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ÜBER DEN GEGENSINN DER URWORTE
Dieses Referat über die gleichnamige Broschüre
von Karl Abel (1884) erschien zuerst im „Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen“, Bd. II (1910), dann
in der Dritten Folge der „Sammlung kleiner
Schriften zur Neurosenlehre“.In meiner „Traumdeutung“ habe ich als unverstandenes Er-
gebnis der analytischen Bemühung eine Behauptung aufgestellt,
die ich nun zu Eingang dieses Referates wiederholen werde:1„Höchst auffällig ist das Verhalten des Traumes gegen die
Kategorie von Gegensatz und Widerspruch. Dieser wird schlechtweg
vernachlässig. Das „Nein“ scheint für den Traum nicht zu
existieren. Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer
Einheit zusammengezogen oder in einem dargestellt. Der Traum
nimmt sich ja auch die Freiheit, ein beliebiges Element durch
seinen Wunschgegensatz darzustellen, so daß man zunächst von
keinem eines Gegenteils fähigen Elemente weiß, ob es in den
Traumgedanken positiv oder negativ enthalten ist.“Die Traumdeuter des Altertums scheinen von der Voraus-
setzung, daß ein Ding im Traume sein Gegenteil bedeuten könne,
den ausgiebigsten Gebrauch gemacht zu haben. Gelegentlich ist
diese Möglichkeit auch von modernen Traumforschern, insofern
sie dem Traume überhaupt Sinn und Deutbarkeit zugestanden1)2. Aufl., S. 232, im Abschnitte VI: Die Traumarbeit.
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haben, erkannt.1 Ich glaube auch keinen Widerspruch hervorzu-
rufen, wenn ich annehme, daß alle diejenigen die oben zitierte
Behauptung bestätigt gefunden haben, welche mir auf den Weg
einer wissenschaftlichen Traumdeutung gefolgt sind.Zum Verständnisse der sonderbaren Neigung der Traumarbeit,
von der Verneinung abzusehen und durch dasselbe Darstellungs-
mittel Gegensätzliches zum Ausdrucke zu bringen, bin ich erst
durch die zufällige Lektüre einer Arbeit des Sprachforschers
K. Abel gelant, welche, 1884 als selbständige Broschüre ver-
öffentlicht, im nächsten Jahre auch unter die „Sprachwissenschaft-
lichen Abhandlungen“ des Verfassers aufgenommen worden ist.
Das Interesse des Gegenstandes wird es rechtfertigen, wenn ich
die entscheidenden Stellen der Abelschen Abhandlung nach ihrem
vollen Wortlaute (wenn auch mit Weglassung der meisten Bei-
spiele) hier anführe. Wir erhalten nämlich die erstaunliche Auf-
klärung, daß die angegebene Praxis der Traumarbeit sich mit
einer Eigentümlichkeit der ältesten uns bekannten Sprachen deckt.Nachdem Abel das Alter der ägyptischen Sprache hervor-
gehoben, die lange Zeiten vor den ersten hieroglyphischen In-
schriften entwickelt worden sein muß, fährt er fort (S. 4):„In der ägyptischen Sprache nun, dieser einzigen Reliquie einer
primitiven Welt, findet sich eine ziemliche Anzahl von Worten
mit zwei Bedeutungen, deren eine das gerade Gegenteil der
andern besagt. Man denke sich, wenn man solch augenscheinlichen Unsinn zu denken vermag, daß das Wort ‚stark‘ in der
deutschen Sprache sowohl ‚stark‘ als ‚schwach‘ bedeute; daß das
Nomen ‚Licht‘ in Berlin gebraucht werde, um sowohl ‚Licht‘ als
‚Dunkelheit‘ zu bezeichnen; daß ein Münchener Bürger das Bier
‚Bier‘ nennte, während ein anderer dasselbe Wort anwendete,
wenn er vom Wasser spräche, und man hat die erstaunliche
Praxis, welcher sich die alten Ägypter in ihrer Sprache gewohnheitsmäßigen1)Siehe z. B. G. H. v. Schubert: Die Symbolik des Traumes, 4. Aufl., 1862,
Kap. 2. Die Sprache des Traumes.S.
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hinzugeben pflegten. Wem kann man es verargen, wenn
er dazu ungläubig den Kopf schüttelt? …“ (Beispiele.)(S. 7): „Angesichts dieser und vieler ähnlicher Fälle anti-
thetischer Bedeutung (siehe Anhang) kann es keinem Zweifel
unterliegen, daß es in einer Sprache wenigstens eine Fülle von
Worten gegeben hat, welche ein Ding und das Gegenteil dieses
Dinges gleichzeitig bezeichneten. Wie erstaunlich es sei, wir stehen
vor der Tatsache und haben damit zu rechnen.“Der Autor weist nun die Erklärung dieses Sachverhaltes durch
zufälligen Gleichlaut ab und verwahrt sich mit gleicher Ent-
schiedenheit gegen die Zurückführung desselben auf den Tiefstand
der ägyptischen Geistesentwicklung:(S. 9): „Nun war aber Ägypten nichts weniger als eine Heimat
des Unsinnes. Es war im Gegenteil eine der frühesten Ent-
wicklungsstätten der menschlichen Vernunft … Es kannte eine
reine und würdevolle Moral und hatte einen großen Teil der
zehn Gebote formuliert, als diejenigen Völker, welchen die heutige
Zivilisation gehört, blutdürstigen Idolen Menschenopfer zu schlachten
pflegten. Ein Volk, welches die Fackel der Gerechtigkeit und
Kultur in so dunklen Zeiten entzündete, kann doch in seinem
alltäglichen Reden und Denken nicht geradezu stupid gewesen
sein … Wer Glas machen und ungeheure Blöcke maschinenmäßig
zu heben und zu bewegen vermochte, muß doch mindestens Ver-
nunft genug gehabt haben, um ein Ding nicht für sich selbst
und gleichzeitig für sein Gegenteil anzusehen. Wie vereinen wir
es nun damit, daß die Ägypter sich eine so sonderbare kontra-
diktorische Sprache gestatteten? … daß sie überhaupt den feind-
lichsten Gedanken ein und denselben lautlichen Träger zu geben
und das, was sich gegenseitig am stärksten opponierte, in einer
Art unlöslicher Union zu verbinden pflegten?“Vor jedem Versuche einer Erklärung muß noch einer Steige-
rung dieses unbegreiflichen Verfahrens der ägyptischen Sprache
gedacht werden. „Von allen Exzentrizitäten des ägyptischen LexikonsS.
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ist es vielleicht die außerordentlichste, daß es, außer den Worten,
die entgegengesetzte Bedeutungen in sich vereinen, andere zu-
sammengesetzte Worte besitzt, in denen zwei Vokabeln von ent-
gegengesetzter Bedeutung zu einem Kompositum vereint werden,
welches die Bedeutung nur eines von seinen beiden konstitu-
ierenden Gliedern besitzt. Es gibt also in dieser außerordentlichen
Sprache nicht allein Worte, die sowohl ‚stark‛ als ‚schwach‛ oder
sowohl ‚befehlen‘ als ‚gehorchen‘ besagen; es gibt auch Kom-
posita wie ‚altjung‘, ‚fernnah‘, ‚bindentrennen‘, ‚außeninnen‘ …,
die trotz ihrer, das Verschiedenste einschließenden Zusammen-
setzung das erste nur ‚jung‘, das zweite nur ‚nah‘, das dritte
nur ‚verbinden‘, das vierte nur ‚innen‘ bedeuten … Man hat
also bei diesen zusammengesetzten Worten begriffliche Wider-
sprüche geradezu absichtlich vereint, nicht um einen dritten Be-
griff zu schaffen, wie im Chinesischen mitunter geschieht, sondern
nur, um durch das Kompositum die Bedeutung eines seiner
kontradiktorischen Glieder, das allein dasselbe bedeutet haben
würde, auszudrücken …“Indes ist das Rätsel leichter gelöst, als es scheinen will. Unsere
Begriffe entstehen durch Vergleichung. „Wäre es immer hell, so
würden wir zwischen hell und dunkel nicht unterscheiden und
demgemäß weder den Begriff noch das Wort der Helligkeit haben
können …“ „Es ist offenbar, alles auf diesem Planeten ist relativ
und hat unabhängige Existenz, nur insofern es in seinen Be-
ziehungen zu und von anderen Dingen unterschieden wird …“
„Da jeder Begriff somit der Zwilling seines Gegensatzes ist, wie
konnte er zuerst gedacht, wie konnte er anderen, die ihn zu
denken versuchten, mitgeteilt werden, wenn nicht durch die
Messung an seinem Gegensatz? …“ (S. 15): „Da man den Begriff
der Stärke nicht konzipieren konnte, außer im Gegensatze
zur Schwäche, so enthielt das Wort, welches ‚stark‘ besagte, eine
gleichzeitige Erinnerung an ‚schwach‘, als durch welche es erst
zum Dasein gelangte. Dieses Wort bezeichnete in Wahrheit wederS.
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‚stark‘ noch ‚schwach‘, sondern das Verhältnis zwischen beiden und
den Unterschied beider, welche beide gleichmäßig erschuf …“
„Der Mensch hat eben seine ältesten und einfachsten Begriffe
nicht anders erringen können als im Gegensatze zu ihrem Gegen-
satz, und erst allmählich die beiden Seiten der Antihese sondern
und die eine ohne bewußte Messung an der andern denken
gelernt.“Da die Sprache nicht nur zum Ausdruck der eigenen Gedanken,
sondern wesentlich zur Mitteilung derselben an andere dient, kann
man die Frage aufwerfen, auf welche Weise hat der „Urägypter“
dem Nebenmenschen zu erkennen gegeben, „welche Seite des
Zwitterbegriffes er jedesmal meinte“? In der Schrift geschah dies
mit Hilfe der sogenannten „determinativen“ Bilder, welche, hinter
die Buchstabenzeichen gesetzt, den Sinn derselben angeben und
selbst nicht zur Aussprache bestimmt sind. (S. 18): „Wenn das
ägyptische Wort ken ‚stark‘ bedeuten soll, steht hinter seinem
alphabetisch geschriebenen Laut das Bild eines aufrechten, be-
waffneten Mannes; wenn dasselbe Wort ‚schwach‘ auszudrücken
hat, folgt den Buchstaben, die den Laut darstellen, das Bild eines
hockenden, lässigen Menschen. In ähnlicher Weise werden die
meisten anderen zweideutigen Worte von erklärenden Bildern
begleitet.“ In der Sprache diente nach Abels Meinung die Geste
dazu, dem gesprochenen Worte das gewünschte Vorzeichen zu geben.Die „ältesten Wurzeln“ sind es, nach Abel, an denen die
Erscheinung des antithetischen Doppelsinnes beobachtet wird. Im
weiteren Verlaufe der Sprachentwicklung schwand nun diese Zwei-
deutigkeit, und im Altägyptischen wenigstens lassen sich alle
Übergänge bis zur Eindeutigkeit des modernen Sprachschatzes
verfolgen. „Die ursprünglich doppelsinnigen Worte legen sich in
der späteren Sprache in je zwei einsinnige auseinander, indem
jeder der beiden entgegengesetzten Sinne je eine lautliche ‚Er-
mäßigung‘ (Modifikation) derselben Wurzel für sich allein okkupiert.“S.
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So z. B. spaltet sich schon im Hieroglyphischen selbst ken
„starkschwach“ in ken „stark“ und kan „schwach“. „Mit anderen
Worten, die Begriffe, die nur antitethisch gefunden werden konnten,
werden dem menschlichen Geiste im Laufe der Zeit genügend
angeübt, um jedem ihrer beiden Teile eine selbstständige Existenz
zu ermöglichen und jedem somit seinen separaten lautlichen Ver-
treter zu verschaffen.“Der fürs Ägyptische leicht zu führende Nachweis kontra-
diktorischer Überdeutungen läßt sich nach Abel auch auf die
semitischen und indoeuropäischen Sprachen ausdehnen. „Wie weit
dieses in anderen Sprachfamilien geschehen kann, bleibt abzu-
warten; denn obschon der Gegensinn ursprünglich den Denkenden
jeder Rasse gegenwärtig gewesen sein muß, so braucht derselbe
nicht überall in den Bedeutungen erkennbar geworden oder
erhalten zu sein.“Abel hebt ferner hervor, daß der Philosoph Bain diesen Doppel-
sinn der Worte, wie es scheint, ohne Kenntnis der tatsächlichen
Phänomene aus rein theoretischen Gründen als eine logische Not-
wendigkeit gefordert hat. Die betreffende Stelle (Logic I, 54)
beginnt mit den Sätzen:The essential relativity of all knowledge, thought or consciousness
cannot but show itself in language. If everything that we can
know is viewed as a transition from something else, every experience
must have two sides; and either every name must have a double
meaning, or else for every meaning there must be two names.Aus dem „Anhang von Beispielen des ägyptischen, indogerma-
nischen und arabischen Gegensinnes“ hebe ich einige Fälle hervor,
die auch uns Sprachunkundigen Eindruck machen können: Im
Lateinischen heißt altus hoch und tief, sacer heilig und verflucht,
wo also noch der volle Gegensinn ohne Modifikation des Wort-
lautes besteht. Die phonetische Abänderung zur sonderung der
Gegensätze wird belegt durch Beispiele wie clamare schreien –
clam leise, still; siccus trocken – succus Saft. Im DeutschenS.
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bedeutet Boden heute noch das Oberste wie das Unterste im
Haus. Unserem bös (schlecht) entspricht ein bass (gut), im Alt-
sächsischen bat (gut) gegen englisch bad (schlecht); im Englischen
to lock (schließen) gegen deutsch Lücke, Loch. Deutsch kleben –
englisch to cleave (spalten); deutsch Stumm – Stimme usw. So
käme vielleicht noch die vielbelachte Ableitung lucus a non
lucendo zu einem guten Sinn.In seiner Abhandlung über den „Ursprung der Sprache“ (a. a. O.
S. 305) macht Abel noch auf andere Spuren alter Denkmühen
aufmerksam. Der Engländer sagt noch heute, um „ohne“ auszu-
drücken, without, also „mitohne“ und ebenso der Ostpreuße. With
selbst, das heute unserem „mit“ entspricht, hat ursprünglich
sowohl „mit“ als auch „ohne“ geheißen, wie noch aus withdraw
(fortgehen), withhold (entziehen) zu erkennen ist. Dieselbe Wand-
lung erkennen wir im deutschen wider (gegen) und wieder
(zusammen mit).Für den Vergleich mit der Traumarbeit hat noch eine andere,
höchst sonderbare Eigentümlichkeit der altägyptischen Sprache
Bedeutung. „Im Ägyptischen können die Worte – wir wollen
zunächst sagen, scheinbar – sowohl Laut wie Sinn umdrehen.
Angenommen, das deutsche Wort gut wäre ägyptisch,
so könnte es neben gut auch schlecht bedeuten, neben gut auch
tug lauten. Von solchen Lautumdrehungen, die zu zahlreich sind,
um durch Zufälligkeit erklärt zu werden, kann man auch reich-
liche Beispiele aus den arischen und semitischen Sprachen bei-
bringen. Wenn man sich zunächst aufs Germanische beschränkt,
merke man: Topf – pot, boat – tub, wait – täuwen, hurry –
Ruhe, care – reck, Balken – klobe, club. Zieht man die
anderen indogermanischen Sprachen mit in Betracht, so wächst
die Zahl der dazugehörigen Fälle entsprechend, z. B.: capere –
packen, ren – Niere, the leaf (Blatt) – folium, dum-a, ϑυμος –
sanskrit mêdh, mûdha, Mut, Rauchen – russisch Kur‑íti, kreischen
– to shriek usw.“S.
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Das Phänomen der Lautumdrehung sucht Abel aus einer
Doppelung, Reduplikation der Wurzel zu erklären. Hier würden
wir eine Schwierigkeit empfinden, dem Sprachforscher zu folgen.
Wir erinnern uns daran, wie gerne die Kinder mit der Um-
kehrung des Wortlautes spielen, und wie häufig sich die Traum-
arbeit der Umkehrung ihres Darstellungsmaterials zu verschiedenen
Zwecken bedient. (Hier sind es nicht mehr Buchstaben, sondern
Bilder, deren Reihenfolge verkehrt wird.) Wir würden also eher
geneigt sein, die Lautumdrehung auf ein tiefer greifendes Moment
zurückzuführen.1In der Übereinstimmung zwischen der eingangs hervorgehobenen
Eigentümlichkeit der Traumarbeit und der von dem Sprach-
forscher aufgedeckten Praxis der ältesten Sprachen dürfen wir eine
Bestätigung unserer Auffassung vom regressiven, archaischen Cha-
rakter des Gedankenausdruckes im Traume erblicken. Und als
unabweisbare Vermutung drängt sich uns Psychiatern auf, daß
wir die Sprache des Traumes besser verstehen und leichter über-
setzen würden, wenn wir von der Entwicklung der Sprache mehr
wüßten.21)Über das Phänomen der Lautumdrehung (Metathesis), welches zur Traum-
arbeit vielleicht noch innigere Beziehungen hat als der Gegensinn (Antithese),
vgl. noch W. Meyer-Rinteln in: Kölnische Zeitung vom 7. März 1909.2)Es liegt auch nahe anzunehmen, daß der ursprüngliche Gegensinn der Worte
den vorgebildeten Mechanismus darstellt, der von dem Versprechen zum Gegenteile
im Dienste mannigfacher Tendenzen ausgenützt wird.
Referat über die gleichnamige Broschüre von Karl Abel, 1884
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