegangen ist. Mit siebzehn Jahren
    nämlich bin ich zuerst wieder als Gymnasiast zum Ferienaufent-
    halte in meinen Heimatsan gekommen, und zwar als Gast einer
    uns seit jener Vorzeit hefreuntleben Familie. Ich weiß sehr wohl,
    welche Fülle von Erregungen damals Besitz von mir genommen
    hat. Aber ich sehe schon, ich muß Ihnen nun ein ganzes grußes
    Stück meiner Lebensgeschichte erzählen; es gehört dazu, und Sie
    haben es durch Ihre Frage heraufbeschworen. Hören Sie also: Ich
    bin das Kind von ursprünglich wohlhabenden Leuten, die, wie
    ich glaube, in jenem kleinen Provinznest behagliuh genug gelebt
    hatten. Als ich ungefähr drei Jahre alt war, trat eine Katastrophe
    in dem Industriezweig ein, mit dem sich der Vater beschäftigte.
    Er verlor sein Vermögen, und wir verließen den Ort natgedrnngau‚
    um in eine große Stadt zu übersiedeln, Dann kamen lange harte
    Jahre; ich glaube, sie waren nicht wert, sich etwas daraus zu
    merken. In der Stadt fühlte ich mich nie recht behaglich; ich
    meine jetzt, die Sehnsucht nach den schönen Wäldern der Heimat,
    in denen ich schon, kaum daß ich gehen konnte, dem Vater zu

  • S.

    Über Deckerr'nnerungen 477

    entluufen pflegte, wie eine von damals erhaltene Erinnerung be-
    zeugt, hat mich nie verlassen. Es waren meine ersten Ferien auf
    dem Lande, die mit siebzehn Jahren, und ich war, wie gesagt,
    Gast einer befreundeten Familie, die seit unserer Übersiedlung
    groß empor gekommen war. lch hatte Gelegenheit, die Behäbig
    keit, die dert herrschte, mit der Lebensweise bei uns zu Hause
    in der Stadt zu vergleichen. Nun nützt wohl kein Ausweichen
    mehr; ich muß Ihnen gestehen, daß mich noch etwas anderes
    mächüg erregte Ich war siebzehn Jahre alt, und in der gastlichen
    Familie war eine fünfzehniährige Tochter, in die ich mich sofort
    verliebte. Es war meine erste Schwärmerei, intensiv genug, aber
    vollkommen geheim gehalten Des Mädchen reiste nach wenigen
    Tagen ab in das Erziehungsinstitut, aus dem sie gleichfalls auf
    Ferien gekommen war, und diese Trennung nach su kurzer Be—
    kanntschaft brachte die Sehnsucht erst recht in die Höhe, Ich erging
    mich viele Stunden lang in einsamen Spaziergängen durch die wieder-
    gefundenen herrlichen Wälder mit dem Aufbau von Luftschlössern
    beschäftigt, die selLsamerweise nicht in die Zukunft suchten, son—
    dem die Vergangenheit zu verbessern suchten Wenn der Zu-
    sammenbruch damals nicht eingetreten wäre, wenn ich in der
    Heimat geblieben wäre, auf dem Lande aufgewachsen, so kräftig
    geworden wie die jungen Männer des Hauses, die Brüder der
    Geliebten, und wenn ich dann den Beruf des Vaters fortgesetzt
    hätte und endlich das Mädchen geheiratet, das ja all die Jahre
    über mir hätte vertraut werden müssen! Ich zweifelte natürlich
    keinen Augenblick, daß ich sie unter den Ums1änden, welche
    meine Phantasie schuf, ebenso heiß geliebt hätte, wie ich es
    damals wirklich empfand. Senderbar‚ wenn ich sie jetzt ge-
    legentlich sehe — sie hat zufällig hieher geheiratet, —— ist sie
    mir ganz außerordentlich gleichgültig, und doch kann ich mich
    genau erinnern, wie lange nachher die gelbe Farbe ds Kleides,
    das sie beim ersten Zusammentrefl'erl trug, auf mich gewirkt, wenn
    ich dieselbe Farbe irgendwo wieder sah.“

  • S.

    „a Früh: Arbeiten zur Neuronenlzhre

    Das klingt ja ganz ähnlich wie Ihre eingeschaltete Bemerkung,
    daß Ihnen der gemeine Döwenmhn heute nicht mehr gefällt.
    Vermuten Sie nicht eine Beziehung zwischen dem Gelb in der
    Kleidung des Mädchens und dem so überdeutlichen Gelb der
    Blumen in Ihrer Kinderszene?

    „Möglich, doch war es nicht dasselbe Gelb. Das Kleid war
    eher gelbbrauu wie Guldluck. Indes kann ich Ihnen wenigstens
    eine Zwischenverstellung, die Ihnen taugen würde, zur Verfügung
    stellen. ich habe später in den Alpen gesehen, daß manche Blumen,
    die in der Ebene lichte Farben haben, auf den Höhen sich in
    dünklere Nuancen kleiden. Wenn ich nicht sehr irre, @'bt es auf
    den Bergen häufig eine den: Löwenzahn sehr ähnliche Blume,
    die aber dunkelgelb ist und dann dem Kleid der damals Geliebten
    in der Farbe ganz entsprechen würde. Ich bin aber noch nicht
    fertig, ich komme zu einer in der Zeit naheliegenden zwa'len
    Veranlassung, welche meine Kindheilseindrücke in mir aufgerührl.
    hat. Mit siebzehn Jahren hatte ich den Ort wiedergesehen; drei
    Jahre später war ich in den Ferien auf Besuch bei meinem
    Onkel, traf else die Kinder Wieder, die meine ersten Gespieleu
    gewesen waren, denselben um ein Jahr älteren Vetter und dieselbe
    mit mir gleichaltrlge Cousine, die in der Kindeßzene vun der
    Löwenzahnwiese auftreten. Diese Familie hatte gleichzeitig mil
    uns meinen Geburtsort verlassen und war in der fernen Stadt
    wieder zu schönem Wohlstand gekommen,“

    Und haben Sie sich da auch wieder verliebt, diesmal in die
    Cousine, und neue Phantasien gelimmen?

    „Nein, diesmal ging es anders. Ich war schon auf der Universität
    und gehörte ganz den Bücher-11; für mühe Cousine hatte ich nichts
    übrig. Ich habe damals meines Wissens keine solchen Phantasien
    gemacht. Aber ich glaube, zwischen meinem Vater und meinem
    Onkel hesmnd der Plan, daß ich mein ahstmses Studium gegen
    ein praktisch besser verwert'hares veneusehen, nach Beendigung
    der Studien mich im Wohnort des Onkels niederlassen und meine

  • S.

    L7b„ Dcelr„i„w„„grn 479

    Cousine zur Frau nehmen sollte. Als man merkte, wie versunken
    in meine eigenen Absichten ich war, ließ man wohl den Plan
    wieder fallen; ich meine aber, daß ich ihn sicher erraten habe.
    Später erst, als junger Gelehrter, als die Not. des Lebens mich
    hart anfaßte, und ich so lange auf eine Stellung in dieser Stadt
    zu werten hatte, mag ich wohl manchmal daran gedacht haben,
    daß der Vater es eigendich gut mit mir gemeing als er durch
    dieses Heiratsprojekt mich für den Verlust entschädigt wissen wollte,
    den jene erste Katastrophe mir fürs ganze Leben gebracht“

    In diese Zeit Ihrer schweren Kämpfe ums Brut möchte ich
    also das Auflauehen der in Rede stehenden Kindheitszene ver-
    legen, wenn Sie mir noch best'

    gen, daß Sie in denselben Jahren
    die erste Bekanulschaft mil tler Alpenwelt geschluseen haben.

    „Das ist richtig; Bergtouren waren damals das einzige Ver-
    gnügen, das ich mir erlaubte. Aber ich verstehe Sie noch nicht
    rcchtf‘

    Sogleich. Aus Ihrer Kinder-szene heben Sie als das intensivste
    Element hervor, daß Ihnen das Landbrnt so ausgezeichnet schmeckt.
    Merken Sie nicht, daß diese fast halluzinatorisch empfundene Vor-
    stellung mit der Idee Ihrer Phantasie kerrespondierg wenn Sie
    in der Heimat geblieben wären, jenes Mädchen geheiratet hätten,
    wie behagl.ich keine sich Ihr Leben gestnltet, symbolisch ausge»
    drückt, wie gut hätte Ihnen Ihr Brot geschmeckt, um das Sie in
    jener späteren Zeit gekämpft haben? Und das Gelb der Blumen
    deutet auf dasselbe Mädchen hin. Sie haben übrigens in der Kind-
    hcitsszene Elemente, die sich nur auf die zweite Phantasie, wenn
    Sie die Cousine geheiratet hätten, beziehen Lassen. Die Blumen
    wegwerfen, um ein Brot: dafiir einzuteueehen, scheint mit keine
    üble Verkleidung für die Absicht, die Ihr Vater mit. Ihnen hatte,
    Sie sollten auf Ihre unpraktlschen Ideale verzichten und ein „Brot-
    studium" ergreifen, nicht wahr?

    „So hätte ich else die beiden Reihen von Phantasien, wie sich
    mein Leben hehagl_icher hätte gestalten können, miteinander ver-

  • S.

    ‚„in Frühe Arbeiten n..— waznkhrß

    schmalzen, das ,Gelb‘ und das ,Land‘hrot aus der einen, das
    Wegwerfen der Blumen und die Personen aus der anderen ent
    nommen?“

    So ist: es; die beiden Phantasien aufeinander projiziert und eine
    Kindheitserinnerung daraus gemacht. Der Zug mit den Alpen-
    blumeu ist dann gleichsam die Marke für die Zeit dieser Fabrikation.
    Ich kann Ihnen versichern, daß man solche Dinge sehr häufig
    unbewußt macht, gleichsam diclitet.

    „Aber dann wäre es ja keine Kindheitsexinnerung, sondern eine
    in die Kindheit zurünkverlegte Phantasie. Mir sagt aber ein Gefühl,
    daß die Szene am ist. Wie vereint sich das?“

    Für die Angaben unseres Gedächmisses gibt es überhaupt keine
    Garantie. Ich will Ihnen aber zugeben, daß die Szene echt ist;
    dann haben Sie sie aus unzählig viel ähnlichen uder anderen hervor-
    gesucht, weil sie sich vermöge ihres * an sich gleichgültigenf
    Inhsltes zur Darstellung der beiden Phantasien eignete, die für
    Sie bedeutsam genug wazen. Ich würde eine solche Erinnerung,
    deren Werl. darin besteht, daß sie im Gedächtnisse Eindrücke und
    Gedanken späterer Zeit vertritt, deren Inhalt mit dem eigenen
    durch symbolische und ähnliche Beziehungen verknüpft ist, eine
    Deckerinnerung heißen. Jedenfalls werden Sie aufhören, sich
    über die häufige Wiederkehr dieser Szene in Ihrem Gedächtnis
    zu verwundern. Man kann sie nicht mehr eine harmlose nennen,
    wenn sie, wie wir gefunden haben, die wichtigsten Wendungen
    in Ihrer Lebensgeschichte, den Einfluß der beiden mächtigsten
    Triebfedern, des Hungers und der Liebe, zu illustrieren be-
    stimmt isL

    „Ja, den Hunger hat sie gut dargestellt; aber die Liebe?“

    In dem Gelb der Blumen, meine ich. Ich kann übrigens nicht
    Ieugnen, daß die Darstellung der Liebe in dieser Ihrer Kindheit.;—
    szene hinter meinen sonstigen Erfahrungen weit zurück bleibt.

    „Nein, keineswegs. Die Darstellung der Liebe ist ja die Haupt-
    sache daran. Jetzt verstehe ich erst! Denken Sie doch: einem

  • S.

    Ü72L‘r Deckerinnerungen 481

    Mädchen die Blume wegnehn'ien, das heißt ja: deflorieren. Welch
    ein Gegensatz zwischen der Frechheit dieser Phantasie und meiner
    Schüshmmheit bei der ersten, meiner Gleichgültigkeit bei der
    zweiten Gelegenheit.“

    Ich kann Sie versichern, daß derartige kühne Phantasien die
    regelmäßige Ergänzung zur juvenilen Schüchternheit bilden, '

    „Aber denn wäre es nicht eine bewußte Phantasie, die ich er-
    innern kann, sondern eine unhewnl3te, die sich in diese Kindheiis-
    erinnernngen verwandelt?“

    Unbewußt.e Gedanken, welehe die bewußten fortsetzen. Sie
    denken sich: wenn ich die oder die geheiratet hätte, und dahinter
    enlstehl der Antrieb, sich dieses Heiraten vurzmtellen.

    „Ich kann es jetzt selbst fortsetzen. Das Verlnckendste an dem
    ganzen Thema isi für den nichlsnutzigcn Iüngling die Vorstellung
    der Braumacht; was weiß er von dem, was nachknmmt. Diese Vox»
    stellung wagt m'ch aber nicht ans Licht, die herrschende Stim—
    mung der Bescheidenheit und des Respele gegen die Mädchen
    erhält sie unverdrückL So bleibt sie unbewußt . . 4“

    Und weicht in eine Kindheihse‘rirmenmg aus. Sie haben Recht,
    gerade das Grobsinnliche an der Phantasie ist der Grund, daß sie
    sich nicht zu einer bewußten Phantasie entwickelt, sondern zu-
    frieden sein muß, in eine Kindheimszene els Anspielung in ver-
    blürnler Form Aufnahme zu finden.

    „Warum aber gerade in eine Kindheitsszene, möchteich fragen?“

    Vielleicht gerade der Hamlosigkeit zuliebe. Können Sie sich
    einen stärkeren Gegensalz zu so argen sexuellen Aggressionsvnr-
    Sätzen denken als Kindemeihen? Übrigens sind für das Ausweichen
    von verdrängten Gedanken und Wünschen in die Kindheits-
    erinnerungrm allgemeinere Gn'lnde maßgebend, denn Sie können
    dieses Verhalten bei hyslerischen Personen ganz regelmäßig nach-
    weisen. Auch scheint es, daß das Erinnern von Längstvergangenem
    an und für sich durch ein Lustnmtiv erleichtert wird. „Forum
    21 hazc olim meminissz juuabi't.“

    rrsna, | n

  • S.

    482 Früh: Arbeitm zur Neuronnlehrz

    „Wenn dem so ist, so hehe ich allen Zutrauen zur Echtheit
    dieser Löwenzahnszenc verloren, Ich halte mir vor, daß in mir
    auf die zwei erwähnten Vemnlassungen hin, von sehr greifbaren
    realen Motiven unterstützt, der Gedanke nufmucht: Wenn du
    dieses mler jenes Mädchen geheiratet. hättest, wäre dein Leben
    viel angenehmer geworden. Daß die sinnliche Strömung in mir
    den Gedanken des Bedingungssatzes in solchen Vorstellungen wieder-
    holt, welche ihr Befriedigung bieten können; daß diese zweite
    Fassung desselben Gedankens infolge ihrer Unverträglichkeit. mit
    der herrschenden sexuellen Disposition unbewußt bleibt, aber
    gerade dadurch in den Stand gesetzt ist, im psychischen Lehen
    fertzndenern, wenn die hewußte Fassung längst durch die ver—
    änderte Realität beseitigt ist; daß der unbewußt gebliebene Satz
    nach einem geltenden Gesetz, wie Sie sagen, bestreht ist, sich in
    eine Kindlieilsszene umzuwandeln, welche ihrer Harmlosigkcil
    wegen bewußt werden darf; daß er zu diesem Zweck eine neue
    Umgestaltung erfahren muß, oder vielmehr zwei, eine, die dem
    Vordersatz das Anstößige henimmt, indem sie es bildlich ams-
    drl\ckt‚ eine zweite, die den Nachsatz in eine Form prel3t, welche
    der visuellen Darstellung fähig ist, wozu die Mittslvnrstellnng
    Brut—Brotetudium verwendet wird Ich sehe ein, daß ich durch
    die Produktion einer solchen Phantasie gleichsam eine Erfüllung
    der beiden unterdrückten W'ünsche — nach dem Definieren
    und nach dem materiellen Wohlhehagen — hergestellt habe.
    Aber nachdem ich mir von den Mntiveu, die zur Emstehuug
    der Löwenzahnphantasie fühlten, so vollständig Rechenschaft
    gehen kann, muß ich annehmen, daß es sich hier um etwas
    handelt, war sich überhaupt niemals ereignet hat, sandem un—
    recht.mäfiig unter meine Kindheitsen'nnerungen eingesehrnuggelt
    werden ist.“

    Nun muß ich aber den Verteidiger der Echtheit spielen. Sie
    gehen zu weit. Sie haben sich vun mir sagen lassen, daß jede
    solche unterdrückte Phantasie die Tendenz hat, in eine Kindheits-

  • S.

    Über Dznkßrinnamngen. 485

    szene auszuweichen; nun nehmen Sie hinzu, daß dies nicht gelingt,
    wenn nicht eine solche Erinnerungsspur da ist, deren Inhalt mit
    dem der Phantasie Berührungspunkte bietet, die ihr gleichsam
    entgegeukommt. Ist erst ein solcher Derührungspunkt gefunden —
    hier ist es das Definieren, die Blume wegnehmen, — so wird
    der übrige Inhalt der Phantasie durch alle zulässigen Zwischen-
    vorstellungen (denken Sie an das Brot!) su weit umgemudelt, bis
    sich neue Berühmngspunkte mit dem Inhalt der Kinderszene er-
    geben haben. Sehr wohl möglich, daß bei diesem Prozeß auch
    die Kinderszene selbst Veränderungen unterliegt; ich halte es für
    sicher, daß auf diesem Wege auch Erinnemngsfa'lschungen zu-
    stande gebracht werden. In Ihrem Falle scheint die Kindheits—
    szene nur ziseliert werden zu sein; denken Sie an die übermäßige
    Hervorhebung des Gelb und an den übertriebenen Wahlgeschmack
    des Brava. Das Ruhmaterial war aber bruuchban Wäre es 50
    nicht gewesen, so hätte sich diese Erinnerung eben nicht aus
    allen anderen zum Bewußtsein erheben können. Sie hätten keine
    solche Szene als Kindheitserinnerung bekommen, oder vielleicht
    eine andere, denn Sie wissen ja, wie leicht es unserem Witz wird,
    Verhindungshrücken von überallher überallhin zu schlagen. Für
    die Echtheit Ihrer Lüwenzahnerinnerung spricht übrigens außer
    Ihrem Gefühl, das ich nicht unterschätzen möchte, noch etwas
    anderes, Sie enthält Züge, die nicht aiii'lii'sbar durch Ihre Mit-
    teilungen sind, auch zu den aus der Phantasie stammenden Be—
    deutungen nicht Passen. So z. B. wenn der Vetter Ihnen min
    hilft, die Kleine der Blumen zu berauhen. Könnten Sie mit einer
    solchen Hilfeleistung heim Deflorieren einen Sinn verbinden?
    Oiier mit der Gruppe der Bäuerin und der Kinderl'mu oben
    vor dem Haus?

    „Ich glaube nicht.“

    Die Phantasie deckt sich also nicht ganz mit der Kindheitsszene,
    sie lehnt sich nur in einigen Punkten an sie an. Das spricht für
    die Echtheit der Kindheiiserinnerung.

    s\‘

  • S.

    „Ghan Sie, daß eine solch. Damm; vun scheinbar him»
    losen Kindheiuerinnernmgsn oftmals am Plane ist?“

    Nach meinen Erfahrungen sehr «ft. Wollen Sie an zum Scherz
    versuchen, ob die beiden Beispiel., welche die Henri mitmi]en,
    die Deutung als Deckerinnerungen für spilen Erlebni-e und
    Wünlche filmen? IntmuinedieEflnnerungandengedeakun
    Tisch‚nufdemeine SchalemltEisswbi‚wusmitdeml'odder
    Großmutter zuammenhängen soll. und die „reihe von dm An,
    den sich das Kind auf einem Spaziergang abbricht, Wabei ihm
    ein anderer Hilfe leidet?

    Er besenn sich eine Weile: „Mit der ersten weiß ich nicht
    unzu£angen. Es in sehr wahrscheinlich eine Verschiebung im
    Spiele, aber die Mittelglieder sind nicht zu ernten. Fiir die:-rein
    gewann ich mich einer Deutung, wenn die Person, diexi‘n als
    ihre eigene mitteilt, kein Franzose wäre‚“ „

    Im verstehe ich Sie nicht. Was soll das ändern?

    „Fl ändert viel, da der spranhliche Ausdruck mhrnnheinlinh
    dia Verbindung zwischen der Deckerinnerung und der gedeckten
    vermittelt. Im Deumhen in ‚ich einen ausreißen‘ ein: recht
    bekannte, vulgii.re Anspielung auf die Omnia. Die Sms wurde
    die Erinneng an eine später erfolgte Verführung zur Omnia
    in die frühe Kindheit zurückverlegen, da ihm doch jemand dazu
    verhilfi„ Es nimmt aber M nich?7 weil in der Kindheimene
    su viel nndm Personen mit dabei sind.“

    Während die Verleilung zur Onnnie in der ansemkeit und. im
    Geheimen magefimden heben muß. Gerade dieser Gegenlulz
    spricht mir für Ihre Aufiumng; er dient wiederum dan, die
    Szene kann)». zu machen. When Sie, was es bedeulel, wenn wir
    im Traurh „viele fremde Leute“ sehen, wie es in den Neekil.eice-
    träumen so häufig vorkommt, bei denen wir uns so ernseulich
    geniert. filhlen? Nichts anderes als — Geheimnis, was also durch
    seinen Gegensaiz ausgedrückt isn Übrigens bleibt die Deutung
    ein Scherz; wir vn'.ssen ia wirklich nicht, ob der Franzose

  • S.

    Über Dukerimrzmngzn 435

    in den Worten Gasser uns brauche d‘un. arbre oder in einer
    etwas rektifizierten Phrase eine Anspielung an die Onanie erkennen
    wird.

    Der Begriff einer Deckerinuemng als einer solchen, die ihren
    Gedächtniswert nicht dem eigenen Inhalt, sondern dessen Be—
    ziehung zu einem anderen unterdrückten Inhalt verdankt, dürfte
    am der vorstehenden, möglichst getreu mitgereilten Analyse einiger-
    maßen klar geworden sein, Je nach der Art dieser Beziehung
    kann man verschiedene Klassen vun Deckerinnerungen unter-
    scheiden. Von zwei dieser Klassen haben wir unter unseren soge-
    nannten frühesten Kindheitserinnerungen Beispiele gefunden, wenn
    wir nämlich die unvollständige und durch diese Unvnllsländigkei!
    harmlose Infantilszene mit unter den Begrifl' der Deckerinnerung
    fallen lassen Es ist vorauszusehen, daß s'ch Deckerinnerungen auch
    aus den Gedächtnisresten der späteren Lebenszeiten bilden werden.
    Wer den Hauptchamkter derselben1 große Gedächtnisliihiglreit hei
    völlig gleichgültigem Inhalt, im Auge behält, wird leicht Beispiele
    dieser Art zahlreich in seinem Gedächtnis nachweisen können. Ein
    Teil dieser Deckerinnenmgen mit später erlebtem Inhalt verdankt
    seine Bedeutung der Beziehung zu unterdrückt gebliebenen Er-
    lebnissen der frühen Jugend, also umgekehrt wie in dem von mir
    analysierten Falle, in dem eine Ifindererinnerung durch später
    Erlebtes gerechtfertigt wird. Je nachdem das eine oder das andere
    zeitliche Verhältnis zwischen Deckendem und Gedenktem man hat,
    kann man die Deckerinnerung als eine rückläufige oder als eine
    vorgreifende bezeichnen. Nach einer anderen Beziehung unter-
    scheidet man positive und negative Deckerinnemngen (oder Trntz-
    erinnernngcn), deren Inhalt im Verhältnis des Gegensatzes zum
    unterdrückten Inhalt steht Das Thema verdiente wohl eine gründ—
    lichere Würdigung; ich heg'nüge mich hier damit, aufmerksam
    zu machen, welche komplizierten — übrigens der hysterischen

  • S.

    486 Früh: 4rba'm zur Nemenkhrz

    Syrnptornbill‘lul'ig durchaus analogen —— Vurgänge an der Her-
    stellung unseres Erinnerungsschalzes beteiligt sind.

    Unsere frühesten Kindheitserinnerungen werden immer Gegen-
    stand eines besonderen Interesses sein, weil hier das eingangs er-
    wähnte Problem, wie es denn kommt, daß die für alle Zukunft
    wirksamsten Eindrücke kein Erinnnmngsbild zu hinterlassen
    brauchen, zum Nachdenken über die Entstehung der bewußten
    Erinnerungen überhaupt aufforden. Man wird sicherlich zunächst
    geneigt sein, die eben behandelten Deekcrinnerungen unter den
    Kindheitsgedächtnisresten als heterogene Bestandteile auszuscheiden,
    und sich von den übrigen Bildern die einfache Vorstellung zu
    machen, daß sie gleichzeitig mit dem Erleben als unmittelbare
    Folge der Einwirkung des Eriebteu entstehen und von da an
    nach den bekannten Repreduktiensgesctzen zeitweise wiederkehren.
    Die feinere Beobachtung ergibt aber einzelne Züge, welche schlecht
    zu dieser Auffassung stimmen. So vor allem den folgenden: In
    den meisten bedeutsamen und Senat einwandfreien Kinderszenen
    m'eht man in der Erinnerung die eigene Person als Kimi, von
    dem man weiß, daß man selbst dieses Kind ist; man sieht dieses
    Kind aber, wie es ein Beobachter außerhalb der Szene sehen
    würde. Die Henri Versäumen nicht aufmerksam zu machen, daß
    viele ihrer Gewährspersunen diese Eigentümlichkeit der Kinder
    szenen ausdrücklich hervorheben. Nun ist es klar, daß dieses Er-
    innerungsbild nicht die getreue Wiederholung des damals empv
    fangenen Eindrucks sein kann. 1Vlan befand sich ja mith in
    der Situation und seinem nicht auf sich, sondern auf die Außen-
    weit.

    Wo immer in einer Erinnerung die eigene Person so als ein
    Objekt unter anderen Objekten auftritt, darf man diese Gegen-
    überstellung des handelnden und des crinncrnden lchs als einen
    Beweis dafür in Ansprüch nehmen, daß der ursprüngliche Ein-
    druck eine Überarbeitung erfahren hat, F5 sieht aus, als wäre hier
    eine Kind}reit£rinnerungsspur zu einer späteren (Erweckunga-)

  • S.

    Über Dec/rmnncmngm . 457

    Zeit ins Plasüsche und Visuelle rückühersetzl werden. Von einer
    Reproduktion aber des ursprünglichen Eindrucks ist uns niemals
    etwas zum BewußLsein gekommen.

    Noch mehr Beweiskralt zugunsten dieser anderen Aufl"assu_ug
    (ler Kindheitsszenen muß man einer zweiten Tatsache zugestehen.
    Unter den mit gleicher Bestimmtheit und Deutlichkeit auftretenden
    lnfantilen'rmemngen an wichtige Erlebnisse gibt es eine Anzahl
    von Szenen, die sich bei Anwendung von Kontrolle —— etwa durch
    die Erinnerung Erwachsener — als gefälschte herausstellen. Nicht
    daß sie frei erfunden wären; sie sind insnfern falsch, als sie eine
    Situation an einen Ort Verlegen, wo sie nicht stattgefunden hat
    (wie auch in einem von den Henri mitgeteilten Beispiel),
    Personen miteinander verschmelzen oder vertauscl'ien, oder sich
    überhaupt als Zusammensemmg von zwei gesundenen Erlebnissen
    zu erkennen geben. Einfache Untreue der Erinnerung spielt gerade
    hier, bei der großen sinnlichen Intensität der Bilder und bei der
    Leistungsfähigkeit der jugendlichen Gedächtnisfunktiun, keine ere
    hehliehe Rolle; eingehende Untersuchung zeigt vielmehr, daß
    solche Erinnerungsfa'lschungen tendenziöse sind, d. h daß sie den
    Zwecken der Verdrängung und Ersetzung von anstö gen oder un-
    liebsamen Eindrücken dienen. Auch diese gefälschten Erinnerungen
    müssen also zu einer Lebenszeit entstanden sein, da solche Konflikte
    und Antriebe zur Verdiängnng sich bereits im Seelenleben geltend
    machen konnlen, also lange Zeit nach der, welche sie in ihrem
    Inhalt erinnern. Auch hier ist aber die gefälschte Erinnerung die

    erste, von der wir wissen; das Material an Erinnerungsspuren‚'

    aus dem sie geschmierlet wurde, blieb uns in seiner ursprünglichen
    Form unbekannt.

    Durch solche Einsicht verringert sich in unserer Schätzung der
    Abstand zwischen den Declrerinnerungen und den übrigen Ep
    innerungen aus der Kindheit. Vielleicht ist es überhaupt zweifel—
    haft, ab wir bewußte Erinnerungen aus der Kindheit haben, oder
    nicht vielmehr bloß en die Kindheit. Unsere Kindheitserinnerungen

  • S.

    438 Früh! Arbeiten zur Naviwmkhrt: Über lemirmnimgm

    neigen uns die ersten Lebensjahre, nicht wie sie waren, sondßrn wie
    sie späteren Emeckunguehen erschienen sind. Zu diesen Zuimn
    der Erweckuug sind die Kindheitser'mneru'ngen nicht, wie man
    zu sagen gewohnt ist7 aufgetaucht, sondern sie sind damals ge-
    bildet werden, und eine Reihe von Motiven, denen dia Absicht
    hismrischer Treue fern liegt, hat diese Bildung sowie die Aus—
    wahl der Erinnerungen mitbeeinflußt.