Selbstdarstellung 1925-041/1928
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    VJVM\M_ ‘ ‚«

    Erw}xizn 192)‘ im IV. Band niet Sanmnboerlw: „Dia Medizin dar ngamuarl
    in Selb.ttdarsrzllwngm'‚ h:rautgegubm von Prof. Dr. L. R, Grm. (Verlag
    von Feblz Mm, inpn'gJ

  • S.

    Mehrere der Mitarbeiter an dieser Sammlung von „Selbstdar-
    stellungen“ leiten ihren Beitrag mit einigen nachdenklichen Be-
    merkungen über die Besonderheit und Schwere der übernommenen
    Aufgabe ein. Ich meine, ich darf sagen, daß meine Aufgabe noch
    um ein Stück mehr erschwert ist, denn ich habe Bearbeitungen,
    wie die hier erforderte, schon wiederholt veröffentlicht und aus
    der Natur des Gegenstandes ergah sich, daß in ihnen von meiner
    persönlichen Rolle mehr die Rede war, als sonst üblich ist oder
    notwendig erscheint

    Die erste Darstellung der Entwicklung und des Inhalts der Psycho-
    analyse gab ich igog in füanorlesungen an der Clark University
    in VVorcester, Mass„ wohin ich zur zwanzigjährigen Gründungs-
    feier der Institution berufen worden war.‘ Vor kurzem erst gab
    ich der Versuchung nach, einem amerikanischen Sammelwerk einen
    Beitrag ähnlichen Inhalts zu leisten7 weil diese Publikation „Über
    die Anfänge des zwanzigsten Jahrhunderts“ die Bedeutung der
    Psychoanalyse durch das Zugeständnis eines besenderen Kapitels
    anerkannt hatte.“ Zwischen beiden liegt eine Schrift „Zur Geschichte

    ‚) Englisch erschienen im Am:zicnn Jenmnl uf Psychology. igiu. denne}. unter
    dem Titel „Ulm Piycholrlalyse“ bei F. Deutlcke, Wien, ‚. Aufl. 1924. [Enthalten in
    Bd, IV diewr Gesnmtnntgnbe.]

    :) These eventfu.l years. The twenrieth Century in the making .. „ln hy min)
    uf it. mim. Two vnlnmze Lnndnn nnd New Ynxk‚ Th: Encyclop-edin Eritmnin
    Gampnny Mall Aufsntz‚überseut von Dr. A. A. ErilL bildet Cup. 1.xxm den „weiten
    Bundes. [Dcuuch in diesem Bmtie s. in; e.]

  • S.

    1110 Schner eur dzn thren Iy2}——Iy26

    der psychoanalytischen Bewegung“, igr4,1 welehe eigentlich alles
    Wesentliche bringt, das ich an gegenwärtiger Stelle mitzuteilen
    hätte. Da ich mir nicht widersprechen Chu-f und mich nicht ohne Altl-
    änderung wiederholen möchte, muß ich versuchen, nun ein neues
    Mengungsverhälmis zwischen subjekfiver und objektiver Darstellung,
    mischen biographischem und historischem Interesse zu finden.

    Ich bin uni 5. Mai ua:-‚6 zu Freiberg in Mähren geburen, einem kleinen
    Stidtehen der heutigen Treheehurluwaltei. Meine Eltern waren Juden, auch ich
    bin Jude geblieben. Von meiner väterlichen Familie glaube ieh zu winen‚ daß
    sie lange Zeiten am Rhein (in Köln) gelebt hat, am Anlaß einer Juden—
    verfulgung im vierzehnten oder Iiinfwhnten Jahrhundefl nach dem Osten floh
    und int Laufe dea neunzehnten Jahrhunderts die Bückwanrlernng von Litauen
    über Galizien nach dern deunehen Ost:-„eich entm. Als Kind von vier Julnen
    hm ich nach Wien. wo ich alle Schulen durebrnachte. Auf dem Crymnarium
    war ieh dureh rieben Juhre Primur, hatte eine bevurzugte Stellung, wurde
    kann. je geprüft. Obwohl wir in sehr beengten Verhältninen lebten, ver
    lmgte mein Vater, daß ich in der Berufrvvehl nur meinen Neigungen
    folgen rollen Eine berundere Vorliebe fiir die Stellung und Tätigkeit der
    Amer habe ich in jenen lugendiahren nicht vnspün. übrigens uueh :päwr
    nieht. Eher bewegte mich eine Art von Wißbegierde‚ die sich aber mehr
    auf menschliche Verhältnine als auf nuriirliche Objekte bezug und auch
    den Wert der Beubaehrnng air einer Haupnninelr zu ihrer Be£riedigung
    nicht nkannl harte. Inder. die damals alrruelie Lehre Bernina zug mich
    mächtig an. weil sie eine außerurdentliche Förderung der Weltverruindniaaee
    venprach. und ich weiß. daß der Vortrag von Goethe: xchönem Auhutz
    „Die Naiur“ in einer populären Verlerung kurz vor der Reifeprüfung die
    Entscheidung geb, daß ieh Medizin inskribierte.

    Die Universität, die ich 1875 bezog, brachte mir zunäehrt ei ige fiihb
    bare Eutiiiurehungen. Vor allem tini mich die 2umnmng. deli ich mich
    als minderwerfig und nich vullrrzugehörig fiith rullte. weil ich Jude
    war. Das errrere lehnte ich mit uller Entschiedenheil ab. Ich habe nie
    begriffen, wnrum ieh mich meiner Abkunft, oder wie nun zu sagen begann:
    Rar.e‚ rehiirneu rullte. Auf die mir verweigerte Vollrrgerneiurehrft verzichtete
    ich ohne viel Beduuern. Ich meinte. daß rich fiir einen eihigen Mitarbeiter

    r) Errehienen im Juhrbueh der I>ryebuenelyre lid. vi. neuerdingl ‚sie nie Sander
    .bdruclt veröfi'enllichl. [Enihnlten in lad. IV dlerer Ges.miuurguhe.]
    -

  • S.

    ein Plätzchen innerheib der Rahmen. du Mewelmmm auch nhne eu1ehe
    Einreihung finden nuiun. Aber eine für .pixerwiehiige Folgp die-er euren
    Eindrücke vun der Univenität wer. daß ich en &ülnniaig mit dem IM
    vertraut wurde, in der Opporitian zu nahm und vun der ‚komplhtn
    Mnjon (" in Bann gem: zu wm!en Eine gewinne Umbhineiekziv des _
    Uneih wurde ru vorbereitet

    Außerdem mußte ich in den mm Univerrivinjahren die Erhhmng
    machen. aus Eigenheit und Enge meiner Begabungen mir in mehreren
    winemchafvliehen Fächern. auf die ieh mich in jugendlichen Uherei£er
    genrüm hatte, jeden Erfolg vemgven. Ich len-me in die Wahrheit der Mnhnung
    Mephimn erkennen:

    Vergehen], den ihr ringinm viuenmhlhlich echweifi.
    Ein jeder Im! nur, wu er lernen kann,

    Im phyuinlngimhm Labmlnrium von Ernlt Brücke fund ieh endlich
    Ruhe und volle Befriedigung, auch die Petmnen, die ieh relpekünren und
    zu Vorbildern nehmen kunuve. Brücke nellre mir eine Aufgnhe nur der
    Hiuolngie de. vaenl'ysheml. die ich zu seiner Zufriedenheit löml und selb-
    nändig weiterführen hnnnve. Ich arbeitete in dierem Inrciruz von rß7fi—rdde
    mit knnen Umerhreehnngen und geil Allgemein e1r del'ig'nien fiir die nänhme
    sich dan ergebende Aneinenvenneile, Die eigendiah mzdiziniwhen Fächer
    zogai minh — mit Au.nnhme der Pnychinlxie — nicht un. Ich ben-ieh
    du medizininche Studium recht nenhliuig, wurde euch am um, mit
    ziemlicher Ver-pinmg film, zum [lohnt der geermeu Heilkunde promovim.

    Die W-dung knur lese, ih mein über elle. verehn=r Lehrer den
    grnßmün‘gen ieinhninn meines Vntm korrigierte. indem er mich mit Rück-
    sicht auf meine .ehleehve mia-19119 Lege dring‘end mhnre, die eheure1irehe
    laufhnhn aufzugeli. Ich fu1gvn |aiimm Rum, verließ der phyuiulugjlnhe
    Labnmmrium und nm el. Alpth in du Allgemeine Krmk=nhnul ein.
    Don wurde ich nach einiger zn: zum Sekunan (Interne) hdöxdm
    und dienre ln vdnv:lüedenen Abteilungen, uunh 1inger nl. ein hll'bel Jehr
    bei Meynnrv, deinen Werk und Perliinlichkeit mich lahm ul: Studenten
    geienelv innen.

    In gewiuem Sinne blieb ich doch der zum eingerehlngenen Arbeivr—
    richtung rreu‚ Brücke heme mich in da! Rück-_u-k eine. den niedrigrlen
    Fiiche (AmmonuemrPeuomywn) dh Unten-mchnngxnbiekv. gewißen, ieh ging
    nun zum menrehliehen Znnualnmenlystem iiber, auf denen verwickelte
    Fileng die Fleeh.igrehen Funds der nngleiclnuiügm Merkinhaiden-
    bildnng dem-h gernde ein hellen Licht werfen, Auch daß ich mir mich“

  • S.

    san n ‚m. lim Jahren 1923—1925

    einzig und allein die Medulla ublongata zum Objekt wählte, war eine
    Fortw'irkung meiner Anfänge. Recht im Gegenrntz zur diffinen Naun' meiner
    Studien in den ersten Universitäuinhren entwickelte ich nun eine Neigung
    zur aueechlicßentlen Konzentration tler Arbeit auf einen Siafi' oder ein
    Problem. Diese Neigung ist mir verblieben und hat mir .päter den Vorwurf
    der Einreitigkeit eingetragen

    Ich wu nun ein ebenso eifriger Arbeiter im gehirnnnatonaischen Inn-hm
    wie friiher im physiologischen. Kleine Arbeiten über Faserverlnuf und Kern»
    nre„riinge in der 0blongata sind in diesen Spi'allilhren entstande‚u und
    immerhin von Edinger vennerktworrlen. Einee'l'ager machte mir Meynert.
    der mir das Laboratorium eröfi'net hatte. auch als ich nicht bei ihm silente,
    den Vorschlag, ich solle mich undgihig tler Gehirnanatoniie zuwenslen,
    er verepreche, mir seine Vorlesung abzutrelen, denn er fühle sich zu alt,
    um die neueren Methoden zu handhaben. Ich lehnte, erschreckt durch die
    Größe der Aufgabe, eb; auch mochte ich damals schon erraren haben, daß
    der geniale Mann mir keineswegs wohlwollencl geeinnt sei.

    Die Gehirnanatornie wer in praktiacher Hinsicht gewiß kein Fflnlchrit!
    gegen die Physiologie. Den materiellen Anforderungen trug ich Rechnung,
    indem ich da: Studium der Nervenlrrnnkheiten hegann. Dieses Spezialfnch
    wurde damals in Wien wenig gepflegt, rlar Material war auf verschiedenen
    internen Abteilungen ventreut, er gab keine gute Gelegenheit rieh nur
    zubilden, man mußte rein eigener Lehrer sein. Aueh Nothnngel, den
    man kurz vorher auf Grund seines Buches iiber die Gehirnlokalisaeion
    berufen hatte, zeichnete die Neuropathnlogie nicht vor anderen Tcilgebieten
    tler internen Medjlin ein. In tler Ferne lenchtete der große Name Charcots
    und so machte ich mir den Plen, hier .iie Dozentur fiir Nervenkrankheinen
    zu erwerben und dann zur weiteren Ausbildung nach Paris zu gehen.

    In den nun folgenden Jahren qekundaxäntlichen Diemte; Vuöflendichle
    ich mehrere kaluiliische Beobachtungen über organische Krankheiten des
    Nervenlystemm Ich wurde ullmählich mit dem Gebiet vertraut; ich ventaud
    es. einen Herd in der 0blongata so genau zu lokalisieren, rlnß der pathologische
    Anetorn nicht. hinzuzusetzen hatte ieh wer rien- erste in Wien, der einen
    Fall mit der Diagnose Polyneur rs aeutn zur Sektion schickte. Der Ruf
    meiner durch die Autopsic bestätigten Diagnnsen trug mir den Zulqu
    amerikanischer Ärzte ein, denen ich in einer Art von Pidgin-Ezlglish Kurse in
    den Kranken meiner Abteilung las. Von den Nenrnsnn verrinnrl ich nichts.
    Als ich einmal meinen Hörern einen Nemotiker mit fixiertem Kopfschmerz
    als Fall von chronischer zirkumskripter Meningiiis vorstellte, fielen sie alle

  • S.

    „SW:ulbmg‘ 155

    in berechfig\er lnici.eher Auflehnnng von min ““und meine vafleiüge
    Lehrtätigkeit hme ein Ende. Zu meiner Eumhuldigung .ei hemerkt. &
    wer die nie in Buch größere Auturilimn in Wien die Neurenhenie ele
    Hirnmmor rn iiegnnnirieren pfleguen.

    lrn Frühjahr 1855 erhielt ich die Domntur lin- Neurupnhelegie euf
    Grund meiner histnlugilchen und klinirnhen Arbeiten. Beli dmuf wurde
    mir infolge del warmen Fünpxuchl Brücken ein größerer Reinnipenflium
    zugeteilt. Im Herlm &“ Jahre- reine ich neeh Pax-ir.

    Ich trat elr Eleve m die Selpecriere ein, fund eher enfengr ein einer
    der vielen Mid'äufer In! der Fremde wenig Beachtung, Einer Teges höm
    ich Char-eur rein Beieuern derliher äußern. deli der demth Ühmewn
    reiner Vurluungm reii dm Kfiege niehn van rieh hehe hören innen. El
    wäre ihm lieh, wenn jemand die dennehe Übenenung reiner „Neuen
    Vorlesungen“ übernehmen wiirde. Ich bat mich ederifilieh dem an; ich
    weiß noch, deli der Brief die Wendung mlhiell, ich .ei bloß mit der
    Aphaiie meniee, eher nicht mir der Apheeie eenmrielle du fiunqaix he-
    hefier. Churcot akzepn'ene mich. eng mich in willen Priververlrehr und
    vun da m hat!: ieh meinen vollen Anteil in ellem. wu en! der Klinik
    vurging.

    Während ich die. eehreihe, erhelea ieh eeh1reiehe Aufihz: nnd Zeimnge-
    artikel aus Frenlneieh. die von dem hefiigen Sträuben gegen die Anfnehme
    der Peychoenelyee tungen und oft die nnruneiiendeien Beheupnmgen iiber
    mein Verhi'lmi. rer franzöriwheu Schule außtellen. So lern. ich :. B.. 615
    ieh meinen Anfendmh in Peri- dazu \mm'üzt, mieh mit den Lehren von
    P, Janet wem-ut rn rennhen, nn.i denn mit meinem Beuhe die Fleehi
    ergriffen hehe. [eh will thrum amdriickl.ich erwähnen. deß dee Nemn
    Jane" wihrumi meinei verweilen. en der Selpeuiere iib‘erhnuyt nicht
    genannt wurde.

    Von allem. wu ieh hei Chlrcol .eh, muchwn mir (im größ‘nn Ehi-
    druck sein: lemen Unimuehnngen über die Hyltaie‚ die zum Teil nach
    111119! meinen Augen emgefiihri wurden. Alm der Nm;hw:il der Echtheit
    und Gesetzmäßigkeit der hyumritchen Phänomene („Intml'ta er hi: dä
    rnut"}‚ den häufigen Vm-lrnmmen. der Hynne-ie hei Männern, die Emu-
    gung hynerischer l.ihmung- und Kunmktnten durch hypnotixdm Sug-
    geseinn‚ dal Ergebnil, daß iin-e Kunarpmduhe dieeelhen Cherehere bis
    im eineelnne zeigen wie die lpontlmzn‚ nfi durch Trenme hervor enen
    Zuhille‚ Menche vun Chlrcnh Demannnüonan herren hei mit wie hei
    anderen einen euniehn Befiemden und Neigung zum VViden-pmd-n mengt.

  • S.

    194 Schriften nur den Jahrm ryr;—rge‘s

    den wir durch Berufung auf eine der hemchenden Theorien zu ettitzen
    vernichten. Er erledigte mlche Bedenken immer freundlich und geduldig.
    aber auch sehr bestimmt; in einer dieser Diskussiunen fiel das Wort: 91
    n’cmpéche pn: d'zristzr, dar rich ruir unvergelilich aingepriigt hat,

    Bekanntlich iat heute nicht mehr alles aufrecht geblieben. was uns
    Charcnt damalr lehrte. Einigea ist unsichsr geworden, anderer hat die
    Probe der Zeit offenbar nicht bcttanden‚ Aber er irt genug davon übrig
    geblieben, war ah dauernder Besitz der Wittenrehnft gewertet wird. Ehe
    ich Pan's verließ, verabredete ich mit dem Meiner den plan einer Arbeit
    zur Vergleichung der hyrterirchen mit den organischen Lähmnngen ich
    wollte den Satz duchführen, daB bei der Hyrteria Liihnrungen und Anär
    thesien einzelner Körperteile rich ro nbgrenren, wie er der gemeinen (nicht
    anntotniachen) Vurdtellung de. Menrchen enupricht. Er war damit einm—
    standen, aber er war leicht zu sehen, daß er irn Grunde keine besondere
    Vorliebe fiir ein tieferes Eingehen in die prychologie der Neurnee hatte.
    Er war doch von der pathologischen Anatomie her gekommen,

    Ehe ich nach Wien zurückkehrte, hielt ich mich einige Wochen in
    Berlin auf, um cnir einige Kenntnisse iiber die illgerneinen Erkrankungen
    det Kinderolters zu holen Kunowitz in Wien, der ein öffentliches Kinder
    krankeninetitnt leitete, hatte verspmchen‚ mir dort eine Abteilung fiir
    Nervenkrnnkhcitcn der Kinder einzurichten. ich fand in Berlin bei At1.
    Baginrky freundliche Aufnahme und Förderung, Ani dern Kaaacwitzrchen
    Inititut habe ich irn Laufe der nächsten Jahre mehrere größere Arbeiten
    iiber die einteitigen und doppeldeiügen Gehirnliihrnungen der Kinder ver
    öffentlicht. Demzufolge übertrug rnir uuch lpäter 1897 Nothnagel die
    Bearbeitung der enuprenhenden Studer in reinen. großen „Handbuch der
    allgemeinen und spe1.ii=llen Therapie“.

    im Herbrt isss ließ ich mich in Wien nl: Am nieder und heiratete
    dan Mädchen, der teir länger ah vier Jahren in einer fernen Stadt auf
    mich gewartet hatte. Ich kann hier riiekgreifend erzählen, daß es die Schuld
    meiner Braut war, wenn ich nicht schon in jenen jungen Jahren berühmt
    geworden bin. Ein abseitigee, aber tiefgehcnder Interesse hatte mich isdn
    veranlnlit, ruir der damals wenig bekannte Alkaloid Kokain von Merck
    kommen zu lassen und dessen phyriolngirche Wirkungen zu ttudieren,
    Mitten in dieser Arbeit eriiflnete eich rnir die Ansicht einer Reise. urn
    meine Verlobte wicde„nrehen‚ vun der ich zwei Jahre getrennt gewesen
    war. Ich mhloß die Untersuchung iiber dar Kokain nach ob und nahm in
    meine Publikation die Vorhenage ruf. daß sich bald weitere Verwendungen

  • S.

    „Selbst/iarstzllwtg' ; 55

    des Mitteln ergehen würden. Meinem Freunde, dem Augenarzt L. König
    "ein, ll:g\e ieh aber nahe. zu prüfen, inwieweii sieh die anänhmierenden
    Eigenrehairen des Kokaim am kranken Auge verwerren ließen. Als ich vom
    Urlauh nnüukkam fand ieh, daß nicht er, sondern ein anderer Freund,
    Carl Koller Gem in New York), dem ich auch vum Kokain enählt, die
    entscheidenden Versuche am Tierauge angestellt und sie auf dem Ophthdlrno—
    logenknngreß zu Heidelberg demonstriert hatte, Koller gilr darum mil
    Recht als der Enrdeelrer der Inkalanäinhesie durch Kokain, die für die
    kleine Chirurgie in wichüg geworden ist; ich eher hehe mein damalige.
    Venäumnis meiner Bram niehr nachgeirugen.

    ieh wende mich nun wieder zu meiner Niederlassung als Nervenarn in
    Wien isse. Er lag mir die Verpfliehrung oh, in der „Gesellsehafl der
    Arne“ Bericht iiber das zu ernanen, war ich hei Charcut gesehen und
    gelernt hatte. Allein ich fand eine uhle Aufnahme. Maßgehende Personen
    wie der Vorsitzende, der Lnrernisr Bamberger. erklärten da:. war ich er-
    zählte, fiir unglauhwiirdig. Meynen forderte mich auf, Falle. wie die von
    mir geschildertgn, doch in Wien aufeusunhen und der Gerellsehafi vorzu-
    stellen. Dies versuehre ieh auch, eher die Primariime, auf deren Ahmilung
    ich sclche Fälle fand, verweigenen es mir, sie zu beobachten oder zu he
    arbeiten, Einc1 von ihnen, ein eher Chirurg, hraeh direln in den Ausruf
    am: „Aber Herr Kollege, wie können Sie lolchen Unsinn redenl Hysreron
    (rien heißt doeh der Ueerus. Wie kann denn ein Mann hysteriinh rein?“
    Ich wendete vergehen: ein, daß ich nur die Verfügung iiher den Krankheire-
    fall brauchte und nicht die Genehmigung meiner Diagnose, Endlich Lrieh
    ich außerhalh des Spirale einen Fall von klasr'llcher hyneriaeher Hemi-
    anänhesie bei einem Manne auf, den ich in der „Gesellschaft der Änte“
    den.anandefle‚ Diesmal hlarsehle man mir Beilall, nahm aber weiter kein
    Interesse an mir, Der Eindruck. daß die großen Auwriiäten meine Neuig»
    keiten ahgelehnr hätten. hlieh unenchünen; ich fand mich mir der mänrr
    lichen Hysterie und der suggeniven Erseugung hynerieeher Lähmungen
    in die Opposition gedxängt. Ali mir bald darauf du hinianatomische Lahm-
    turiu_m veraperrt wurde und ieh durch Semesrer kein Lokal hane, in dem
    ich meine Vorleanng ahhahen lsnnme, zog ich mich aus dem akademisnhen
    und Vereinsleben zurück. Ich hehe die „Gemlhdnf: der Äme“
    Menschenalter nicht mehr bemüht.

    Wenn man von der Behandlung Nervenknnker leben wullle, mußte
    man oFfenl-mr ihnen eiwae lehren können. Mein zherapeuiieche. Arsenal
    umfaßse nur zwei Waffen, die Elelnrueherapie und die Hypnose, denn die

    um ein-

  • S.

    .a5 Schrzfun aus den Jahren 1923—1925

    Versendung in die Warserheilanstalt nach einmaliger Konmltatinn war keine
    zureichende Erwerbxquelle. ln der Elekrmthexapie vertraute ich mich dem
    Handbuch von W, Erle an, welche! detaillierte Vorschriften für die Behand-
    lung aller Sy'rnptume der Nemenleiden zur Verfiigung ltellte. Leider mußte
    ich bald erfahren, daß die hefnlgung die1er Vorschriften niemals half, daß,
    wu! ieh für den Niederaehlag exakter Beobachtung gehalten hatte. eine
    phantastische Konstnl.ktinn war. Die Eimicht, daß das Werk des ersten
    Namen: der deußchen Neuropathologie nicht mehr Beziehung zur Reul.ität
    hahe ala etwa ein „ägyptiiche!“ Traumbneli, wie ea in unseren Volks-
    buclihandlungen Verl-lauft wird, wa: schmenljch, aber die verhalf dazu,
    wieder ein Stück des naiven Autoritätsglanbem abzumgen, von dem ieh
    nach nicht frei war, So ll:th ich denn den elektriiclien Apparat beiseite,
    noch ehe Möbiua des erlölende Wort geiprochen hatte, die Erfolge der
    elektritchen Behandlung bei Nervenknnlten seien — wo sie nich überhaupt
    ergeben ‚ eine Wirkung der ärztlichen Suggestion.

    Mit der Hy1innie "und ei heuer. Noch all Student hatte ich einer
    öffendinhan Vorrtellu_ng den „Magnetiaeun“ Hanaen beigewohm und he-
    merkt. daB eine der Venuchsperstmeu totenbleich wurde, al. in in katalep-
    tiwhe Starre geriet und während der ganzen Dann des Zurtande: so ver—
    hame. Damit war meine Ubenengnng von der Echtheit der hy'pnotieche'n
    Phänummc [est begründet. Bald nachher fand diese Aufteilung in Heiden*
    hain ihren willenichaftlinhen Vertreter, wu aber die Professoren der
    Peychiat'rie nicht abhiek. noch auf lange hinaus die Hypnule fiir etms
    thwindelhai'teu und überdiei Gefährliche! zu erklären und auf die Hypnuti-
    leute geringschätzig henb1ulchauen. In Paril hatte ich gesehen. daß man
    ich der Hypnose unbedenklich all Methode bediente. um bei den Kranken
    Sympmme zu schießen und Wieder eufzuhehen. Dann drang die Kunde zu
    uns, daß in Nancy eine Schule enmenden war, welehe die Suggestion
    mit oder ohne Hypnole im großen Auemhße und mit belonderem Erfolg
    zu therapeutischen Zwecken verwenden. Es machte sich an ganz natürlich.
    daß in den unten Jahren meiner ärztlichen Tätigkeit, von den mehr
    zufälligen und nicht systematischen prychothenpeutiiclien Methoden ab-
    geaehen. die hypnat'irche Suggestion mein hangndehhehe: Arbeiumittel

    wurde.

    Damit war zwar der Venicht auf die Behandlung der organimlzen
    Nervenkra‘nkheiten gegeben, aber da. verachlug wenig. Denn einerseits gab
    die Therapie diem 7nmände überhaupt keine erfreuliche Aussicht und
    mdeneitl verschwand in der Stadtpraxix des Privatanles die geringe Anzahl

  • S.

    „Sehhmiarstcllung“ „7

    der in ihnen Leidenden gegen die Menge von Nervtieen, die rich überdier
    dndurch vervielfiiltigien, daß sie nneflöst von einem Arzt zum anderen
    liefen. Samt aber war die Arbeit mit der Hypnnre wirklich verführeriech.
    Man hatte zum entenmal clar Gefühl seiner Ohnmaeht überwunden. der
    Ruf der Wundeniiterr war rehr mhmeichelhafi. Welcher die Mängel der
    Verfahrenr waren, rollte ich später entdecken. Vuxläufig konnte ich mich
    nur iiber zwei Punkte beklagen, erstem, daß er nicht gelang. alle Kmnken
    zu hypnol'idieren; zweitem, daß man er nicht in der Hand halte, den
    einzelnen in so tiefe Hypnme Zu verretzen, alt men gewünrcht hätte. In
    der Absicht, meine hypnorhche Technik zu vervchcmmnen. reine ich im
    Summer ißdg nach Nancy, wo ieh mehrere Wuchen ruhmchte. Ich sah
    der. rtihrenden alten Liebuult bei reiner Arbeit an den armen Freuen und
    Kindern der Arbeiterbevhlkenmg, wurde Zeuge der entnunlichen Experi-
    mente Bernheims an reinen Spitnlrnatienten und hohe mir die närkslen
    Eindrücke von der Möglichkeit mächtiger reelircher Vorgänge, die duch
    dem Bewußtrein dee Menrchen verhiillt bleiben. Zum Zwecke der Belehrung
    hatte ich eine meiner Patientinnen bewegen, nach Nancy nachrukcmmen.
    Es war eine var-nehme. genial begabte Hyeter-ika, die mir iiberlnren werden
    war, weil man nichts mit ihr anzufangen wußte. Ich hutte ihr durch
    hypnnrische Beeinflussung eine menrehenwiirdige Exiitenz ermöglicht und
    konnte eie immer wieder am dem Elend ihrer Zustände hnaulheblzn.
    Daß rie iedermal nach einiger Zeit rückfa'flig wurde, rchcb ich in meiner
    damaligen Unkennnrir darauf, daß ihre Hypnme niemals den Grad vun
    Scmnemhulirmur mit Amnesie erreicht hatte. Bernheim verrucbte er nun
    mit ihr wiederhelte Male, brachte es aber aueh nicht weiter. Er gertnnd
    mir freim g, daß er die grußen therapeutischen Erfolge durch die Sug—
    gesünn nur in reiner Spitalsprdxis. nicht auch an reinen Privatnatienten
    ereiele. Ich hatte viele anregende Unterhaltungen mit ihm und übernahm
    er, reine beiden Werke iiber die Suggestiun und ihre Heilwirkungen ins
    Deutsche zu iibeneteen.

    lm Zeitmum von rtin—rdgi habe ich wenig winenschnftlich gearbeitet
    und kaum etwnr publiziert. Ich war davon in Anrgruch genommen, mieh
    in den neuen Beruf zu finden und meine materielle Ereirtene mwie die
    meiner rasch anwachsentien Burnilie zu richern r89r erschien die erste
    der Arbeilen über die Gehimlähmungeu der Kinder, in Gemeinrchaft mit
    meinem Freunde und Arrirtenten Dr. 0rknr Ria abgefadt. ln demselhrn
    Jahre vemnlafite mich ein Auftrng der Mitarbeitenchaft an einem Hand—
    wörterbuch der Medizin, die Lehre vun der Aphuie ru erörtern. die damalr

  • S.

    „8 Schriften am den Jahren 1921—1yz6

    van den rein lnknlimtorim'hen Gefinhupunkmn Wernicke-Lichtheims
    beherncht war, Ein kleine; krifisch»:p=kuhfim Buch „Zur Auffammg der
    Aphalie“ wmv die Frucht dieser Bemühung. Ich hm um ihn zu verfnlgm,
    wie es kam. daß (lie winenmhnffliche chhmg wieder zum H.upümw
    „„ meine. Lebeni wuxd‚e.

  • S.

    II

    Meine frühere Darstellung ergänzend, muß ich angeben, daß
    ich von Anfang an außer der hypnntischen Suggestion eine
    andere Verwendung der Hypnose übte‚ Ich bediente mich ihrer
    mr Ausforschung des Kranken über die Entstehungsgeschicl’nte
    seines Symptoms, die er im Wuchzusmnd nfi gar nicht oder
    nur sehr unvollkommen mitteilen konnte. Dies Verfahren schien
    nicht nur wirksamer als das bloß suggmtive Gebot oder Ver-
    bot, es befriedig‘be auch die Wißbegierde des Arztes, der doch
    ein Recht hama, etwas von der Herkunft des Phänomens zu er»
    fahren, das er durch die monotone suggestive' Prozedur aufzu«
    heben slrebte.

    Zu diesem anderen Verfahren war ich aber auf folgende Weise
    gekommen. Noch im Brückeschen Laboratorium wurde ich mit
    Dr. Josef Breuer bekannt, einem der angesehensten Fenfi1ieniinue
    Wiens, der aber auch eine wisenschnftliche Vergangenheit hatte,
    da mehrere Arbeiten von bleibenden Werne über die Physiologie
    der Atmung und über das Gleichgewichtsurgan von ihm henührten.
    Er war ein Mann von überragender Intelligenz, vierzehn Jahre
    älter als ich; unsere Beziehungen wurden bald intimer, er wurde
    mein Freund und Helfer in schwierigen Lebenslagen. Wir hatten
    uns daran gewöhnt‚ alle wissenschaflflicben Interessen mireinander
    zu teilen Natürlich war ich der gewinnende Teil in diesem Ver-
    hälmis. Die Entwicklung der Psychoanalyse hat mich dann seine

    Fund xx. g

  • S.

    150 Schn'ften „in der: Jahrm „z,—1925

    Freundschaft gekostet. Es wurde mir nicht leicht, diesen Preis
    dafür zu zahlen, aber es war unnusweieblieh.

    Breuer hatte mir, schon ehe ich nach Paris ging, Mitteilungen
    über einen Fall von Hysterie gemacht, den er in den Jahren 1880
    bis 1889 auf eine besondere Art behandelg wobei er tiefe Einblicke
    in die Verursachung und Bedeutung der hysten'seben Symptome
    gewinnen konnte. Das war also zu einer Zeit gesehehen, als die
    Arbeiten Janet; noch der Zukunft angehörten. Er las mir wieder-
    holt Stücke der Krankengeschichte vor, von denen ich den Eindruck
    empfing, hier sei mehr für das Verständnis der Neurose geleistet
    werden als je zuvor. Ich beschluß bei mir, Charcot von diesen
    Funden Kunde zu geben, wenn ich nach Paris käme, und tat dies
    dann auch. Aber der Meister zeigte für meine ersten Andeutungen
    kein Interesse, so daß ich nicht mehr auf die Sache zurückkam
    und sie auch bei mir fallen ließ.

    Nach Wien zurückgekehrt, wandte ich mich wieder der Breuer-
    schen Beobachtung zu und ließ mir mehr von ihr erzählen. Die
    Patientin war ein junges Mädchen von ungewöhnlicher Bildung
    und Begabung gewesen, die während der Pflege ihres zärtlich
    geliebten Vaters erkrankt war. Als Breuer sie übernahm, hat sie
    ein buntes Bild von Lähmungen mit Kontrakturen, Hemmungen
    und Zuständen von psychischer Verwnrrenheit. Eine zufällige Be
    obechtung ließ den Arzt erkennen, daß sie von einer solchen
    Bewußtseinstrübung befreit werden konnte, wenn man sie vee
    nnlaßte, in Worten der effektiven Phantasie Ausdruck zu geben,
    von der sie eben beherrscht wurde. Breuer gewann eus dieser
    Erfahrung eine Methode der Behandlung. Er versetzte sie in tiefe
    Hypnose und ließ sie jedesmal von dem erzählen, was im Gemüt
    bedruckte. Nachdem die Anfalle von depressiver Verwonenheit auf
    diese Weise überwunden waren, verwendete er dasselbe Verfahren
    zur Aufhebung ihrer Hemmungen und körperlichen Störungen.
    lm wachen Zustande wußte das Mädchen so wenig wie andere
    Kranke zu engen, wie ihre Symptome entstanden waren‚ und fand

  • S.

    „Seßrtdnrrrraimg“ 151

    kein Band zwischen ihnen und irgendwelchen Eindrücken ihres
    Lebens. in der Hypnose entdeckte sie sofort den gesuchten zii,
    sammenbsng. Es ergab sich, daß elle ihre Sympmme auf eindrucks-
    volle Erlebnisse während der Pflege des kranken Vaters zurück—
    gingen, also sinnvoll waren, und Resten oder Reminiszenzen dieser
    affektiven Situationen entsprnehen. Gewöhnlich war es so zugegan-
    gen, daß sie am Krankenbett des Vaters einen Gedenken oder
    lmpuls hatte unterdrücken müssen; an dessen Stelle, in seiner
    Vertretung, war dann später das Symptom erschienen. In der Regel
    war aber des Sympwm nicht der Niederschlag einer einzigen
    „Lraumaüschen“ Szene, sondern des Ergebnis der Summetion von
    zahlreichen ähnlichen Situationen. Wenn nun die Kranke in der
    Hypnose eine solche Situation halluzinamrisch wieder erinnerte
    und den damals unterdrückten seelischen Akt nachträglich unter
    freier Affektentfaltung zu Ende führte, war das Symptom weg—
    gewiseht und trat nicht wieder auf. Durch dies Verfahren gelang
    es Breuer in langer und mühevnller Arbeit, seine Kranke vun
    all ihren Symptomen zu befreien

    Die Kranke war genesen und seither gesund geblieben, ja he—
    deutsenrer leistungen fähig geworden. Aber über dem Ausgang
    der hy'pnotischen Behandlung lestete ein Dunkel, das Breuer mir
    niemals anfhellte; auch kannte idi nicht verstehen, warum er
    seine, wie mir schien, nnschätzhare Erkenntnis so lange geheim
    gehalien hatte, anstatt die Wissenschaft durch sie zu bereichern.
    Die nächste Frege aber wer, ob man verellgemeinem dürfe, was
    er an einem einzigen Krankheitsfahe gefunden. Die von ihm auf-
    gedeckten Verhältnisse erschienen mir so firndarnentaler Natur, daß
    ich nicht glauben konnte, sie würden bei irgendeinem Falle von
    Hysterie vermißt werden können, wenn sie einmal hei einem
    einzigen nachgewiesen waren. Doch konnte nur die Erfahrung
    darüber entscheiden Ich begann also die Breuer-schen Unter-
    suchungen an meinen Kranken zu wiederhulan und tat, besonders
    nachdem mit der Besuch bei Bernheim 1889 die Begrenzung

    g“

  • S.

    r5a Schriften aus dm Jahr-m 1y23—1326

    in der Leistungsi‘a'higkei: der hypnoljschen Suggestiun gezeigt hatte,
    überhaupt nichts anderes mehr. Als ich mehrere Jahre hindurch
    immer nur Bestätigungen gefunden hatte, bei jedem Fa]le von
    Hysterie, der solcher Behandlung zugänglich war, auch bereits
    über ein stattliches Material van Beobachtungen verlügie, die der
    seinigen analog waren, schlug ich ihm eine gemeinsame Publikation
    vor, gegen die er sich anfangs heftig sträubte. Er gah endlich nach,
    zumal da unterdes Janets Arbeiten einen Teil seiner Ergebnisse,
    die Zurückführung hysterischer Sympbume auf Lebenseindrücke
    und deren Aufhebung durch hypnutisehe Repmduklrion in ‚man
    „menü verweggenurnnaen hatten. Wir ließen 1893 eine vor»
    läufige Mitteilung erscheinen: „Über den psychischen Mechanismus
    hysteriseher Phänomene.“ 1895 fulgte unser Buch „Studien über
    Hysterie“.

    Wenn die bisherige Darstellung heim Leser die Erwartung erweckt
    hat, die „Studien über Hysterie“ würden in allem Wesentlichen
    ihres materiellen 1nhalts Breuers geistiges Eigentum sein, su ist
    das genau dasjenige, was ich immer venreten habe und auch diesmal
    aussagen wollte. An der Theorie, welehe das Buch versucht habe
    ich in heute nicht mehr bestimmbarem Ausmaße mitgearheitet.
    Diese ist bescheiden, geht nicht weit über den unmittelbaren Aus-
    druck der Beobachtungen hinaus. Sie will nicht die Natur der Hysterie
    ergriinclen, sondern hieß die Entstehung ihrer Symptome beleuchten.
    Dabei betont sie die Bedeutung des Afl‘ektlebens‚ die Wichtigkeit
    der Unterscheidung zwischen unbewußten und bewußten (besser:
    bewußtseinsfa'higen) seelischen Akten, führt einen dynamischen Faktor
    ein, indem sie das Symptom durch die Aufstauung eines Afl'eh.s
    entstehen läßt, und einen ökonomischen, indem sie dasselbe Sym-
    pmm als das Ergebnis der Umsetzung einer sonst andersvvie ver—
    wendeten Euergiemenge betrachtet (sog. Konversion). Breuer
    neunte unser Verfahren das kathartische; als dessen therapeuti-
    sche Absicht wurde angegehen, den zur Erhaltung das Symptom
    ven_wendeten Afi'ektbetrag, der auf falsche Bahnen geraten und dort

  • S.

    „Seüutdarszcllung“ rg‚_1‚

    gleichsam eingeklemmt war, auf die normalen Wege zu leiten, wo
    er zur Abfuhr gelangen konnte (abreagieren). Der praktische
    Erfolg der kathsrtlsehen Prozedur war ausgezeichnet. Die Mängel,
    die sich später herausstellten, waren die einer jeden hypnotischen
    Behandlung. Noch jetzt gibt es eine Anzahl von Psychotherapeuten,
    die bei der Kathursis im Sinne Breuers stehen geblieben sind und
    sie zu loben wissen In der Behandlung der Kriegsneurotiker des
    deutschen Heeres während des Weltkriegs hat sie sich als abkürzendes
    Heilverfahren unter den Händen von E.Simmel von neuem bewährt,
    Von der Sexualität ist in der Theorie der Katharsis nicht viel die
    Rede. In den Krankengosohiohten, die ich zu den „Studien“ bei
    gesteuert spielen Momente aus dem Sexualleben eine gewisse Rolle,
    werden aber kaum anders gewertet als sonstige effektive Ewa-gungen.
    Von seiner berühmt gewordenen ersten Patientin erzählt Breuer,
    das Sexuale sei bei ihr erstaunlich unentwickelt gewesen. Aus den
    „Studien über Hysterie“ hätte man nicht leicht ernten können,
    welche Bedeutung die Sexualität für die Ätiologie der Neurosen hat,

    Das nun folgende Stück der Entwicklung, den Übergang von
    der Katharsis zur eigentlichen Psychoanalyse, habe ich bereits mehr-
    mals so eingehend beschrieben, daß es mir schwer fallen wird, hier
    etwas Neues vorzubringen. Das Ereignis, welches diese Zeit eine
    leitete, war der Rücktritt Breners von unserer Arbeitsgemeinschaft,
    so daß ich sein Erbe allein zu verwalten hatte. Es hatte schon
    frühzeitig Meinungsverschiedenheiuen zwischen uns gegeben, die
    aber keine Entzweiung begründeten. In der Frage, wann ein seeli-
    scher Ablauf pnthogen, d. h. von der normalen Erledigung aus—
    geschlossen werde, bevorzugte Breuer eine sozusagen physiologische
    Theorie; er meinte, solche Vorgänge entzogen sich dem normalen
    Schicksal, die in außergewöhnlichen — hy'pnoiden — Seelenzuständen
    entstanden seien, Damit war eine neue Frage, die nach der Herr
    kunft solcher Hypnoide, aufgeworfen. Ich hingegen vermutete eher
    ein Kräftespiel, die Wirkung von Absichten und Tendenzen, wie
    sie im nomalen Leben zu beobachten sind. So stand „Hy-pnoid-

  • S.

    i54, Sehnfm. an: dzn. Jahn; 1923—7926

    hysterie“ gegen „Abwehrneurose“. Aber dieser und ähnliche Gegen—
    sätze hätten ihn wohl der Sache nicht abwendig gemacht, wenn
    nicht andere Momente hinzugetretcn wären. Das eine derselben
    War gewiß, daß er als Internist und Familienarzt stark in Anspruch
    genommen war und nicht wie ich seine ganze Kraft der karharth
    sehen Arbeit widmen konnte. Ferner Wurde er durch die Aufnahme
    beeinflußt, welche unser Buch in Wien wie im Reiche draußen
    gefunden harte Sein Selbstvertrauen und seine \Viderstandsfähigkcit
    standen nicht auf der Höhe seiner sonstigen geistigen Organisation.
    Als 2. B. die „Studien“ von Strümpell eine harte Ahweisung er-
    fuhren, kannLe ich über die ver-ständnislose Kritik lachen, er aber
    kränkte sich und wurde entmutig1. Am meisten trug aber zu seinem
    Entschluß bei, daß meine eigenen weiteren Arbeiten eine Richtung
    einschlugen, mit der er sich vergeblich zu befreunden versuchte.

    Die Theorie, die wir in den „Studien“ aufzubauen versucht
    hatten, war ja nach sehr unvollständig gewesen, insbesondere das
    Pruhlern der Änolugie, die Frage, auf welchem Boden der pathcr
    gene Vorgang entstehe, hatten wir kaum berührt. Nun zeigte mir
    eine rasch sich steigernde Erfahrung, daß nicht beliebige Affekv
    erregungen hinter den Erscheinungen der Neurnse wirksam waren,
    sondern regelmäßig solche sexueller Natur, entweder aktuelle sexuelle
    Konflikte oder Naehvvirkungen früherer sexueller Erlebnisse Ich
    war auf dieses Resultat nicht vorbereitet, meine Erwartung harte
    keinen Anteil daran, ich war vollkommen arglos an die Unter
    suchung der Neurot'lker herangetrreten. Als ich 1914 die „Geschichte
    der psyehuanalyu'sehen Bewegung“ schrieb, tauchte in mir die
    Erinnerung an einige Aussprüche von Breuer, Charcot und
    Chrobak auf, aus denen ich eine solche Erkenntnis hätte früh-
    zeitig gewinnen können. Allein ich verstand damals nicht, war
    diese Autoritä'oen meinten; sie hatten mit mehr gesagt, als sie
    sellasr wußten und zu vertreten bereit waren. Was ich von ihnen
    gehört hatte, schlummerte unwirksam in mir, bis es bei Gelegen-
    heit der kathmisehen Untersuchungen als anscheinend originelle

  • S.

    ‚Szßndarsicuung‘ i55

    Erkennmis hervorhrach. Auch wußte ich damals nach nicht7 daß
    ich mit der Zurückfiihrung der Hysterie auf Sexualität bis auf die
    ältesten Zeiten der Medizin zurückgegriffen und an Pluto ange-
    knüpft hatte. Ich erfuhr es erst später aus einem Aufsaiz von
    Havelock Ellis.

    Unter dem Einfluß meines überraschenden Fundes machte ich
    nun einen fulgenschweren Schritt, Ich ging über die Hysierie hin-
    aus und begann, das Sexua]lebeu der sogenanmen Neurastheniker
    zu erforschen, die sich zahlreich in meiner Sprechstunde einzu-
    finden pflegten Dieses Experiment kostete mich zwar meine Be-
    liehtheit als Am, aber es trug mir Überzeugungen ein, die sich
    heute, fast dreißig Jahre späuer, noch nicht abgeschwächl. haben. Man
    hatte viel Verlugenheit und Geheimtuerei zu überwinden, aber
    wenn das gelungen war, fand man‚ daß bei all diesen Kranken
    schwere Mißbräuube der Sexualfunkijon bestanden. Bei der großen
    Häufigkeit solcher Mißbräucbe einerseits, der Nemasthenie ander-
    seiis, hatte ein häufiges Zusammenu-efifen beider natürlich nicht
    viel Beweiskraft, aber es blieb auch nicht bei dieser einen groben
    Tatsache. Schärfere Beobachtung legte mir nahe, aus dem bunten
    Gewirre vun Krankheitsbildern, die man mit dem Namen Neur-
    asthenie deckte, zwei grundverschiedei'ie Typen herauszugreifen,
    die in beliebiger Vermengun.g vorkommen kommen, aber doch in
    reiner Ausprägung zu beobachten waren. Bei dem einen Typus
    war der Angstanfall das zentrale Phänomen mit seinen Äquivalenten,
    rudimenbäreri Formen und chronischen Ersausymymmen; ieh hieß
    ihn darum auch Angstrieurose. Auf den anderen Typus be
    snhriiukte ich die Bezeichnung Neurastheuie Nun war es leicht
    festzustellen, daß jedem dieser Typen eine andere Ahnmmin'ii des
    Sexuallebens als ätiologisches Moment entsprach (Coitue intermptus‚
    Erusinne Erregung, sexuelle Enthaltung hier, exzeseive Mastu1»
    bation, gehäufi‚e Pollutiorien den). Für einige besonders insmxktjve
    Fälle, in denen eine überraschende Wendung des Krankheitsbildes
    von dem einen Typus zum anderen stattgefunden hehe, gelang

  • S.

    ’l(;‘

    156 Schnftzn am den Jahrzn 1y23—1926

    es auch, nachzuweisen, daß ein ensprechender Wechsel des sexuellen
    Regimes zugrunde lag. Konnte man den Mißbrauch abstellen und
    durch nnrmale Sexualtiitigkeit ersetzen, su lehnte sich dies durch
    eine nuffn'llige Besserung des Zustandes,

    So wurde ich dazu geführt, die Neuresen ganz allgemein als
    Störungen der Sexunlfunkrion zu erkennen, und zwar die sage»
    nannten Aktualneurusen als direkten toxischen Ausdruck, die Psychn»
    neurosen nis psychischen Ausdruck dieser Störungen. Mein ärzt-
    liches Gewissen fühlte sich durch diese Aufstellung befriedigL Ich
    hoffte, eine Lücke in der Medizin ausgefüllt zu haben7 die bei
    einer biologisch so wichtigen Funktion keine anderen Schädigungen
    als durch Infektion oder grobe anatomische Läsion in Betracht
    ziehen wollte. Außerdem ken. der ärztlichen Auffassung zugute,
    daß die Sexualität in keine bloß psychische Sache war. Sie hatte
    auch ihre semantische Seite, man durfte ihr einen besonderen Che—
    mismus zuschreiben und die Sexunlerregung von der Anwesenheit
    bestimmter, wenn auch noch unbekme Stoffe ableiten. Es mußte
    auch seinen guten Grund haben, daß die echten, spontanen Neu»
    rosen mit keiner anderen Krankheitsgruppe so viel Ähnlichkeit
    zeigen wie mit den Intmcikat'ions— und Abstinenzerscheinungen,
    hervorgerufen durch die Einführung und die Enthehrung gewisser
    toxisch wirkender Stoffe oder mit dem M. Basedowii, dessen Ab—
    hängigkeit vom Produkt der Schilddrüse bekannt ist.

    Ich habe später keine Gelegenheit mehr gehabt, auf die Unter-
    suchungen über die Aktunlneuresen zurückzukommen Auch vor]
    anderen ist dieses Stück meiner Arbeit nicht fortgesem. werden.
    Blicke ich heute auf meine damaligen Ergebnisse zurück, so kann
    ich sie als ersteY rohe Schematisierungen erkennen an einem wahr-
    scheinlich weit komplizierteren Sachverhalt. Aber sie scheinen mir
    im ganzen heute noch richtig zu sein. Gern hätte ich später noch
    Fälle von reiner juveniler Nenrssthenie dem psychonne1ytischen
    Examen unterzogen; es hat sich leider nicht gefligt. Um nrißven
    ständlichen Auffassungen zu begegnen, will ich betonen, daß es

  • S.

    . „s.m„nam° ? \ '« 157

    mir fiarne liegt, die Existenz dm psychischen Knufl.ikls untl der
    neurou'schen Kamplaxe bei der Nenranhenie zu laugnem Din Be-
    haupmng geht nur dahin, dnß die Sympwme dieser Kranken nicht
    psychisch determinien und analytisch auflusbur sind, sondern als
    direkte toxische Folgen des genauen Sexualchemismns nufgeinßt
    werden müssen.

    Als ich in den nächsten Jahren nach den „Studien“ diese An-
    sichten über die itiologische Rolle der Sexualität bei den Navman
    gewonnen hatte, hielt ich über sie einige Vorträge in ärztlichen
    Vereinen, fand aber nur Unglauben und Widerspruch. Breuer ver-
    suchte nach einige Mule, das große Gewicht seinen persönlichen
    Ansehens zu meinen Gunsten in die Wagscllale zu werfen, aber
    er erreichte nichts, und eg war leicht zu sehen, daß die Aner-
    kennung der sexuellen Äfiologie auch gegen seine Neigungen ging.
    Er hätte mid: durch den Hinweis auf seine eigene erste Patientin
    schlagen oder irre machen können, bei der sexuelle Momente iin-
    geblich gar keine Rolle gespielt hatten. FI an es aber nie; ich
    verstand es lange nicht‚ hi; ich gelernt imma, mir diesen Fall
    richtig zu deuten und nach einigen friiheren Beinahmgen von
    ihm den Ausgang seiner Behandlung an minusmnenen Nachdem
    die kathartische Arbeit erledigt schien, hatte sich bei dem Mädchen
    plöv1.lich ein 'bmnnd von „Übemgungsliebe“ eingstalli‚ den er
    nicht mehr mit ihrem Kranhein in Bedehung brachte, so daß er
    sich bestürn von ihr zurückmg. Es war ihmofleubarpeinlich,mi
    dieses anscheinende Mißgeschick erinnert zu wa-de1n Im Benehmen
    gegen mich schwankbe er eine Weile zwischen Anerkennung und
    herbst Krin'k, dmn treten ann‘lligkeilen hinzu, wie nie in ge-
    spenmen Situationen niemals ausbleilmn, und wir trennten um
    voneinander.

    Nun hatte meine Beschfifiigung mit den Formen allgemeiner
    Nervosität die weitere Folge, daß ich die Tedmil: der Kerlhnrsis
    abändene. Ich gab die Hypnose auf und suchte sie dumh eine
    andere Methode zu ersetzen, weil ich die Einschränkimg der Be-

  • S.

    155 Schriften nur den Jahrm 1523—1926

    handlung auf hysteriforme Zustände überwinden wollte. Auch
    hatten sich mir mit zunehmender Erfahrung zwei schwere Bee
    denken gegen die Anwendung der Hypnose selbst im Dienste der
    Knthersis ergeben. Das erste war, daß selbst die schönsten Resultate
    plötzlich wie weggewischt waren, wenn sich das persönliche Ver-
    hältnis zum Patienten gen-übt hatte. Sie stellten sich zwar wieder
    her, wenn man den Weg zur Versöhnung fand, aber man wurde
    belehrt„ daß die persönliche affektive Beziehung doch mächtiger
    war als alle katharu'sche Arbeit, und gerade dieses Moment entzog
    sich der Beherrschung. Sodann machte ich eines Tages eine Er-
    fahrung, die mir in grellem Lichte zeigte, was ich längst vermutet
    hatte. Als ich einmal eine meiner gefügigsten Patientinnen, bei
    der die Hypnose die merkwürdigsben Kunststücke ermöglicht hatte,
    durch die Zurückfühnmg ihres Schmerzanfalls auf seine Vera}
    lasslmg von ihrem Leiden befreite, schlug sie beim Erwachen ihre
    Arme um meinen Halsi Der unverrnutete Eintritt einer dienenden
    Person enthob uns einer peinlichen Auseinundersetzung, aber wir
    verzichteten von da an in stillschweigender Übereinkunft auf die
    Fortsetzung der hypnutischen Behandlung. Ich war nüchtern genug,
    diesen Zufall nicht auf die Rechnung meiner persönlichen Unwider
    stehlichkeit zu setzen und meinte, jetzt die Natur des mystischen
    Elements, welches hinter der Hypnose wirkte, erfaßt zu haben
    Um es auszuschalten oder wenigstens zu isolieren, mußte ich die
    Hypnose aufgeben.

    Die Hypnose hatte aber der kathax'tischen Behandlung außer-
    ordentliche Dienste geleistet, indem sie das Bewußtseinsfeld der
    Patienten erweiterte und ihnen ein Wissen zur Verfügung stellte,
    über das sie im Wachen nicht verfügten, Es schien nicht leicht,
    sie darin zu ersetzen. In dieser Verlogenheit kam mir die. Erinne—
    rung an ein Experiment zu Hilfe, das ich oft bei Bernheim rnit
    angesehen hatte Wenn die Versuchspersnn aus dem Somnambulis
    mus erwachte, schien sie jede Erinnenmg an die Vorfälle während
    dieses Zustands verloren zu haben, Aber Bernheim behauptete,

  • S.

    sie wisse es doch, und wenn er sie auffordefla, sich zu erinnern,
    wennerbewwrle‚ siewisse alles, sie solle Esdnß‘lnursagen,
    und ihr dabei noch die Hand auf die Sch-ne legte, so kamen die
    vergessenen Erinnerungen wirklich wieder, zuerst nur mgernd, und
    dann im Stroms und in voller Klarheit. Ich beschloß, es ebenen
    zu machen. Meine Patienten mußten ja auch 111 das „wissen“,
    was ihnen sonst mit die Hypnose zugänglich machte, und mein
    Versichern und Antreiben, etwa unterstützt durch Handuuflegen,
    snllte die Macht haben, die vergessenen Tatsachen und Zusammen-
    hänge ins Bewußtsein zu drängen. Das schien freilich mühseh'ger
    zu sein als die Versetzung in die Hypnose, aber es war vielleicht
    sehr lehrreich. Ich gab also die Hypnose auf und behielt von ihr
    nur die Lagerung des Peeimten Auf einem Buhebett bei, hinter
    dem ich saß, so daß ich ihn sub, aber nicht selbst gmehen wurde.

  • S.

    111

    Meine Erwartung erfüllte sich, ich wurde von der Hypnose frei,
    aber mit dem Wechsel der Technik änderte auch die kathart'ische
    Arbeit ihr Gesicht. Die Hypnose hatte ein Kräftespiel verdeckt,
    welches sich nun enthüllte, diesen Erfassung der Theorie eine
    sichere Begründung gab.

    Woher kann es nur, daß die Kranken so viel Tatsachen des
    äußeren und inneren Eriehens vergessen hatten, und diese doch
    erinnern konnten, wenn man die beschriebene Technik auf sie
    anwendete? Auf diese Fragen erteilte die Beobachtung erschöpfende
    Antwort. All das Vergessene war irgendwie peinlich gewesen, enn
    weder schmackhaft oder schmerzlich oder heschämend fiir die An-
    sprüche der Persönlichkeit. Es drängte sich von selbst der Ge»
    danke auf: gerade darum sei es vergessen werden, d, h. nicht
    bewußt geblieben. Um es doch wieder bewußt zu machen, mußte
    man etwas in dem Kranken überwinden, was sich sträubte, mußte
    man eigene Anstrengung aufwendcn, um ihn zu diängen und
    zu nötigen. Die vom Arzt erforderte Anstrengung war verschieden
    groß für verschiedene Fälle, sie wuchs im geraden Verhältnis
    zur Schwere des zu Erinnernden, Der Kraftaufvvand des Arztes
    war ufferihar das Maß für einen Widerstand des KrankmL
    Man brauchte jetzt nur in Worte zu übersetzen, was man selbst
    verspürt hatte, und man war im Besitz der Theorie der Ver
    drängung.

  • S.

    „Sclbmiarrbflung“ ‘ “ ’ 141

    Der pathogene Vorgang ließ sich iem*leidn rekonstruieren. Um
    beim einfachsten Beispiel zu bleiben, es war‘ im Sealanleben eine
    einzelne Suebung aufgetreten, der aber mich!.ige andere wider»
    mehren. Der nun enistehende seelische Konflikt teilte nach unserer
    Erwartung so verlaufen, daß die beiden dynamischen Größen *
    heißen wir sie fiir unsere Zwecke: Trieb und Widerstand — eine
    Weile unter stärkste)“ Anteilnahme des Bewußtseins mineinnnder
    rungen, bis der Trieb abgewiesen, seiner Strebung die Energie-
    besetzung entzogen war. Das wäre die normale Erledigung. Bei
    der Neutose hama aber — aus noch unbekannten Gründen — der
    Konflikt einen anderen Ausgang gefunden. Das Ich hatte n'ch se—
    zusngen beim ersten Zusammensmß von der anstößigen Triebregung
    zurückgezogen, ihr den Zugang zum Bewußtsein und zur direkten
    motorischen Abfuhr versperrr, dabei hatte sie aber ihre volle Energie-
    beseizung behallen. Diesen Vorgang nannte ich Verdrängung; er
    war eine Neuheit, nichts ihm Ähnliches war je im Seelenlehen
    erkannt werden. Er war ofl'enhar ein primärer Abwehrmechanis—
    mus, einem Fluchtveisuch vergleichbar, erst ein Vorläufer der
    späteren normalen Uneilserledigrmg. An den ersten Akt der Ver-
    drängung knüpfieu weitere Folgen an. Erstens mußte sich das Ich
    gegen den immer bereiten Andrang der verdrängten Regung durch
    einen permanenten Aufwand, eine Gegenbesetzung, schützen
    und verarmte dabei, anderseie konnte sich das Verdi-Engine, das nun
    unbewußt war, Abfuhr und Ersavzbefliedigung auf Umwegen
    schaffen und solcherart die Abwicht der Verdrängung zum Scheitern
    bringen. Bei der Konversionshysterie führte dieeer Umweg in Afie
    Körper-innervaiion, die verdrängte Regung brach an irgendeiner
    Stelle durch und schuf sich die Symptome, die als: Kumprumiß-
    ergebnisse waren, zwar Ersetzbefr'iedigungen, aber doch entstellt
    und von ihrem Ziele nhgelenkt durch den Widerstand des ‘Ichs.

    Die Lehre von der Verdrängung wurde zum Grundpfeiler des
    Verständnisses der Neurosen. Die therapeutische Aufgabe mußte
    nun anders gefaßt werden, ihr Ziel war nicht mehr das „Ahren-

  • S.

    149 Sehr! „. am den Jahren 1921—1926

    gieren“ des auf falsche Bahnen geratenen Ai}ekrs, sondern die
    Aufdeekung der Verdrängungen und deren Ablösung durch Urreile
    leistungen, die in Annahme oder Verwerfung des damals Abge-
    wiesenen ausgehen knunLen. Ich Lrug der neuen Sachlage Rech-
    nung, indem ich das Verfahren zur Untersuchung und Heilung
    nicht mehr Katharsis, anndern Psychoanalyse benannte.

    Man kann von der Verdrängung wie von einem Zenrrurn auagehen und
    alle Stücke der psychuanalytiicheu Lehre mit i_hr in Verbindung bringen.
    Vorher will ich aber nach eine Bemerkung palernischen Inhalts machen.
    Nach der Meinung Janet; war rlie Hyilerika eine arme Person. rlie infolge
    einer knnm'mtiunellen Schwäche ihre seelischen Ahe nicht zulammenhalten
    kunnte. Darum verfiel rie der reelirehen Spalrung und dee- Einengung dee
    Bewußtseini. Nach den Ergebniraen der puychoanulyt'lschen Untersuchungen
    waren diene Phänomene aber Erfolg dynamixcher Faktoren. des seelischen
    Konflikts und der vollzogenen Verdrängung. Ich meine, dierer Unienchied
    in weitmigend genug und sollte dem immer wiederholten Gerede ein Ende
    machen, was an der Pkyehoanulyie wertqu sei, dchränke sich Auf eine
    Entlehnung Inneucher Gedanken ein. Meine Darstellung muß dem Leser
    gezeigt haben. daß die Psychoanalyse von den Janetichen Funden in hinari-
    scher Hinsicht völlig unabhängig in1 wie lie auch inhaltlich von ihnen
    ahweir.ht und Weit über sie hinausgreift. Niemali wären auch von den
    Arbeiten lanerr die Folgerungen amgegangen, welche die Pryehnnnnlyae
    so wichiig fiir die Geislerwiesenanhnfien gemacht und ihr fllu nllgerneenere
    Interesue zugewendet haben. June! iellru hehe ich immer nu};eluvnll be-
    handelt, weil ieine Entdeckungen ein ganzen Stück weit rnit Amen Breuer;
    zueamrnenlralen, die [rüber gemehi und rp'arer veriitfcndicht worden waren.
    Aber ala die Prychoanalyae Gegennand der Diskussiun auch in Frankreich
    wurde, har Inner sich wlflecln bennrnmen‚ geringe Suchkenntnii gezeigt
    und unaehöne Argument! gebraucht. Endlich hat er rich in meinen Augen
    blußgertellr und rein Werk selbst entwenet, indem er verkündere, wenn
    er von „unhewuiiien“ seelimhen Akflen gesprnchene so habe er nicht: dnmir
    gemeine es sei bloß „une Mniére de pay-kr“ geweren.

    Die Psychoanalyse wurde aber durch das Studium der pathogenen
    Verdrängungen und anderer noch zu erwähnender Phänomene
    gezwungen, den Begriff des „Unbewußten“ ernst zu nehmen. Für
    sie war alles Peych'nehe zunächst unbewußt, die Bewußi.seinsqualität

  • S.

    „Szßmiarmalbmg“ „5

    Ronnie dann dazukommen oder auch weghleihen. Dabei stieß man
    freilich mit dem Widerspruch der Philosophen zusammen, für die
    „bewußt“ und „psychisch“ identisch war, und die bewuex‘len, sie
    könnten sich so ein Unding wie das „unbewußte Seelische“ nicht
    vorstellen. Es half aber nichts, man mußte sich achselzuckeml über
    diese Idiosy-nkrasie der Philosophen hinausseizen Die Erfahrungen
    am pathologischen Material, das die Philnmphen nicht kannten,
    über die Häufigkeit und Mächtigkeit solcher Regungen, von denen
    man nichts wußte und die man wie irgendeine Tatsache der
    Außenwelt erschließen mußte, ließen keine Wahl. Man konnte
    dann gehend machen, daß man nur am eigenen Seelen1ehen tet,
    was man immer schon für das anderer getan hatte. Man schrieb
    doch auch der anderen Person psychische Akte zu, ehwehl man
    kein unmittelbares Bewußisein von diesen hatte und sie aus Äuß&
    rungen und Handlungen ernten mußte. Was aber beim anderen
    recht ist, das muß auch für die eigene Person billig sein. Will
    man dies Argument weiter treiben und daraus ableiten, daß die
    eigenen verborgenen Akte eben einem zweiten Bewußtsein angehören,
    so sieht man vor der Konzeption eines Bewußtseins, von dem man
    nichis weiß, eines unhewußten Bewußtseins, Was doch kaum ein
    Vorteil gegen die Annahme eines unhewuiiten Psychischen ist.
    Sagt man aber mit anderen Philosophen, man würdige die patho-
    lngischen Vorkommnisse, nur sollten die diesen zugrunde liegenden
    Akte nicht psychisch, sondern psychoid geheißen werden, so läuft
    die Difl'erenz auf einen unfruchtbaren Wunsu-eit hinaus, in dem
    man sich doch am zweckmäßigsten für die Beibehaltung des Aus-
    drucks „unhewußt psychisch“ eancheidet Die Frege, was dies
    Unbewußte an sich sei, ist denn nicht klüger und aussiehmreicher
    als die andere, huhere, was das Bewußte sei.

    Schwieriger wäre es, in kurzem darzustellen, wie die Psychce
    analyse dazu gekommen ist, das von ihr anerkannie Unbewußte
    noch zu gliedern, es in ein Vorbewußtes und in ein eigentlich
    Unhewußtes zu zerlegen. Es mag die Bemerkung genügen, deli

  • S.

    l44 Schnflzn aus den Jahren 1923«1y26

    es legit:im erschien, die Theorien, welche direkter Ausdruck der
    Erfahrung sind, durch Hypothesen zu ergänzen, welche zur Be
    wältigung des Stuffes zweckdienlich sind und sich auf Verhältnisse
    beziehen, die nicht Gegenstand unmittelbarer Beobachtung werden
    können. Man pflegt auch in älteren Wissenschaften nicht. anders
    zu verfahren. Die Gliederung des Unbewußten hängt mit dem
    Versuch zusammen, sich den seelischen Apparat aus einer Anzahl
    von Instanzen oder Systemen aufgebaut. zu denken, von deren
    Beziehung zueinander man in räumlicher Ausdrucksweise spricht,
    wobei aber ein Anschluß an die reale Himanammie nicht. gesucht
    wird. (Der sngenannte tupische Gesichtspunkt.) Solche und ähnliche
    Vorstellungen gehören zu einem spekulativen Uherbau der Psycho-
    analyse, van dem jedes Stück ohne Schaden und Bedauern geopfert
    oder ausgetauscht werden kann, sobald eine Unzulänglichkeit er-
    wiesen ist, Es bleibt genug zu berichten übrig, was der Beobachtung
    näher steht,

    Ich habe schon erwähnt., daß die Forschung nach den Veran-
    lassungen und Begründungen der Neurow mit immer steigender
    Häufigkeit auf Konflikte zwischen den sexuellen Regungen der
    Person und den Widerständen gegen die Sexualität führte. Bei der
    Suche nneh den pathogenen Situationen, in denen die Verdrängungen
    der Sexualität eingetreten waren, und aus denen die Symptome als
    Ersetzbildungen des Verdrängt.en stammten, wurde man in immer
    frühere Lebenszeiten des Kranken zurückgeleitet und langt.e endlich
    in dessen ersten Kindheitsjallren an. Es ergab sich, was Dichter
    und Menschenkenner immer behauptet hatten, daß die Eindrücke
    dieser frühen Lebensperiode, obwohl sie meist der Amnesie verfallen,
    unvenilgbare Spuren in der Entwicklung des Individuums zurück-
    lassen, insbesondere daß sie die Disposition fiir spätere neurotische
    Erkrankungen festlegen. Da es sich aber in diesen Kindererlebnissen
    immer um sexuelle Erregungen und um Reaktion gegen dieselben
    handelte, stand man vor der Tatsache der infantilen Sexualität,
    die wiederum eine Neuheit und einen Widerspruch gegen eine:

  • S.

    SIG.\I. l-'I\EUD
    Hmm; „„ (; .". &»..mlmn jun.

    (1906)

  • S.

    ,.Seßvvdenudiung“

    der su'irksten Vorurteile der Menschen bedeuten. Die Kindheit sollte
    ja „unschuldig“ sein, frei von geechlechtlinhen Gellln.en‚ und der
    Kampf mit dem Dämon „Sinnlichkeit“ erst mit dem Sturm und
    Drang der Pubertät einsetzen. Was nun vun sexuellen Befitigungen
    gelegentlich an Kindern heine wahrnehmen müsen, fußte man als
    Zeichen von Degeneralion, voneifiger Verderhtheit oder als kun-im .
    Laune der Nann- auf. Wenige der Ermittlungen der Psychnmelyre
    haben eine so allgemeine Ablehnung gefunden, einen solchen Aus-
    bruch von Entristung hervorgerufen wie die Behmptung, daß die
    Semmlfiinktienvanfmg des leben; an beginne und schon in
    der Kindheit. sich in wichtigen Erscheinungen äußere. Und dndr
    ist kein anderer analytischer Fund so leicht und so vnllslindig zu
    erweisen.

    Ehe ich weiler in die Würdigung der infnnu'len Sexualität ein-
    gehe, muß ich eines Irrvums gedenken, dem ich eine Weile ver-
    fallen war untl der bald fiir meine ganze Arbeit verhflngnismll
    geworden wäre. Unter den Bringen meines dumeligen wchnischen
    Verfahrens reprodun'erten die meisten meiner Patienten Seenen uns
    ihrerKindheigderenlnhnltdiemelleVerfllhrungdurcheinen
    Erwachsenen war. Bei den weihliehen Personen war die Rolle des
    Verführers fast immer dem VIVAI zugeteilt.. Ich eehenhe dienen Mit>
    teilungen Glauben und nahm eine an, ließ ich in diesen Erleb-
    nissen sexuellerVerfflhrung in der Kindheit die Quellen der spiueren
    Neurose aufgefunden hmm. Einige Pille, in denen rich solcheBe—
    ziehungen zum Vater, Oheiln oder Klteren Bruder hie in die Jahre
    sicherer Erinnerung fortgesetzt hmm, benirhen mich in meinem
    Zmrauen. Wenn jemand über meine Leichtgläubigkeit miBn-auisch
    den Kopf schütteln wollte, so kann ieh ihm nicht gun: unrechz
    gehen, will aber Vorbringen, daß es die Zeit war, Wo ich meiner
    Kritik absichtlich Zwang must, um \mparheiiach und Aufnahme-

    _fa‘hig für die vielen Neuheiten zu bleiben, die mir täglich eno-
    gegentraten. Als ich denn doch erkennen mußte, diese lfm-führung—
    szenen seien niemals vurgefiullen, seien nur Phermsien, die meine

    rung im ..

  • S.

    146 Schriften aus den Jahren ua)—1ng

    Patienmn erdichtet, die ich ihnen vielleicht selbst anfgediängt hatte,
    war ich eine Zeitlang ratlos. Mein Vertrauen in meine Technik
    wie in ihre Ergebnisse erlitt einen harten Stoß; ich hatte doch
    diese Szenen auf einem wchnischen Wege, den ich für korrekt
    hielt, gewonnen und ihr Inhalt smnd in unverkennbarer Beziehung
    zu den Sympwmen, von denen meine Untersuchung ausgegangen
    war. Als ich mich gefaßt hatte, zog ich aus meiner Erfahrung die
    richtigen Schlüsse, daß die neurotischen Symptome nicht direkt an
    wirkliche Erlebnisse auknüpflen, sondern an Wunsdxphanmsien, und
    daß für die Neurose die psychische Realität mehr bedeute als die
    materielle. Ich glaube auch heute nicht, daß ich meinen Patienten
    jene Verführungsphanmm'en aufgedrängt, „suggerien“ habe. Ich war
    da zum erstenmal mit dem Ödipus-Komplex zusammengetmffen,
    der späterhin eine so überragende Bedeutung gewinnen sollte, den
    ich aber in solch phantastischer Verkleidung nach nicht erkannte.
    Auch blieb der Verführung im Kindesalter ihr Anteil an der Ätiologie,
    wenngleich in bescheidenerem Ausmaß, gewahrt, Die Verfiihrer Waren
    aber zumeist ältere Kinder gewesen,

    Mein 1mum war also der nämliche gewesen, wie wenn jemand
    die Sagengeschichte der römischen Königszeit nach der Erzählung
    des Livius fur hiswrische Wahrheit nehmen würde, anstatt für
    das, was sie ist, eine Beahionshildung gegen die Erinnerung arm-
    seliger, wahrscheinlich nicht immer rflhmlicher Zeiten und Ver-
    hältnisse. Nach der Aufliellung des Irrtums war der Weg zum
    Studium des infuntilen Sexuallebens frei. Man kam da in die Lage,
    die Psychoanalyse auf ein anderes Wissensgebiet anzuwenden, aus
    ihren Daten ein bisher unbekanntes Stück des biologischen Ge-
    schehens zu ernten,

    Die Sexunlfunktion war von Anfang an vorhanden, lehnte sich
    zunächst an die anderen lebenswichtigen Funktionen an und machte
    sich dann von ihnen unabhängig; sie halle eine lange und kam-
    pliziene Entwicklung durchzumachen‚ bis aus ihr das wurde, was
    als das normale Sexualieben des Erwachsenen bekannt war. Sie

  • S.

    „Selbstdarstellung“ „„

    äußerte sich zuerst als Tätigkeit einer ganzen Reihe von Trieb-
    komponenten, welche von erogenen Körper-Amen abhängig
    waren, zum Teil in Gegensatzpaaren auftreten (Sedismus — Maso-
    chismus, Schautr‘leb — Exhibitionslust), unabhängig voneinander auf
    Lustgewinn ausgingen und ihr Objekt zumeist am eigenen Körper
    fanden. Sie wer also zuerst nicht zentriert und vorwiegend auto-
    erotisch. Später traten Zusammenfassungen in ihr auf; eine erste
    Organisationstuie stand unter der Vorherrschaft der oralen Kom-
    ponenten, denn folgte eine sadistisch-anale Phase und em die
    spät erreichte dritte Phase brachte den Primat der Genitalien,
    womit die Sexualfunktion in den Dienst der Fortpflanzung trat.
    Während dieser Entwicklung wurden manche Triebanteilo als für
    diesen Endzweck unbrauchbar beiseite gelassen oder anderen Ver-
    wendungen zugeführt7 andere von ihren Zielen abgelenkl: und. in
    die geniale Organisation übergeleitet. Ich nannte die Energie der
    Sexualtn'ebe — und nur diese — Libido. Ich mußte nun an-
    nehmen, daß die Libido die beschriebene Entwicklung nicht immer
    tadellos durchmacht. Infolge der Überstärke einzelner Komponenten
    oder frühzeitiger Befriedigungserlebnisse kommt es zu Fixierungen
    der Libido an gewissen Stellen des Entwicklungsweges. Zu diesen
    Stellen strebt dann die Libido im Falle einer späteren Verdrängung
    zurück (Regression) und von ihnen aus wird auch der Durch-
    bruch zum Symptom erfolgen. Eine spätere Einsicht fügte hinzu,
    daß die I.nkalisetion der leierungsstelle auch entscheidend ist für
    die Neurosenwt-ihl, für die Form, in der die spätere Erkrankung
    auftritt.

    Neben der Organisxm'on der Libido geht der Prozeß der Objekt»
    findung einher, dem eine große Rolle im Seelenlehen vorbehalten
    ist. Das erste Liebesobjekt nach dem Stadium des Autoerotismus
    wird für beide Geschlechter die Mutter, deren nährendes Organ wahr-
    scheinlich anfänglich vom eigenen Körper nicht unterschieden wurde.
    Später, aber noch in den ersten Kinderjahren. stellt sich die Relation
    dee Ödipus—Komplexü her, in welcher der Knabe seine sexuellen

    xo"

  • S.

    „8 Schriften am den Jahren „:)—1sz

    Wünsche auf die Person der Mutter konzentriert und ieindselige
    Regungen gegen den Vater als Rivalen entwickelt. In ana1oger
    Weise stellt sich das kleine Mädchen ein, alle Variationen und Ab-
    folgen des Ödipus»Komplexä werden bedeutnngsvoll, die angeborene
    hisexuelle Konsm'tution macht sich geltend und vermehrt die An
    zahl der gleichzeitig vorhandenen Screhungen. Es dauert eine ganze
    Weile, bis das Kind über die Unterschiede der Geschlechter Klarheit
    gewinnt; in dieser Zeit der Sexualfnrsehung schafft es sich typische
    Sexualtheorien, die, abhängig von der Unvollkommenheit der
    eigenen körperlichen Organisation, Richtiges und Falsches vermengen
    und die Probleme des Gewhlechülehens (das Rätsel der Sphinx:
    woher die Kinder kommen) nicht lösen können. Die erste Objekt
    wahl des Kindes ist. also eine inzestuöse. Die ganze hier be
    schriebene Entvvieklung wird rasch durchlaufen. Der merkwürdigste
    Charakter des menschlichen Sexuallelzens ist sein zweizeitiger Anv
    satz rnit dazwischenliegender Pause, Im vierten und fünften Lebens-
    jahr erreicht es einen ersten Höhepunkt, dann aber vergeht diese Früh
    hlßte der Sexualität, die bisher lebhaften Strehungen verfallen der
    Verdrängung und es tritt die bis zur Puheru'it dauernde Latenz—
    zeit ein, während welcher die Reaktionsbildungen der Moral, der
    Scham, des Ekels aufgerichtet werden, Die Zweizeitigkeit der SexuaL
    entwicklung scheint von allen Lebewesen allein dem Menschen zue
    zukommen, sie ist vielleicht die biologische Bedingung seiner Dis-
    position zur Neurose. Mit der Pubertät werden die Strebungen und
    0hjekt'besetzungen der Frühzeit wieder belebt, auch die Gefühls-
    hindungen des Öd.ipusKomplexes. Im Sexualleben der Pubertät
    ringen miteinander die Anregungen der Frühzeit und die Hem—
    mungen der Latenzperiode Noch auf der Höhe der infantileu
    Sexualemwicklnng hatte sich eine Art von genitaler Organisation
    hergestellt, in der aber nur das männliche Genitale eine Rolle
    spielte, das weibliche unentdeekt geblieben war (der sogenannte
    phallische Primat). Der Gegensatz der Geschlechber hieß damals
    noch nicht männlich oder weiblich, sondern: im Besitze eines

  • S.

    „Seibfldarxtellung“ 149

    Penis oder kastriert. Der hier anschließende Kustrationekom-
    plex wird überaus bedeutsam für die Bildung von Charakmr und
    Neurose

    In dieser verkürzten Darstellung meiner Befunde über das mensch—-
    liche Sexualieben hahe ich dem Verständnis zuhebe vielfach zu?
    sammengetragen, was zu verschiedenen Zeiten entstand und als
    Ergänzung oder Berichtigung in die aufeinanderfolgenclen Auflagen
    meiner „Drei Abhandlungen zur Sexualtllßfll'ie“ Aufnahme fand.
    Ich hoffe, es läßt sich aus ihr leicht entnehmen, worin die oft betonte
    und heanstandete Erweiterung da Begr‘lfiee Sexualität besteht Diese
    Erweiterung ist eine zweifache. Erstens wird die Sexualität aus
    ihren allzu engen Buiehungen zu den Genitalien gelöst und als
    eine umfassendere, nach Lust strebende Kür-perfunktion hingestellt,
    welche erst sekundär in den Dienst der Fortpflanzung tritt; zweitens
    werden zu den sexuellen Regungen alle die bloß zärtlichen und
    freundschaftlichen gerechnet, für welche unser Sprachgebrauch das
    vleldeutige Wort „Liebe“ verwendet. Allein ich meine, diese Er-
    weiterungen sind nicht Neuerungen, sondern Wiederherstellungen,
    sie bedeuten die, Aufhebung von unzweckmäliigen Einengungen
    des Begrifies, zu denen wir uns haben bewegen lassen. Die Dus-
    lösung der Sexualität von den Genitalien hat den Vorteil, daß sie
    uns gestattet, die Sexualhetätiglmg der Kinder und der Perversen
    unter dieselben Gesichtspunkte zu bringen wie die der normalen
    Erwachsenen, während die erstere bisher völlig vernachlässigt, die
    andere zwar mit moralischer Entrüstung, aber ohne Verständnis
    aufgenommen wurde. Der psychoanalydschen Au£fassung erklären
    sich auch die absonderlinhsten und ubswßendsven Perversionen als
    Äußerung von sexuellen Partiahrieben‚ die sich dem Genimlprimat
    entzogen haben und wie in den Uneiten der Libidoentwicklnug
    selbständig dem Lusterwerb nachgehen. Die wichtigste dieser Per-
    Versionen, dje Homosexualität‚ verdient kaum diesen Namen Sie
    führt sich auf die konstitutionelle Bisexualität und auf die Nach—
    wirkung des phallischen Primus zurück; durch Psychoanalyse kann

  • S.

    150 Srhrifien alu dal Jahrzn 1y23A1y26

    man bei jedermann ein Stück humosexueller 0hjektwahl nachweisen,
    Wenn man die Kinder „pulymorph pervers" genannt hat, so war
    das nur eine Beschreibung in allgemein gebräuchlichen Aiudrücken;
    eine mera].ische Wertung sullte damit nicht flißgäproc'hen werden.
    Solche Wertuneile liegen der Psychoanalyse überhaupt fern.

    Die andere der angeblichen Erweiterungen rechtfertigt sich durch
    den Hinweis auf die psychoanalyfische Untersuchung, welche zeigt,
    daß an diese zärtlichen Gefühlsregungen ursprünglich vn]]sexuelle
    Strebungen waren, die dann „zielgeliemmt“ oder „sublimiert“ werden
    sind. Auf dieser Beeinflußbarkeit und Ahlenkharkeit der Sexual-
    triebe beruht auch ihre Verwendbarkeit fur mannigfache kulturelle
    Leistungen, zu denen sie die bedeutsflmsten Beiträge stellen.

    Die überraschenden Ermittlungen über die Sexualität des Kindes
    wurden zunächst durch die Analyse Erwachsener gewonnen, konnten
    aber später, etwa von ign8 an, durch direkte Beobachtungen an
    Kindern bis in alle Einzelheiten und in beliebigem Ausmaße bestätigt
    werden. Es ist wirklich so leicht, sich von den regulären sexuellen
    Betätigungen der Kinder zu überzeugen, daß man sich verwundert
    fragen muß, wie es die Menschen zustande gebracht haben, diese
    Tatsachen zu übersehen und die Wunscblegende von der asexuellen
    Kindheit mlange aufrecht zu halten, Dies muß mit der Amnesie der
    meisten Erwachsenen für ihre eigene Kindheit zusammenhängen.

  • S.

    IV

    Die Lehren vom Widerstand und wm der Verdrängung, vum Un-
    bewußten, von der ütiologischen Bedeutung des Sexuellebens und
    der Wichtigkeit der Kindheitserlebnise sind die Hanptbesmndteiie
    des psychoenelyüschen Lehrgebiudes. Ich bedeuere, daß ich hier
    nur die einzelnen Stünke beinhreiben konnte und nicht auch, wie
    sie sich zusammensetzen und ineinander greifen. Es ist jelzt an der
    hit, sich zu den Veränderungen zu wenden, die sich ullmählich
    an der Technik des enalyu'schen Verfahrens vollzogen

    Die zuerst geübte Überwindung des Widerstandes durch Drängen
    und Versichern war unentbehrlich gewesen, um dem Am: die ersten
    Orientierungen in dem, was er zu erwnnen hatte, zu verscheßen,
    Auf die Dauer war sie aber für beide Teile zu anstrengend und
    schien nicht frei von gewissen naheliegenden Bedenken. Sie wurde
    else von einer anderen Methode abgelöst, welche in gewissem Sinne
    ihr Gegensatz war. Anmut den Patienten mutteiben, etwas zu
    einem bestimmten Theme zu sagen, fun—dene man ihn jetzt auf, sich
    der freien „Amz'mn'on“ zu überlassen, d.h. zu sagen, was immer
    ihm in den Sinn kam, wenn er sich jeder bewußmn Ziglvorste'llung
    enthieli. Nur mußte er sich dazu verpflichten, auch wirklich alles
    mitzuteilen, was ihm seine Selbstwahrnehmung ergab, und den
    kritischen Einwendungen nicht nachzugeben‚ die einzelne Einfille
    mit den Mozivierungen bmitigen wollten, sie seien nirht wichtig
    genug, gehörten nicht dazu oder seien überhaupt ganz unsinnig.

  • S.

    152 Schriften mu dm Jahren 1923—1926

    Die Forderung nach Aufi'ichtigkeit in der Mitteilung brauchte man
    nicht ausdrücklich zu wiederholen, sie war ja die Voraussetzung
    der analytischen Kur.

    Daß dies Verfahren der freien Assoziation unter Einhaltung der
    psychoanalytischen Grundregel leisten sollte, was man von
    ihm erwartete, nämlich das verer und durch Widerstände ferne
    gehaltene Material dem Bewußtsein zuzufi'rhren, mag befremdencl
    erscheinen. Allein man muß bedenken, daß die freie Assoziation
    nicht wirklich frei isL Der Patient bleibt unter dem Einfluß der
    analytischen Situatiun, auch wenn er seine Denktätigkeit nicht auf
    ein bestimmtes Thema richtet. Man hat das Recht anzunehmen,
    daß ihm nichts anderes einfallen wird, als was zu dieser Situation
    in Beziehung steht, Sein Widerstand gegen die Reproduktion des
    Verdrängten wird sich jetzt auf zweierlei Weise äußern. Erstens durch
    jene kritischen Einwendungen, auf welche die psychoanalytische
    Grundregel gemünzt ist. Überwindet er aber in Befolgung der Regel
    diese Abhaltungen, so findet der Widerstand einen anderen Au5v
    druck. Er wird es durchsetzen, daß dem Analysierten niemals das
    Verdräng‘te selbst einfällt, sondern nur etwas, was diesem nach Art
    einer Anspielung nahe kommt, und je größer der Widerstand ist,
    desto weiter wird sich der mitzuteilenrle E.rsutzeinfall von dem Eigenb
    lieben, das man sucht, entfernen. Der Analytiker, der in Sammlung,
    aber ohne Anstrengung zuhört und der durch seine Erfahrung im
    allgemeinen auf das Kommende vorbereitet ist, kann nun das
    Material, das der Patient zutage förder1, nach zwei Möglichkeiten
    verwerten. Entweder gelingt es ihm, bei geringem Widerstand, aus
    den Andeutungen das Verdrängte selbst zu erraten, oder er kann,
    bei stärkerem Widerstand, an den Einfa'llen, die sich vom Thema
    zu entfernen scheinen, die Beschaffenheit dieses Widerstandes er-
    kennen, den er dann dem Patienten mitteilt. Die Aufdeulmng des
    Widerstandes ist aber der erste Schritt zu seiner Überwindung. Su
    ergibt sich im Rahmen der analytischen Arbeit eine Deutungs-
    kunse deren erfolgreiche Handhabung zwar Takt und Übung er-

  • S.

    „Selbsniantellung“ 155

    fordert, die aber unschwer zu erlernen ist. Die Methode der freien
    Assoziation hat große Vorzüge vor der früheren, nicht nur den der
    Ersparung an Mühe. Sie setzt den Analysierten dem geringsten Maß
    von Zwang aus, verliert nie den Kontakt mit der realen Gegen-
    wart, gewährt weitgehende Garantien dafiir, daß man kein Moment
    in der Struktur der Neume übersieht und nichts aus eigener Er?
    wartung in sie ein!.l'ägt. Man überläßt es bei ihr wesentlich dem
    Patienten, den Gang der Analyse und die Anordnung dä Stoffes
    zu bestimmen, daher wird die systematische Bearbeitung der ein»
    zelnen Symptome und Komplexe unmöglich. Recht im Gegensatz
    zum Hergarlg heim hypnotjschen oder antreibenden Verfahren erfährt
    man das Zusammengeliörige zu verschiedenen Zeiten und an ver-
    schiedenen Stellen der Behandlung. Für einen Zuhörer —- den es
    in Wirklichkeit nicht: geben darf ? wurde die analytische Kur
    daher ganz undurchsicht'ig sein.

    Ein anderer Vorteil der Methode ist, daß sie eigentlich nie zu
    Versagen braucht. Es muß theoretisch immer möglich sein, einen
    Einfall zu haben, wenn man seine Ansprüche an die Art desselben
    fallen läßt. Dach tritt. solches Versagen ganz regelmäßig in einem
    Falle auf, aber gerade durch seine Vereinzelung wird auch dieser
    Fall deutlzar.

    ich nähere mich nun der Beschreibung eines Moments, welchs
    einen wesentlichen Zug zum Bilde der Analyse hinzufügt und tech-
    nisch wie theoretisch die größte Bedeutung beanspruchen darf. In jeder
    analytischen Behandlung stellt sich ohne Dazumn des Arztes eine
    intensive Gefühlslleziehung des Patienten zur Person des Analytikers
    her, die in den realen Verhältnisse—‚11 keine Erklärung finden kann.
    Sie ist positiver oder negativer Natur, variiert von leidenschafilieher,
    vollsinnlicher Verliebtheit bis zum extremen Ausdruck von Auf-
    lehnung, Erbitterung und Hall. Diese ahki'uzend sogenannte „Über-
    tragung“ setzt sich beim Patienten bald an die Stelle des Wunsches
    nach Genereng und wird, solange sie zärtlich und gemäßigt ist,
    zum Träger des ärztlichen Einflusses untl zur eigentlichen Trieb-

  • S.

    r5l, Sdln_'fißn aux den Jahren 1923—1y26

    feder der gemeinsamen analytischen Arbeit. Später, wenn sie leiden-
    schaftlich geworden ist oder ins Feindselige angeschlagen hat, wird
    sie das Hauptwerkzeug dei Widerstandes. Dann geschieht es auch,
    daß sie die Einfallstäljgkeit des Patienten lahm legt und den Erfolg
    der Behandlung gefährdet. Es wäre aber uns'umig, ihr ausweichen
    zu wollen; eine Analyse ohne Übertragung ist eine Unmöglichkeit
    Man darf nicht glauben, daß die Analyse die übertragung schafft
    und daß diese nur bei ihr vorkommt. Die Übertragung wird von
    der Analyse nur aufgedeckt und isoliert. Sie ist ein allgemein mensch
    liches Phänomen, entscheidet über den Erfolg bei jeder ärztlichen
    Beeinflussung, ja sie beherrscht überhaupt die Beziehungen einer
    Person zu ihrer menschlichen Umwelt. Unschwer erkennt man in
    ihr denselben dynamischen Faktor, den die llypnutiker Suggeriee
    barkeit genannt haben, der der Träger des hypnotischen happan
    ist, über dessen Unberecheubnrkeit auch die kathanieche Methode
    zu klagen hatte. Wo diese Neigung zur Gefühbübertragnng fehlt
    oder durchaus negativ geworden ist, wie bei der Demenlia praecox
    und der Paranoia, da entfallt auch die Möglichkeit einer psychischen
    Beeinflussung des Kranken.

    & ist ganz richtig, daß auch die Psychoanalyse rnit dem Mittel
    der Suggestion arbeitet wie andere psychotherapeut'ische Methoden.
    Der Unterschied ist aber, daß ihr — der Suggeslinn oder der
    Übertragung? hier nicht die Entscheidung über den therapeutischen
    Erfolg überlassen wird Sie wird vielmehr dazu verwendet den
    Kranken zur Leistung einer psychischen Arbeit zu bewegen, —
    zur Überwindung seiner Übemagungswiderstände, ‚ die eine
    dauernde Veränderung seiner seelischen Ökonomie bedeutet. Die
    Übertragtmg wird vom Analytiker dem Kranken bewußt gemacht,
    sie wird aufgeliist‚ indem man ihn davon überzeugt, daß er in
    seinem Übertragungsverhalten Gefühlsrelatjonen wiedererlebt, die
    vnn seinen frühesten Objektbesetzungeu‚ aus der verdrängten Periode
    seiner Kindheit, herstammen, Durch sulche Wendung wird die
    Übertragung aus der slärksteu Waffe des Widerstandes zum besten

  • S.

    „s„zmi„mw" 155

    Instrument der analytischen Kur. Immerhin bleibt ihre Handhabung
    das schwierigste wie das wichtigste Stmk der analytischen Technik.

    Mit Hilfe des Verfahrens der freien Asozintion und der an sie an‘
    schließendeu Deutungskunst. gelang der Psychoanalyse eine Lm'stung‚
    die anscheinend nicht praktisch bedeutsam war, aber in Wirklichkeit
    zu einer völlig neuen Stellung und Geltung im wissenschaftliehen
    Betrieb fiihren mußte. Es wurde möglich nachmweisen, daB Träume
    sinnvoll sind, und den Sinn derselben zu ernten. Träume waren
    noch im Hessischen Altertum Als Verknndigungen der Zuknnfl.
    hochgeschi-itzt wurden; die moderne Wissenschaft wollm vom Traum
    nichts wissen., überließ ihn dem Aberglanben, erkli.rte ihn für einen
    bloß „körperlichen“ Ah, für eine Art. Zuckung des sonst schlufenden
    Seelenlehens. Daß jemand, der ernste wissenschafthnhe Arbeit geleistet
    hatte, ak „Traumrleuter“ anfimten künute, schien doch ausgeschlossen.
    Wenn man sich aber um eine solche Verdammung des Traumes
    nicht kummene„ ihn behandelte wie ein unvernandenes neurntlsches
    Symptom, eine Wahn» oder Zwangsidee, von seinem scheinbaren
    Inhalt absah und seine einzelnen Bilder zu Objekten der freien
    Assoziation maßhle, so kam man zu. einem anderen Ergebnis. Man
    gewann durch die uhlreinhen Einfile ds Träumers Kenntnis von
    einem Gedankengebrld.e, du nicht mehr nbcurd oder verwo'rren
    genannt werden kannte, das einer woflwertigen psychischen Leistung
    entsprach und von dem der manifeste Traum nur eine entstellte,
    verkürzte und mißverstandene Übenetzung war, zumeist eine Über
    setzung in visuelle Bilder. Diese latenten Traumgedenken ent-
    hielten den Sinn des Trnumes, der manifeste Trauminhalt war
    nur eine Täuschung, eine Fassade, an welche zwar die Assoziatinn
    anknüpfen konnte, aber nieht die Deutung.

    Man stand nun vor der Bemtwommg einer ganzen Reihe von
    Fragen, die wichtigsten darunter, ob er denn ein Motiv fiir die
    Traumhildung gebe, unter welchen Bedingungen sie sich vollzieth
    könne, auf welchen Wegen die Überführung der immer sinnreichm
    Traumgedanken in den oft sinnlnsen Traum var sich geht u, ;.

    .‘.„‚

  • S.

    i56 s;h„fr;„ am den Jahren 1923—1925

    In meiner 1900 veröffentlichten „Traumdeutung“ habe ich versucht,
    alle diese Probleme zu erledigen. Nur der kürzeste Auszug aus
    dieser Untersuchung kann hier Raum finden: Wenn man die
    latenten Traumgednnken‚ die man aus der Analyse des Traumes
    erfahren hat, untersucht, findet man einen unter ihnen, der sich
    von den anderen, verständigen und dem Träumer wuhlbekannten,
    scharf abhebt. Diese anderen sind Re5le des Wachlebens (Tages-
    refle); in dem vereinzelten aber erkennt man eine oft sehr an-
    stößige Wunscirregung‚ die dem Wachlehen des Träumers fremd
    ist, die er dementsprechend auch verwundert oder entrüstet ver-
    leugnet. Diese Regung ist der eigentliche Traumbildner, sie hat
    die Energie für die Produktion des Traumes aufgebracht und sich
    der Tagesresle als Material bedient; der so entstandene Traum
    stellt eine Befriedigungssituat'ion für sie vor, ist ihre Wunsch
    erfüllung Dieser Vorgang wäre nicht möglich geworden, wenn
    nicht etwas in der Natur des Schlafzustandes ihn begünstigt hätte.
    Die psychische Voraussetzung des Schlafens ist die Einstellung des
    Ichs auf den Schlafwunsch und die Abziehung der Besetzungen
    von alien Interessen des Lebens; da gleichzeitig die Zugänge zur
    Mutilität gesperrt werden, kann das Ich auch den Aufwand herab-
    setzen, mit dem es sonst die Verdrängungen aufrecht hält. Diesen
    nächtlichen Nachlaß der Verdrängung macht sich die unbewußte
    Regung zunut.ze‚ um mit dem Traum zum Bewußtsein vorzudringen,
    Der Verdrängungsw'iiierstand des 10135 ist aber auch im Schlafe nicht
    aufgehnhen‚ sondern bloß herabgesetzt werden Ein Rest von ihm
    ist als Traumzensur verblieben und verbietet nun der unhewul3ten
    Wunsehregung, sich in den Formen zu äußern, die ihr eigemiich
    angemessen wären. Infolge der Strenge der Traumzensur müssen
    sich die Iatenten 'I‘raumgedanken Abänderungen undAbschwE—ichungen
    gefallen lassen, die den verpönten Sinn des Traumes unkenntiich
    machen Dies ist die Erklärung der Traumentstellung‚ welcher
    der manifeste Traum seine auß'a'lligsben Charaktere verdankt. Daher
    die Berechtigung des Satzes: der Traum sei die (verkappte)

  • S.

    „SrßrninrrreMg“ 1 57

    Erfüllung eines (ver-drängten) Wunsches. Wir erkennen schnn
    jetzt, daß der Traum gebaut ist wie ein neurotisches Sympimn, er ist
    eine Kompromißbildung zwischen dem Anspruch einer verdrängten
    Triebregung und dem Widersi.and einer zensurierendeu Macht im Ich
    Infolge der gleichen Genese ist er auch ebenso unverständlich wie
    das Sympmm und in gleicher Weise der Deutung bedürftig

    Die allgemeine Funktion des Träumens ist. leicht auhuiinden.
    Es dient dazu, um äußere oder innere Reize, welche zum Erwachen
    auffordern würden, durch eine Art. von Beschw'ichizigung abzuwehreu
    und so den Schlaf gegen swrung zu versichern. Der äußere Reiz
    wird abgewehrt, indem er umgecleutel. und in irgendeine harmlose
    Siiuuu'on verwohen wird; den inneren Reiz des Triebnnspruchs
    läßt der Schläfer gewähren und gestattet ihm die Befriedigung
    durch die Traumbildung, solange sich die latenten Tmumgedanken
    der Bänd.igung durch die Zensur nicht entziehen. Draht aber
    diese Gefahr und wird der Traum allzu deutlich, so bricht der
    Schläfer den Traum ab und wacht erschrecla. auf (Angsttruum).
    Dmlhe Versagen der Traumfunklinn hin. ein, wenn der äußere
    Reiz so smrk wird, daß er sich nicht mehr abweisen läßt (Weck-
    traum), Den Prozeß, welcher unter Mitwirkung der Traumzensur
    die latenten Gedanken in den manime Trauminhalt überführt,
    habe ich die Traumarbeii. gennnnt. Er besteht in einer eigenuru'gen
    Behandlung des vorbewußien Gedankenmaterials, bei welcher dessen
    Bestandteile verdichtet, seine psychischen Akzente verschoben,
    das Ganze denn in visuelle Bilder umgesetzt, drumatisiert, und
    durch eine mißvelständliche sekundäre Bearbeitung ergänzt
    wird. Die Traumarbeit ist. ein ourgezeiclmeies Muster der Vorgänge
    in den tieferen, unhewußten Schichten des Seelenlebens, welche
    sich von den uns bekannten normalen Deukvorgängen erheblich
    unterscheiden. Sie bring? auch eine Anzahl mhuischer Züge zum
    Vorschein, z. B. die Verwendung einor hier vorwiegend sexuellen
    Symbolik, die man dann auf anderen Gebieten geistiger Tätigkeit
    wiedergefunden hat.

  • S.

    158 Sehrifrrn zur den Jahren 1923—1925

    Indem sich die unbewußte Triebregung des Traumes mit einem
    Tagesresr, einem unerledigten Interesse des Wachlebeus, in Ver-
    bindung sem, verschalft. sie dem von ihr gebildeten Traun-19 einen
    zweifachen Wert für die analytische Arbeit, Der gedeutete Traum
    erweist. sich ja einerseits als die Erfüllung eines verdrängten Wunsches,
    anderseits kann er die vnrbewußte Denktätigkeit des Tages fort-
    gesetzt und sich mit hellehigem Inhalt erfüllt haben, einem Vor
    satz, einer Warnung, Überlegung und wiederum einer Wunsch—
    erfüllung Ausdruck gehen. Die Analyse verwertet ihn nach beiden
    Richtungen, sowohl für die Kenntnis der bewußten wie der un-
    bewußten Vorgänge heim Analysierten. Auch zieht sie aus dem
    Umstande Vorteil, daß dem Tlaume der vergessene Stoff des
    Kindheitslehens zugänglich ist, so daß die infantile Amnesie zumeist
    im Anschluß an die Deutung von Träumen überwunden wird.
    Der Traum leistet hier ein Stuck von dem, was früher der Hypnose
    auferlegt war. Dagegen habe ich nie die mir oh zugeschriebene
    Behauptung aufgestellt, die Traumdeutung ergebe, daß alle Träume
    sexuellen Inhalt haben ride!" auf sexuelle Triebkräfte zurückgehen).
    Es ist leicht zu sehen, den Hunger, Durst und Exkrev.ionsdxang
    ebensugut Befriedigungsträume erzeugen wie irgendeine verdrängte
    sexuelle oder egoistische Regung. Bei kleinen Kindern stellt sich
    eine bequeme Probe auf die Richtigkeit unserer Tmumthearie zur
    Verfügung. Hier, wo die verschiedenen psychisrheu Systeme noch
    nicht scharf gesondert, die Verdrängungen noch nicht. tiefer aus
    gebildet sind, erfährt man häufig von Träumen, die nichts anderes
    sind als unverhüllte Erfüllungen irgendwelcher vom Tage erübrigten
    Wunschregungen. Unter dem Einfluß imperatlver Bedürfnisse
    können auch Erwachsene solche Träume vom infantilen Typus
    produzieren.

    In ähnlicher Weise wie der Traumdeutung bedient sich die
    Analyse das Studiums der so häufigen kleinen Fehlleistungen und
    Sympmmhanrllungen der Menschen, denen ich eine i904 zuerst
    als Buch veröffentlichte Untersuchung „zur Psychopathulngie des

  • S.

    v.rqr 'z'W"

    „sw:„.z„„zw“ 159

    Alltagslebens" gewidmet habe. Den Inhalt dieses vielgelesenen
    Werkes bildet der Nachweis, daß diene Phänomßne nicht Zufällige:
    sind, daß sie über physiologische Erklärungen hinsungehen, dun-
    vull und deutbar sind und zum Schluß auf zurückgehnlme oder
    verdrängte Regungén und lment'mnen berechtigen. Der iiber-
    ragende Werl: der Traumdeutung wie dieser Studie liegt aber nicht
    in der Unmstiiizung, die sie der analytischen Arbeit leihen7 sondern
    in einer anderen Eigenschaft derselben. Bisher hatte die Psythxr
    analyse sich nur mit der Auflösung pathologischer Phänmnene
    beschäftigt und zu deren Erklärung oh Annahmen machen müssen,
    deren Tragweite außer Verhältnis zur Wichtigkeit des behmdelwn
    Smfles stand. Der Truum aber, den sie dann in Angriff nahm, war
    kein krankhnfies Sympmm, er war ein Phänomen des normalen
    Seelenlebens, konnte sich bei jedem gesunden Menschen ereign-.
    Wenn der Traum so gebaut ist wie ein Symptom, wenn seine Er-
    klärung die nämlichen Annahmen erfordert, die der Verdrängung
    von Triehxegungvn, der Ersatz— und Kompromißhildung, der ver-
    schiedenen psychischen Systeme zur Unterbringung des Bewußmn
    und Unbewußuan, dann ist die Psychoanalyse nicht mehr eine
    Hilfswissenschaft der Prychupethologie, dann ist m vielmehr der
    Ansammeinerneuenundgrhndlißheren8ulmxkunde‚dieuuchfm
    das Verständnis den Normnlm unentbehrlich wird. Mm darf ihre
    Voraussetzungen und Ergebniss nuf andere Gebiete des seelischen
    und geistigen Gescheth übertragen, der Weg ins Weite, tun:
    Weltinteresse, ist ihr erüflnet.

  • S.

    V

    Ich nuterbreche die Darstellung vom inneren Wachstum der
    Psychoanalyse und wende mich ihren äußeren Schicksalen zu.
    Was ich von ihrem Erwerb bisher mitgeteilt habe, war in großen
    Zügen der Erfolg meiner Arbeit, ich habe aber in den Zusammenhang
    auch spätere Ergebnisse eingetragen und die Beiträge meiner
    Schüler und Anhänger nicht von den eigenen gmndert

    Durch mehr als ein Jahrzehnt nach der Trennung von Breuer
    hatte ich keine Anhänger. Ich stand völlig isolien In Wien wurde
    ich gemieden, das Amland nahm von mir keine Kenntnis. Die
    „Traumdeutung“‚ 1900, wurde in den Fanhzeitsehriften kaum
    referiert. lm Auism „Zur Geschichte der psychoanalyüschen
    Bewegung“ habe ich als Beispiel für die Einstellung der psychie
    irischen Kreise in Wien ein Gäpräch mit einem Assistenten mit?
    geteilt, der ein Buch gegen meine Lehren geschrieben, nher die
    „Traumdeutung“ nicht gelesen hatte. Man hntte ihm auf der
    Klinik gesagt, es lohne nicht der Mühe, Der Betreifende‚ seither
    Extrnnrdinerius geworden, het sich gesuattet, den lnhnlt jener
    Unterredung zu verleugnen und überhaupt die Treue meiner Er-
    inuerung anzuzweifeln. Ich halte jedes Wert meines damaligen
    Belicth aufrecht.

    Als ich versumden hatte, mit welchen Notwendigkeiten ich
    zusammengesmßen war, ließ meine Empfindlichkeit sehr nach.
    Allmählich fand auch die Isolierung ein Ende. Zuerst sammelte

  • S.

    „wmm‘ ‘ in

    sich in Wien ein kleiner Kreis von Schülernx'um mid»; nach 1906
    erfuhr man, Cllß sich die Prychinmer in Zuricli,E.ßléulery sem
    Assistent C. G. lung und andere lehhafi: für die Psynlmnnnlyee
    interessierten. Persönliche Beziehungen knüpfien sich an, m Damm
    1 9u8 tmfen sich die Freunde der lungen Wissenschaft" in Salzburg,
    verabredewn die regelmäßige Wiederholung solcher Privntkongn‘une
    und die Herausgabe einer Zeitschrift, die unter dem ’l'ilel „lehr—
    buch für psychopetllolngische und psychoanalyfieche Forschungen“
    von Jung ndigiert wurde. Herausgeber waren Bleuler und ich;
    sie wurde dann mit Beginn des Weltkrieges eingeslellt. Gleichzeiu'g
    mit dem Anschluß der Schweizer war auch üben“ in Dmnchland
    das Interesse für die Psychoennlyee erwacht, sie wurde der Gegen-
    stand zahlreicher literarischer Äußerungen und lebhnfi‚er Diskussion
    auf wissenschaftlichen Kongeuen Die Aufnahme war nirgends eine
    freundliche oder wohlwollend zuwunende. Nach kürzester Bekennt—
    schaft mit der Psychoanalyee wer die deutsche Wimenschah in ihrer
    Verwerfung einig.

    Ich kann neulrlich auch heute nicht wissen, welches des und—
    gültige Urteil der Nachwelt über den Wert der Psycheanalyse für
    Psychiatrie, Psyclwlogie und die Geismvimmediafiun überhaupt
    sein wird. Aber ich meine, wenn die Phaeg die _wir durchleln.
    haben, einmal ihren Gewächeschreiher findet, wird dieser zu
    gestehen miiuen, daß das Verhalten ihm- damaligen Veruener nicht
    rühmlich fur die denwhe Winenscheft war. Ich heu'ehe mich dabei
    nicht auf die Tnturhe der Ablehnung oder auf die Ennehiedenheit.
    mit der ‚sie gmchnli; beides vur leicht zu verstehen, entsprach nur
    der Erwartung und Rennes wenigmns keinen Schauen auf den
    Charakter der Gegner werfien. Aber in: das Ausmaß von Hachmut
    und gewissenlnser Vmchmihung der Legik, für die Koheit. und
    Geschmacklodgkeit der Angriffe gibt es keine Enmzhulcligung. Man
    kann mit verhalten, es sei kindiseh, noch nach fünfzehn Jahren
    solcher Empfindlichkeit freien Lauf zu gehen, ich würde es‘auch nicht
    um, wenn ich auch noch etwas anderes hinzuzufügen käme Jahre

    Freud xl. “

  • S.

    i5n Schn_'/ten aus den Jahren 1923—ry25

    später, als während des Welthieges ein Chor von Feinden gegen
    die deutsche Nation den Vorwurf der Barbarei erhob, in dem all
    das Erwähnte zuenmmenniiit, sohnnerrte es doch tief, daß man aus
    eigener Erfahrung dem nicht widersprechen konnte.

    Eine: der Gegner rühmte sich laut, daß er seinen Patienten den Mund
    verhiete, wenn rie von aeruellen Dingen zu sprechen beginnen und leitete
    um dieser Technik oflenhnr ein Recht ab, über die äu'olngische Rolle tler
    Sexualität bei den Newman zu urteilen, Ahgerehen von den afiektiven
    Widenländen. die sich nach der psychnunhlytixchen Theorie in leicht er—
    klärten, daß Sie um nieht irre nrnohen konnten, schien mir das Haupt-
    hinderni; der Vernändjgung in dem Umstand zu liegen. daß die Gegner
    in der nychoanalyse ein Produkt meiner :pekulariveu Phantasie nahen und
    nicht an die lange, geduldige, vorinuetrungiluie Arbeit glruhen wollten,
    die zu ihrem Aufbau aufgewentiet wurden war. Du nanh ihrer Meinung
    die Analyse nichu mit Beobachtung und. Erfahrung zu tun hatte, hielten
    iie nich auch fiir berechtigt, ‚lie ohne eigene Erfahrung zu verwnfen.
    Andere, die sich mlcher Überzeugung nicht an rinher fühlten, wiederholten
    rin; klarriache Widernnnd.mnniiver‚ nicht im Mjh'nlknp zu gucken, um
    ihn nicht zu neben, war nie hetnritten humn. Es irt überhnupt merkwürdig.
    wie inkorrekt rich die meinen Menrehen henehnren, wenn rie in einer
    neuen Sache auf ihr eigene. Urteil geheilt rind. Durch viele Jnhre und
    auch heule noch bekam ich von „wohlwollenden“ Kritikern zu hören, so
    und so weit habe die Psychoanalyse Recht, aber an dem punkte beginne
    ihr Übermaß, ihre unberechtigle Veraligeureinerung. Dabei weiß ich. daß
    nicht; echwieriger in als über eine aulehe Abgrenzung zu entscheiden, unti
    daß die Kritiker reihet hir vor wenigen Tagen oder Wochen in voller Un—
    knnntnit tler Suche geweien waren.

    Das offizielle Anatherua gegen die Psychoanalyse hatte zur Folge,
    daß sich die Analy-liker enger zusammensehlossen. Auf dem zweiten
    Kongreß zu Nürnberg 1910 organisierten sie sich auf Vorschlag
    von s. Ferenczi zu einer „internationalen Psyehunnn1ytisnhen Ver—
    einigung“, die in Ortsgruppen zerliel und unter der Leitung eines
    Präsidenten stand. Diese Vereinigung hat den Weltkrieg überstanden,
    sie besteht heute noch und umfaßt die 0rlsgruppen Wien, Berlin,
    Budapest, aninh, London, Holland, New York, Pan-Amerika1 Moskau
    und Kalkuua. Zum ersten Präsidenten ließ ich C. G. Jung wählen,

  • S.

    ein recht unglücklicher Schritt, wie sich splbét lm'x'uusslellte. Die
    Psychoanalyse erwarb damals ein zweites lmn'nal,:'tlafi „Zentmlblltt
    fiir Psychonnnlyse", redigien von Adler und. Stékel und bald damit
    ein drittes‚die „Imagn“, von den Nichtärzten H.Sachll und O.Rimk
    für die Anwendungen der Analyse auf“ die Geislesvvimeusclmflen
    b5timmt. Bild darauf vefifl'enflidzte Bleuler seine Snlu'ifl. zur
    Verleidignmg tler Psychoannlyse („Die Psychoanalyse Freuds“ 19m).
    50 e!freulich es war, daß in dem Streit einmal auch Gerechtigkeit.
    und ehrliche Logik zu Worte kamen, so konnte mich die Arbeit
    Bleulers doch nicht völlig befriedigen. Sie slrebhe zu sehr nach
    dem Anschein der Unpu'beilichkeit; es war kein Zufall, daß zum
    gerade ihrem Auwr die Einführung dis wertvollen Benges der
    Ambivalenz in unsere Wissenschaft zu dank- hatte. In späteren
    Aufsätzen im Bleuler sich so ablehnend gegen das anslyu'scha
    Lehrgebäude verden‚ so wesentliche Stücke desselben bezweifelt
    oder verworfen, dnß ich mid! verwundert fragen kaum was für
    seine Anerkennung davon erübrige. Und doch hat, er auch späwr
    nicht nur die hathafbesten Äußerungm zugunsten der „Tiefen—
    psychologie“ gehn, andern auch seine gmßungelegm Darstellung
    der Schichhnnien auf sie begründet. Bleuler verblieb übrigens
    nicht lange in der „Inmrnafionnlgn Psychoanalyn'schan Vereinigung",
    er verließ sie infolge vun Mißth nn't Jung und das „Bag—
    hölzli“ ging der Analy.e verloren.

    Der olfizielle Widerspruch kannte die Ausbreitung der Psyche-
    analyse weder in Deutschland noch in den anderen [Ändern auf-
    halten. Ich habe an anderer Stelle („Zur Geschichte der psycho-
    analytischen Bewegung“) die Etappen ihres Fortsch1'tms verfolgt
    und don auch die Männer genannt‚ die sich lls ihre Verneter
    hervorwben. Im Jahre 1909 waren Jung und ich von G. Stanley
    Hall nach Amerika berufen worden, um (lan an der Clark Uni-
    versity, Womeswr, Muss., deren Präsident er war, zur zwanzigjährigen
    Gründungsfeier des Instituts eine Woche lang Vln'lesungvn (in
    deutscher Sprache) zu halten. Hall war ein mit: Recht angesehener

    „-

  • S.

    154 Schriften m den Jahren 192}—I925

    Psycholog und Pädagog, der die Psychoanalyse schon seit Jahren
    in seinen Unterricht einbezogen hatte; es war etwas vom „König.
    macher“ in ihm, dem es gefiel, Autoritäten ein- und wieder ab-
    zusetzen, Wir trafen dort auch James J. Putnam, den Neurologen
    von Harvard, der sich trotz seines Alters für die Psychoanalyse
    begeisterte und mit dem ganzen Gewicht seiner allgemein respele
    Lienen Persönlichkeit für ihren kulturellen Wert und die Reinheit
    ihrer Absichten einmat. An dem ausgezeichneten Menue, der in
    Reaktion auf eine zwangsnearotisehe Anlage vorwiegend ethisch
    orientiert war, störte uns nur die Zumutung, die Psychoanalyse
    an ein bestimmtes philosophisches System anzuschließen und in den
    Dienst moralischer Bestrebungen zu stellen. Auch eine Zusammen
    kunft mit dem Philosophen William James hinterließ mir einen
    bleibenden Eindruck. Ich kann nicht die kleine Szene vergessen,
    wie er auf einem Spaziergang plötzlich stehen blieb, mit seine
    Handtasche übergab und mich hat vorauszngehen, er werde nach-
    kommen, sobald er den herannahenden Anfall von Angina pecturis
    abgemacht habe. Er starb ein Jahr später am Herzen; ich habe
    mir seither immer eine ähnliche Furchtlosigkeit angesicl-ns des
    nahen Lebensendes gewünscht.

    Damals war ich erst 55 Jahre alt, fühlte mich jugendlich und
    gesund, der kurze Aufenthalt in der Neuen Welt tat meinem Selbst-
    gefühl überhaupt wohl; in Europa fühlte ich mich wie geächtet,
    hier sah ich mich von den Besten wie ein Gleichwertiger auf-
    genommen. Es war wie die Verwirklichung eines unglauhwürdigen
    Tagtraumes‚ als ich in Warcester den Katheder bestieg, um meine
    „Fünf Vorlesungen über Psychoanalyse“ ahzahalten. Die Psycho-
    analyse war also kein Wahngebilde mehr, sie war zu einem wert-
    vollen Stück der Realität geworden Sie hat auch den Boden in
    Amerika seit unserem Besuch nicht mehr verloren, sie ist “über den
    Laien ungemein populär und wird von vielen offiziellen Psychiater-n
    als wichtiger Bestandteil des medizinischen Unterrichts unerkannt.
    Leider hat sie dort auch viel Verwässenmg erfahren Mancher

  • S.

    „Seibndnrrtellung“ i55

    Mißbrauch, der nichts mit ihr zu tun hat, deckt. sich mil. ihrem
    Namen, es fehlt an Gelegenheilßn zu gründlicher Ausbildung in
    Technik und Theorie. Auch stößt sie in Amerika mit dem Beha-
    vionrism zueannrnen, der sich in seiner Nüvioät rüth das psycho—
    logische Problem überhaupt ausgeschaltet zu haben.

    in Europa vollzogen sich in den Jahren 1911—19l5 zwei Ab—
    la]lsbewegtmgeu von der Peychoannlyee, eingeleitet von Personen,
    die bisher eine anselmliche Rolle in der jungen Wissenschah ge-
    spielt hatten, die von Alfred Adler und von C. G, Jung. Beide
    sahen recht gefährlich aus und gewannen rasch eine große Au-
    hängerschafL Ihre Stärke denkten sie aber nicht dem eigenen
    Gehalt, sondern der Verlockung, von den anrttiliig empfundenen
    Resultaten der Psychoanalyse frei zu kommen, auch wenn man
    ihr tatsächlinhm Material nicht mehr verleugzteie Jung velsuchle
    eine Umdeunmg der analytischen Tatsachen ins Abslrdkte, Un-
    persöuliche und Unhislm'lsche, wodurch er sich die Würdigung der
    infamjlen Sexualität und des Ödipus-Kumplexes sowie die Not-
    wendigkeit der Kindheitsanalyse zu ersparen holiue. Adler schien
    eich noch weiter von der Psychoanalyse zu entfernen, er verwerf
    die Bedeutung der Sexualität überhaupt, führte Charakter- wie
    Neuroseubildung ausschließlich auf das Machtstrehen der Men—
    schen und ihr Bedürfnis nach Kompensation ihrer konstjmlionellen
    Miuderwerügkeileh zurück und schlug alle psychologischen Neu»
    erwerhungen der Psychoanalyse in den Wind. Doch het des von
    ihm Verworl'eue eich unter getindertenr Namen die Aufnahme in
    sein geschlossenes System mwungeu; sein „männlicher Protest“
    ist nichts anderes als die zu Unrecht sexua1isierte Verdrängung.
    Die Kritik begegnete beiden Häretikern mit großer Milde; ich
    konnte nur erreichen, daß Adler wie ‚Yung darauf venjchlßteu,
    ihre Lehren „Psychoanalyse“ zu heißen. Men kann heute, nach
    einem Jahrzehnt, feststellen, daß beide Versuche an der Psychoanalyse
    achadlos vorübergegangeu sind.

    Wenn eine Gemeinschaft auf Übereinstimmung in einigen kardi-

  • S.

    165 Schriften nur den Juhren 1923—1926

    nalen Punkten begründet ist, wird es aelbetversfllndlich, daß diejenigen
    aus ihr ausscheiden, welche diesen gemeinsamen Boden aufgegeben
    haben. Doch hat man häufig den Abfall fi'l1herer Schiller als Zeichen
    meiner Intoleranz mir zur Schuld angerechnet oder den Ausdruck
    einen besonderen auf mir lnatenden Verhüng-nisaes darin gesehen.
    Es genüge dagegen, darauf hinzuweisen, daß denen, die mich ver-
    lassen haben, wie lung, Adler, Stekel und wenige andere, eine
    große Anzahl von Personen gegenubersteht, die, wie Abraham,
    Ehingen, Ferenczi, Rank, Jones, Brill, Sachx, Pfarrer Pfister,
    van Emden, Keik u. a. seit etwa fünfzehn Jahren mit in treuer
    Mitarbeitaschnfi, meist aueh in ungetrtlbter Freundselufl anhängen.
    Ich habe nur die “ältesten meiner Schuler hier genannt, die sich
    bereits ein- rnhmlichen Namen in der Literatur der Psychoanalyse
    geschafi'en haben, die Übergeth anderer soll keine Zurücksetzung
    bedeuten und gerade unter den jungen und spät hinzugekommenen
    befinden sich Talente, auf die man große Hoflinungen setzen darf.
    Aber ich darf wohl für mich geltend machen, daß ein inmleranner
    und vum Unfehlbarheitadilnkel beherruchter Mensch niemals eine
    so poBe Schar geistig bedeutender Personen an sich hätte fesel.n
    Binnen, zumal wenn er über nicht mehr praktische Verlockungen
    verfügte als ich.

    Der Weltkrieg, der so viel andere Orgerüsatinuen zerstßrt hat,
    kannte unserer „Intemationelen“ nichts anhaben. Die erste Zu-
    sammenkunft nach dem Kriege fand 1990 im Haag statt, auf neu-
    tmlem Boden. Es war rührend, wie holländische Gastfreundschaft
    sich der verhuugert.en und verermten Mitteleuroer annahm, es
    geschah auch meines Wissens dann]; zum ersten Male in einer zer—
    störten Welt, daß Engländer und Deutsche sich wegen wissenschaft-
    licher Interessen freundscheftlich an denselben Tisch setzten. Der
    Krieg hatte sogar in Deutschland wie in den westlichen Ländern
    das Interesse an der Psychoanalyse gesteigert. Die Beobachtung der
    Kfiegsneumtiker hatte den Ärzten endlich die Augen über die Be—
    deutung der Psychngenese fiir neurotische Störungen geöffnet. einige

  • S.

    „Seßxtdarszeüung“ : 67

    unserer psychologischen Konzeptionen, der „Krankheitsgewinn“, die
    „Flucht in die Krankheit“ wurden rasch populär. Zum letzten Kon-
    greß vor dem Zusammenbruch, Budapest 1918, hatten die Verbün-
    deten Regierungen der Mittelmächw offizielle Vertreter geschickt,
    welche die Einrichtung psychoanalytischer Stationen zur Behandlung
    der Kriegsneurctiker zusagten. Es kam nicht mehr dazu. Auch weit-
    ausgreifende Pläne eines unserer beswn Mitglieder, des Dr. Anton
    von Freund7 welche in Budapest eine Zentrale für analyüyche
    Lehre und Therapie schaffen WDH'BII‚ scheiterten an den bald darauf
    erfolgenden pclitischen Umwälzungen und dem frühen Tod des une
    ersetzlichen Mannes. Einen Teil seiner Anregungen verwirklichte
    später Max Eitingon, indem er ignn in Berlin eine psychnana-
    lytische Poliklinik schuf. Während der kurzen Dauer der holschcL
    wisti_schen Herrschaft in Ungarn konnte F erenczi noch eine erfulg—
    reiche Lehrtätigkeit als oflizieller Vertreter der Psychoanalyse an der
    Universitäl. entfallen. Nach dem Kriege gefiel es unseren Gegnern
    zu verkünden, daß die Erfahrung ein schlagendes Argument gegen
    die Richtigkeit der analytischen Behauptungen ergehen habe. Die.
    Kriegsncuroscn hätten den Beweis für die Überflüssigkeit sexueller
    Mnmente in tier Ätiologie neurutischer Aßektienen geliefert. Allein
    das war ein leichtfertiger und voreiliger Triumph. Denn einerseits
    ham: niemand die gründliche Analyse eines Falles vun Kriegsncnruse
    durchführen können, man wußte alsu einfach nicth Sicheres über
    deren Muüv'ierung und durfte doch am solcher Unwissenheit keinen
    Schluß ziehen. Anderseirs aber hatte die Psychoanalyse längst den
    Begrifl des Nurzißmus und der nam'ßtischen Neurose gewonnen,
    der die Anheftung der Libido an das eigene Ich, an Stelle eines
    Objekts, zum inhalt hatte. Das heißt also, man machte sonst der
    Psychoanalyse zum Vorwurf, daß sie den Begriff der Sexualität un-
    gebührlich erweitert habe; wenn man 5 aber in der Polemik bequem
    fand, vergaß man an dieses ihr Vergehen und hielt ihr wiederum
    die Sexualität im engsten Sinne vor.

    Die Geschichte der Psychoanalyse zerfa'llt für mich in zwei Air

  • S.

    i
    r

    165 sm„'fm nur den im may—19:6

    Schnitte, von der kathartischen Vorgeschichte abgesehen. Im ersten
    stand ich allein und hatte alle Arbeit selbst zu tun, so war es von
    1895/96 an bis 1906 oder 1907. Im zweiten Abschnitt, von da
    an bis zum heutigen Tage, haben die Beitrlige meiner Schüler und
    Mitarbeiter immer mehr an Bedeutung gewonnen, so daß ich jetzt,
    durch schwere Erhenkung an das nahe Ende gemeth mit. innerer
    Ruhe an das Aufhüren meiner eigenen Igistung denken kann.
    Gerade dadurch schließt es sich aber aus, daß ich in dieser „Selbst-
    darstellung“ die Fortschritte der Psychoanalyse im zweiten Zeit—
    abechnitt rnit solcher Ausflihrlithkeit behmdle wie deren allmäh-
    lir.hen Auibuu im ersten, der allein von meiner Tätigkeit ausgefüllt
    ist Ich flilzle mich nur berechtigt, hier jene Neuerwerbungen zu
    erwähnen, an denen ich noch einen hervorragenden Anteil hatte,
    also vor Allem die auf dem Gebiet des Neu-zißmus, der Trieblehre
    und der Anwendung auf die Psychosen.

    Ich habe nachzutragen, daß mit zunehmender Erfahrung der
    Ödipus-Komplex sich immer deutlicher als da- Kern der Neurose
    hemustellte. Er war sowohl der Höhepunkt du infantilen Sexual—
    lehens wie mich der Knotenpunkt, von dem alle späteren Entwick-
    lungen ausgingen. Damit schwand aber die Erwartung, durch die
    Analyse ein für die Neurose spezifisches Moment au.fzudecken. Man
    mußte sich sagen, wie es lung in seiner analytischen Frühzeit
    treffend uuszudrncken verstand, daß die Neurose keinen besonderen,
    ihr ausfhließlich eigenen Inhalt hehe, und (laß die Neurotiker an
    den uämlidlen Dingen scheitern, welche von den Normalen glück-
    lich bewältigt werden. Diese Einsicht bedeutete durchaus keine
    Enttäuschung. Sie mnd im befien Einklang mit jener anderen,
    daß die durch die Psychoanalyse gefundene Tiefenpsyuhologie
    eben die Psychologie des normalen Seelenlebens war. Es war uns
    ebenso ergangen wie den Chemiker-n; die großen qualitativen Ver-
    schiedenheiten der Produkte führten sich auf quantitative Ab-
    änderungen in den Kombinationsverhliltuissen der nämlichen El&
    mente zurück.

  • S.

    ‚Selbrndarrzelhuu“ . 169

    Im Ödjpus-Kumplex zeigte sich die Lili—iu an die Vorstellung der
    elterlichen Personen gebunden. Aba‘ es hatte varha- eine Zeit ohne
    alle snluhe Objekte gegeben. Daraus ergab sich die für eine Libido«
    theorie grundlegende Konzeption eines Zustandes, in dem die Libido
    das eigene Ich erfüllt, dieses selbst zum Objekt genommen hat.
    Diesen Zustand konnte man „Narzißmus“ oder Selbstliebe nennen.
    Die nächsten Überlegungen sagten, daß er eigentlich nie völlig auf—
    gehoben wird; für die ganze Lebenszeit bleibt das Ich das große
    Libidoreservair, aus welchem Objektbesetzungen ausgeschickt werden,
    in welches die Libido von den Objekten wieder zurückströmen kann.
    Narzißvische Libido setzt sich also farmährend in Objektlibido um.
    und umgekehrt. Ein ausgaeicbneües Beispiel davon, welches Aus-
    maß diese Umsetzung erreichen kann, zeigt uns die bis zur Selbst-
    aufopfemug reichende sexuelle oder sublimierte Verliebtheit. Während
    man bisher im Verdränglmgsprozeß nur dem Verdrängten Aufmerk-
    samkeit geschenkt hatte, ermöglichen diese Voxslellungen, auch das
    Verdrängende richtig zu würdigen. Man hatte gesagt, die Verdrän—
    gung werde von den im ieh wirksamen Selbsterhaltungstrieben
    („lehnieben“) im Werk gesetzt nnd an den libidinäeen Trieben voll-
    zogen. Nun, da man die Selbsterhnltungstriehe auch als libidinöeer
    Natur, als umzißtische Libido, erkannte, erschien der Verdi'änglmgs-
    vorgang als ein Pmneß innerhalb der Libido selbst; nalzißüsche
    Libido stand gegen 0biekfibido, das Interesse der Selbsterhnlmng
    wehrte sich gegen den Anspruch der Objektlielm, also auch gegen
    den der engeren Sexualität.

    Kein Bedürfnis wird in der Psychologie dringender empfunden,
    als nach einer truglähigen Triehlehre, auf welcher man weiter-
    bauen kann. Allein nichts dergleichen ist vorhanden, die Psycho-
    analyse muß sich in tustenden Versuchen um eine THeblehrs be-
    mühen, Sie stellte zuerst den Gegensatz von Ichtrieben (Selbst-
    erhnltung, Hunger) und von libidinllsen Trieben (Liebe) auf, ersenzbe
    ihn dann durch den neuen vum narilßh'scher und Dbiektlihidn.
    Damit war offenbar das letzte Wort nicht gesprochen; biolqg‘ische

  • S.

    i7e Schriften Liu: den Jahrm Iy2}f1925

    Erwägungen schienen zu verbieten, daß man sich mit der Annahme
    einer einzigen Art von Trieben hegm'ige,

    In den Arbeiten meiner letzten Jahre („Jenseits des Lustprinzips“,
    „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, „Das Ich und das Es“) habe
    ich der lange niedergehaltenen Neigung zur Spekulation freien Lauf
    gelasen und dort auch eine neue Lösung des Triebproblems irn
    Auge gefaßt. Ich habe Selbst- und Anerhaltung unter den Begriff
    des Eros zusammengefaßt und ihm den geräuschlos arbeitenden
    Tudes- oder Destruktionstrieb gegenübergestellt. Der Trieb
    wird ganz allgemein erfaßt als eine Art Elastizität des Lebenden,
    als ein Drang nach Wiederherstellung einer Situation, die einmal
    bestanden hatte und durch eine äußere Störung aufgehoben werden
    war. Diese in] Wesen konservative Natur der Triebe wird durch die
    Erscheinungen des Wiederholungszwanges erläutert. Das Zur
    sammeln- und Gegeneinanderwirken von Eros und Todestrieb ergibt
    für uns das Bild des Lebens.

    Es steht dahin, ob sich diese Konstruktion als brauchbar erproben
    wird. Sie ist zwar von dem Bestreben geleitet werden, einige der
    wichtigsten theoretischen Vorstellungen der Psychoanalyse zu fixieren,
    aber sie geht weit über die Psychoanalyse hinaus. Ich habe wieder»
    holt die geringscbi—itzige Äußerung gehört, man könne nicth von
    einer Wissenschaft halten, deren oberste Begriffe so unscharf wären
    wie die der Libido und des Triebcs in der Psychoanalyse. Aber
    diesem Vorwurf liegt eine völlige Verkennung des Sachverhalts zu-
    grunde. Klare Grundbegriffe und scharf umrissene Definitionen sind
    nur in den Geisteswissenschaften möglich, soweit diese ein Tatsachen»
    gebiet in den Rahmen einer intellektuellen Systembildung fessen
    wnllen In den Neturwirsenselreften, zu denen die. Psychologie ge-
    hört, ist solche Klarheit der Oberbegriile überflüssig, ia unmöglich.
    Zoologie und Botanik haben nicht mit korrekten und zureichendeu
    Definitionen von Tier und Pflanze begonnen, die Biologie weiß noch
    heute den Begriff des Lebenden nicht mit sicherem Inhalt zu er-
    füllen. Ja, selbst die Physik bitte ihre ganze Entwicklung versäumt,

  • S.

    „Selbcrdarmfluu“ ‘ ‘ x 1 1

    wenn sie hätte abwarten musen, bis ihre Begriffe vun swff‚ Kuh,
    Gruvitaüon und nndere die wünschenswerhe m.ämia und Präzision
    erreichten. Die Grundversbellungen oder nbem.en Begriffe der natur-
    wisenschafflidlen Disziplinen werden immer zunächst unliülimmt
    gelassen, vorläufig nur durch den Hinweis auf das Meinungs—
    gebiet erläutert, dem sie entstammen, und können am durch die
    fortschreitende Analyse des Benbenhumgsmaterials klar, inhaltsreich
    und widersprnchsfi'ei werden.

    Ich habe schon in früheren Phasen meiner Produktion den Vet-
    such gemacht, von der psychoenalytiscben Beobachtung aus all-
    gemeinere Gmichupunkte zu erreichen. 191 [ bemnte ich in einem
    kleinen Aufsatz „Formulierungen über die zwei Prinzipien des
    psychischen Geschehens“ in gewiß nicht arigineller Weise die Vor-
    hemchaft des Lust-Unlustprinzipe für das Seelenleben und dessen
    Ablösung durch das „genannte „Realitälsprinzip“. Später wagte
    ich den Versuch einer „Mempsychologie“. Ich nannte so eine Weise
    der Betrachtung, in der jeder leelinche Vorgang nach den drei Koordi-
    namen der Dynamik, Topik und Ökonomie gewürdigt wird, und
    sah in ihr das äußerste Ziel, das der Psychologie erreichbar ist.
    Der Versuch blieb ein Tom, ich brad1 nach wenigen Abhand-
    lungen (Triebe und Triebschicksule —Verdrängimg — Das Unbe-
    wußw —Trauer und Melancholie usw.) Ib und m gewiß wohl
    da.-nn, denn die Zeit fur solche theoretische Festlegung war noch
    nicht gekammm In meinen letzten spekulafiven Arbeiten habe
    ich es unternommen, unseren teelimhen Appetit auf Grund an.-
    lyu'scher Verwermng der patholngiacben Tnmnhm zu gliedern und
    habe ich ihn in ein Ich, ein Es und ein Über—Ich zerlegt. („Du
    Ich und das Es“, 1999.) Das Über»lc'h ist der Erbe des Öd'rpu}
    Komplexes und der Vertreter der ethischen Anfimierungen des
    Menschen.

    Es null nicht der Eindmk erweckt werden, ii. bitte ich in amimw..
    pnin.in meiner Arbeit der geduldigen Beobachtung den Ram gewonder
    untl mich dumimn tler Spekulu.iun iibeflmn. mi bin vielmehr immer

  • S.

    „„

    „a Schriften aus den Jabra: „:)—1926

    in inniger Berührung mit dem annlyümhen Material geblieben und habe
    die Bearbeitung 5peiu-‚ller, klinischer oder technilchex Themata nie eingeltellt.
    Auch wo ich mich von der Beobachtung entfernte, habe ish die Annäherung
    an die eigentliche Philosophie !orgfn'ltig vermieden, Knustitutiunelle Unfihig-
    keit hat mir solche Enthalttmg sehr erleichtm. Ich war immer für die Ideen
    G. Th. Fechnen zugänglich und habe mich auch in wichtigen Punkten
    an diesen Denker angelehnt. Die weitgehenden Übereinnimmungen der
    Pryehaaualyre mil der Philosophie Schopenhauers — er hat nicht nur
    den Prima! der Afl'ekrivität und die überragende Bedeutung det Sexualität
    vertreten, rendern selbst den Meehanirinur tler Verdrängung gekannt —
    Ihnen sich nicht auf meine Bekanntschaft mit seiner Lehre zurückfiihren.
    Iuh habe Sshapenhaner sehr spät im Leben gelesen. Nietzsche, den
    snderen Philonuphen, dessen Ahnungeu und Einxichten sich oft in der
    maunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Piychoanalyse
    decken, habe ich gerade darum lange gemieden; an der Priorität lag mix
    in weniger als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit,

    Die Neurosen waren das erste, huge Zeit auch das einzige Objekt
    der Analyse gewesen. Keinern hnalytiker blieb es zweifelhaft, daß
    die medizinische Praxis unreeht hat, welche diese Atiektionen von
    den Psychosen fern hält und an die organischen Nervenleiden an-
    schließt Die Neurosenlahre gehört zur Psychiatrie, ist unentbehrlich
    zur Einführung in dieselbe. Nun scheint das analytische Studium der
    Psychnsen durch die therapeutische Aussichtslosigkeit einer solchen
    Bemühung ausgeschlossen. Den psychisch Kranken fehlt im all.
    gemeinen die Fähigkeit zur positiven Übertragung, so daß des Haupe
    mittel der analytischen Technik unanwendbar ist Aber es ergeben
    sieh doch manuherlei Zugänge. Die Übertragung ist oft nicht so
    völlig abwesend, daß man nicht ein Stiitlr weit mit ihr kommen
    könnte, bei zyldischen Verstimsnrnigen‚ leiohter paranoiseher Ver»
    äuderung, partiellar Schizophrenie hat man nnzweifelhafte Erfulge
    mit der Analyse erzielt Es war auch wenigstens für die Wissen«
    schaft ein Vorteil, daß in vielen Fällen die Diagnose längere zeit
    zwischen der Annahme einer Psychoneurose und der einer Dementia
    praeoox schwanken kann; der angestellte therapeutische Versuch
    konnte so wichtige Aufsohliisse bringen, ehe er abgebrochen werden

  • S.

    „szzhi-nzmtszlmg“ i75

    mußte. Am meisten kommt aber in Betracht., daß in den Psychosen
    so viele; für jedermann sichtbar an die Oberfläche gebracht wird7
    was man bei den Neuroeen in mühsamer Arbeit aus der Tiefe
    heraufholt. Für viele analytische Behauptungen ergibt darum die
    psychiatrische Kl'mik die besten Demonstrationsobjekte. Es konnte
    also nicht aushleiben, daß die Analyse bald den Weg zu den Ob-
    jekten der psychiatrischen Beobachtung £and. Sehr frühzeitig (1896)
    habe ich an einem Fall von paranoider Demenz die gleichen ätio-
    logischen Momente und das Vorhandensein der nämlichen aifektiven
    Komplexe wie bei den Neumsen feststellen können. lung hat rätsel-
    hafte Siereoty'pien bei Demenwn durch Rückbeziehung auf die
    Lebensgeschichte der Kranken aufgeklärt; Bleuler bei verschiede-
    nen Psychosen Mechanismen aufgezeigt, wie die durch Analyse bei
    den Neurntikem eruierten. Seither haben die Bemühungen der
    Analyljker um das Verständnis der Psychosen nicht mehr aufgehört.
    B$onders seitdem man mit dem Bey'ifi des Nar7.ißrnus arbeitete,
    gelang es bald an dieser, bald an jener Stelle einen Blick über die
    Mauer zu tun. Am weitesten hat es wohl Abraham in der Auf—
    klärung der Melancholien gebracht. Auf diesem Gebiet setzt sich
    zwar gegenwärtig nicht alles Wissen in therapeutische Macht um;
    aber auch der bloß theoretische Gewinn ist nicht gering anzuschlage‘n
    und mag gern auf seine praktischeVerv-Jendung warten. Auf die Dauer
    können auch die Psychiater der Beweiskraft ihres Krankenmaterials
    nicht widerstehen. Es vollzieht sich jetzt in der deutschen Psychiatrie
    eine Art von pénélrnzn'on pad/{que mit analytischen Gesichtspunkten.
    Unter unausgesemen Beteuerungen‚ daß sie keine Psychoanalytiker
    sein wollen, nicht der „orthodoxen“ Schule angehören, deren Über—
    treihungen nicht mitmachen, insbesondere aber an das übermächtige
    sexuelle Moment nicht glauben, machen doch die meisten derjfingeren
    Forscher dies oder jenes Stück der analytischen Lehre zu ihrem Eigen
    und wenden es in ihrer Weise auf das Material an. Alle Anzeichen
    deuten auf das Bevorstehen weiterer Entwicklungen nach dieser
    Richtung,

  • S.

    VI

    Ich verfolge jetzt aus der Ferne, unter welchen Reaktionssymptomen
    sich der Einzug der Psychoanalyse in das lange refiakl.äre Franke
    reich vollzieht. Es wirkt wie eine Reproduktion von früher Erlebe
    tem, hat. aber doch auch seine hesnnderen Züge. Einwendungen
    von unglaublicher Einfalt werden laut, wie der, das französische
    Feingefühl nehme Anstoß an der Pedanten'e und Plumplzuait der
    psychoanalytischen Namengebnngen (man muß dabei doch an
    Lessings unsterblichen Chevaljer Riccanl. de la Marliniere denken !)
    Eine andere Äußerung klingt enssthafier5 sie ist. selbst einem Pre
    fessor der Psychologie an der Surlionne nicht unwürflig erschienen:
    das Gélu'e latirl vertrage überhaupt nicht die Denkungsart der Psyche»
    analyse. Dabei werden die anglasächsischen Alliierten, die als ihre
    Anhanger gehen, ausdrücklich preisgegeben. Wer das him, muß
    natürlich glauben, das Ge'nie tzuloniquz habe die Psychoanalyse
    gleich nach ihrer Geburt als sein liebstes Kind ans Herz gedrückt

    In Frankreich ist das Interesse an der Psychoanalyse von den
    Männern der schönen Literatur ausgegangen, Um das zu ver
    stehen, muß man sich erinnern, daß die Psychoanalyse mit der
    Traumdeutung die Grenzen einer rein ärztlichen Angelegenheit
    überschritten hat. Zwischen ihrem Auftreten in Deumhland und
    nun in Frankreich liegen ihre mannjgfachen Anwendungen auf Ge-
    biete der Literatur und Kunstwiseenschafi, auf Religionsgeschichte
    und Prähismr-ie, auf Mytholngie, Volkskunde, Pädagogik usw. Alle

  • S.

    „Sethsidums11ung“ 175

    diese Dinge haben mit der Medizin wenig zu tun, sind mit ihr
    eben nur durch die Vermittlung der Psychoanalyse verknüpft. Ich
    habe darum kein Anrecht, sie an dieaer Stelle eingehend zu be—
    handeln. Ich kann sie aber auch nicht ganz vemsshiässigsu, denn
    einerseits sind sie unerläßlich, um die richn'ge Vorstellung vanerl.
    und Wesen der Psychoanalyse zu geben, anderseits habe ich mich
    ja der Aufgabe untenngen, mein eigenes Lebenswerk darzu:tellen.
    Von den meisten dieser Anwendungen gehen die Anfänge auf meine
    Arbeiten zurück. Hier und da habe ich wohl auch einen Schritt
    vom Wege gem, um ein solches außexirzfliches Interesse zu be—
    friedigen. Andere, nicht nur Ärzte, sondern auch Fachmänner, sind
    dann meiner Wegspur nachgefolgi und weit in die betreffenden
    Gebiete eingednmgen. Da ich mich aber meinem Programm gemäß
    auf den Bericht über meine eigenen Beiniige zur Anwendung der
    Psychoanalyse beschränken werde, kann ich dem Leser nur ein ganz
    unzureichendes Bild von deren Ausdehnung und Bedeutung ermög—
    lichen.

    Eine Reihe von Anregungen ging für mich vom Ödipus-Komplex
    aus, dessen Ubiquiiät ich allmählich erkannte. War schon immer
    die Wahl7 ja die Schöpfung des grauenhaften Smffes rätselhaft ge—
    wesen, die erschütternde Wirkung seiner poetischen Darstellung und
    das Wesen der Schicksalsmgödie überhaupt, so erklärte sich dies
    alles durch die Einsichi, daß hier eine Gesetzmäßigkeit des seelischen
    Geschehens in ihrer vollen alfektiven Bedeutung erfaßt werden
    war. Verhängnis und Orakel waren nur die Materialisufionen der
    inneren Nntwendigkeit; daß der Held ohne sein Wissen und gegen
    seine Absicht sündig1e, vemand sich als der richtige Ausdruck der
    nnbewußten Natur seiner verhrecherischen Strebungen. Vom Ver-
    ständnis dieser Schicksahtragödie war dann nur ein Schritt bis zur
    Aufhellung der Charaklemagödie des Hamlet, die man seit drei-
    humlert Jahren bewunderte, ohne ihren Sinn angeben und die
    Motive des Dichters ernten zu können. Es war doch merkwürdig,
    daß dieser vom Dichter erschcficue Neurotiker sm Ödipus-Komplex

  • S.

    176 Schnftm aus den Jahrzn 1923—1926

    scheinen wie seine zahlreichen Gefährten in der realen Welt, denn
    Hamlet ist vor die Aufgabe gestellt‚ an einem anderen die beiden
    Taten zu rächen, die den Inhalt des Ödipusstrebens bilden, wubei
    ihm sein eigenes dunkles Schuldgefü.hl lähmend in den Arm fallen
    darf. Der Hamlet ist von Shakespeare sehr bald nach dem Tode
    seines Vaters geschrieben werden. Meine Andeutungen zur Analyse
    dieses Traumpiels haben später durch Ernest Jones eine grund
    liche Ausarbeitung erfahren. Dasselbe Beispiel nahm dann Otto
    Rank zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen iiber die Stoß-
    wahl der dramatischen Dichter. In seinem großen Buche über das
    „Inzest-Motiv“ kannte er zeigen, wie häufig die Dichter gerade
    die Motive der ödipussituatien zur Darstellung wählen und die
    Wandlungen‚ Abänderungen und Milderungen des Sloll"es durch
    die Weltliteratur verfolgen.

    Es lag nahe, von da aus die Analyse des djehterischen und künst-
    lerischen Schafl'ens überhaupt in Angriff zu nehmen. Man erkannte,
    daß das Reich der Phantasie eine „Schonung“ war, die heim
    sehmerzlich empfundenen Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip
    eingerichtet wurde, um einen Ersatz für Triebhefriedigung zu ge-
    statten, auf die man im wirklichen Leben hatte verzichten müssen
    Der Künstler hatte sich wie der Neurot'iker von der unbeüiedi—
    genden Wirklichkeit in diese Phantasiewelt zurückgezogen, aber
    anders als der Neurotiker verstand er den Rückweg aus ihr zu
    finden und in der Wirklichkeit wieder festen Fuß zu fassen, Seine
    Sehöpfungen, die Kunstwerke, waren Phantasicbefrledigungen un-
    bewuldmr Wünsche, ganz wie die Träume, mit denen sie auch den
    Charakter des Kompromiss gemein hauen, denn auch sie mußten
    den offenen Konflikt mit den Mächtcn der Verdrängung vermeiden.
    Aber zum Unterschied von den asozialen, nanißtisehen Traurm
    produktiunen waren sie auf die Anteilnahme anderer Menschen
    berechnet, konnten bei diesen die nämlinhen unbewußcen Wunsch-
    regungen beleben und befriedigen, Überdies bedienten sie sich der
    Wahrnehmungslust der Formschönheit als „Verleckungsprämie“.

  • S.

    SIGM. FREUD
    um;
    Nach einer Zeichnung vun Prof. Ferdinnm'l Schnuller

  • S.

    „Saflirniamllung“ 1 77

    Was die Psychoanalyse leisten kannte, war, aus der Auleinander-
    beziehung der Lebenseindrnnke, zufälligen Schicksale, und der
    Werke des Künstlers seine Konstitution und die in ihr wirksamen
    Triebregungen‚ also das allgemein Menschliche an ihm, zu kon—
    struieren, In solcher Absicht habe ich z. B. Leonardn da Vinci
    mm Gegenstand einer Studie genommen, die auf einer einzigen,
    von ihm mitgeteilten Kindheitserinusrung ruht und im wesent—-
    lichen auf die Erklärung seines Bildes „Die heilige Anna selbdritt“
    hinzielt. Meine Munde und Schüler haben dann zahlreiche ähn«
    liche Analysen an Künstlern und ihren Werken unternommen.
    Es ist nicht eingetroflen, daß der Genuß am Kunstwerk durch das
    so gewonnene nnalyiisnhe Verständnis geschädigt wird. Dem Laien,
    der aber hier vielleicht von der Analyse zu viel erwartet, muß ein—
    gestanden werden, daß sie auf zwei Probleme kein Licht wirft,
    die ihn wahrscheinlich am meisten interewieren, Die Analyse kann
    nichts zur Aufklärung der künstlerischen Begahung sagen und auch
    die Aufdeckung der Mittel, mit denen der Künstler arbeitet, der
    künstlerischen Technik, fällt ihr nicht zu.

    An einer kleinen, an sich nicht besonders wertvollen Novelle,
    der „Gradiva“ von W. Jensen, konnte ich nachweisen, daß er-
    dichtete Träume dieselben Deutungen zulassen wie reale, daß also
    in der Produktion des Dichters die uns aus der Traumarbeit bu.—
    kannt;en Mechanismen des Unbewußten wirksam sind.

    Mein Buch über den „Witz und seine Beziehung zum
    Unbewußten“ ist direkt ein Seiwnspmng von der „Traumdeumng“
    her. Der einzige Freund, der damals an meinen Arbeiten Anteil
    nahm, home mir bemerkt, daß meine Traumdeutungen häufig einen
    „witzigen“ Eindruck machten, Um diesen Eindruck aufzuklären,
    nahm ich die Untersuchung der Witze vor und fand, das Wesen
    des Witze; liege in seinen technischen Mitteln, diese seien aber
    dieselben wie die Arbeitsweisen der „Trauma-beit“, also Verdichtung,
    Verschiebung, Darstellung durch das Gegenteil, durch ein Kleinste;
    usw. Daran schloß sich die ökonomische Untersuchung, wie der

    Freud xl. „

  • S.

    173 Schriften zur dm Jr}imr ry23—1926

    hohe Lustgewinn heim Hörer des VV'nzes zustande komme, Die
    Antwort war: durch momentane Aufhebung von Verdrängung-
    aufwand nach der Verlockung durch eine dargebotene Lustprämie
    (Vurlust).

    Höher schätze ich selbst meine Beiträge zur Religionspsychclogie
    ein, die 1907 mit der Feitstellung einer überraschenden Ähnlichkeit
    zwischen Zwangshandlungen und Eeligionsülzungen (Ritus) begannen.
    Ohne noch die tieferen Zusammenhänge zu kennen, bezeichnete
    ich die Zwangtneurose als eine verzerrte Privatreljg'inn, die Religion
    sozusagen als eine universelle Zwangsneurose. Später, 1912, wurde
    der nachdrückliche Hinweis von Jung auf die weitgehenden Ann
    lugien zwischen den geistigen Produktinnen der Neumt'iker und
    der Prim.itiven mir zum Anlaß, meine Aufmerksamkeit djeeem
    Thema zuznwenden. In den vier Aufsätzen, welche zu einem Buch
    mit dem "1in „Totem und Tabu“ zusammengefaßt wurden,
    führte ich aus, daß bei den Primitiven die Inzest3cheu noch stärker
    ausgeprägt ist als bei den Kultivierten und ganz besondere Abwehr
    maßregel_n hervorgerufen hat, untersuchte die Beziehungen der Tabu
    Verbote, in welcher Form die ersten Moraleingchränkungen auftreten,
    zur Gefühlsamhivalenz, und deckte im primitiven Weltsystecn des
    Animismus das Prinzip der Überschätzung der seelischen Realität,
    der „Allmacht der Gedanken“ auf, welches auch der Magie zn-
    grunde liegt. Überall wurde die Vergleichung mit der Zwangsneumse
    durchgeführt und gezeigt wie viel von den Voraussetzungen des
    primitiven Geisteslebens bei die5er merkwürdigen Aflektion nach
    in Kraft ist Vor allem mg mich aber der Tatemismus an, dies
    erste Organisaünmsyslem primiüver Stämme, in dem die Anfänge
    sozialer Ordnung mit einer mdimentären Religion und der nur
    erbittlichen Herrschaft einiger weniger Tabuverbote vereinigt sind
    Das „verehrte“ Wesen ist hier ursprünglich immer ein Tier, von
    dem der Clan auch abmstammen behauptet. Aus verschiedenen An-
    zeichen wird erschlossen, daß alle, auch die höchststehenden Völker,
    einst dieses Stadium des Totemismus durchgemacht haben,

  • S.

    Meine litenrisnhe Hlnptqnelle fiir die Arbeiten mf (liefen Gebiete vun-un
    die bekiirntln wm von J, G. Freier (,meim ml! Emgnmy“, ‚The
    Gulden Baugh"), eine Fundgrube wertvoller Tullma und Gefichnpunku.
    Aber zur Aufklärung der Probleme den Tatemilmni leime Fn‘ze'r wlnig;
    er hatte wine Aniicht über dienen GegennAnd mehrma.ll grundotiirunrl
    verändert und die anderen Ethnologen nnd Präliinvriker whienm ebanlo
    nmicher n]. unelnig in fliegen Dingen. Mein Aulgnngtpunkl wu- ai: uu5
    fällige Überu'nm'mmnng tler beiden Tlluunnnngun n. Tommimnu. den
    Toten: nicht zu um und kein Weib del gleichen Tomduu- guuhlmhzliuh
    zu gehnucheu. mit den beiden Inde da 0dipnrl(omplem. du Van-
    zu beseitigen und die Mutter zum Weib. zu nehmen. n. engel; sich »
    die Venuclzung, du Tmemfier den: Vila gleichzumellen‚ wie n (lie Prinli-
    tiven ohnediev n\url.rücklich 'nen. indem lie el Ill den Almlierm (lee Glen-
    verehrlen. Von prynholnnlyliicher Seite hauen mi.r dann zwei Tun-dien
    zu Hilfe, eine glückliche Beobuchmug Ferencn'e am Kindu, welche ge-
    nauen, von einer infunilen Wiederkehr du Talemilmnl zu vprechan,
    und die Anliyre der Milieu Tierplwhien der Kinder, welche m of! zeigte,
    daß die! Tier ein anererntx wir. ln! welchen die im ÖrlipurK/nupllx
    begründet: “mehr vor dem Vater vencholren wurde. FA fehlte nun nicht
    mehr viel, um die Vuertötung Ill Kern der Totenünnu: untl ih Au!-
    gangspunh der Belig'inmbilflung zu „kennen.

    Diet fehlen-le Stück im tlth die Kennmilnl.hme vun W. Roberuon
    Smith‘i Werk „The Religion uf the Smitgu' hinzu _ tler genillc Menu,
    Phyniker untl Bibelinnnhefr. hm: eh ein waemlid.nei Stück der Tot-m—
    religion die mgenmnle Tutornmnhlzeit hingenellt. Einmal im h'hre
    wurde du nun heilig geh-ken: Tmemrlecr feierlich uum Beteiligung elle:
    Suurnmeugermnen ge\öm‚ verzehrt und dann hen-nme An dien Treue:
    schloß «ich ein große. Fan m. Nuhm ich die Dnrwinu-‚he Vermutung
    hinzu. (laß die Menlclien urrprünglich in Hoden lebten, deren jede unter
    der Hemchlft einer einzigen, mm, gevultfin'gen nnd eifenüchtigen
    Männchen! mad, » genuhne lid! mir nun 111 clin- Knmpommn die
    Hypothese, oder ich möchte lieber ungen: die vum, \in folgenden Her
    gangi: Der V.m der Urlmnle ham -h unnnnchrinher Deupm .11e Frluen
    " :ich in Anrprnuh genumm-, die ul. Rivalen gelihllidien Söhne ge-
    m oder verjlgl. Einer Tagen aber um ich diese Söhne zullmmen‚
    überwältigten, kämen und vmehmn ihn gemeinhin, der ihr Feind. uber
    auch ihr Ideal gewesen war. Nick äer Tut Wurm lie nnflenunde‚ lein
    Erbe nnzmreten. da einer dem undmn im Wege rund. [hun Am. Einfluß

    ."

  • S.

    180 Schriften nur dan Jahn-n ua)—1926

    den Nfißezfolges und der neue lernten de, lich miteinander zu vutngen,
    bmden nich zu einem Brüdnrclln durch die Suuungon der Totemiuzluu‚
    „ich, die Wiederholung einer oolchun Tu mmhlieflsn wlllen. und m-
    ziehmen inrgerimt Auf den Beth: du Fhuun, um welche lie den Vnm
    getötet hnmn‚ Sie waren nun nur fremde Frruen nnguvleren; die: d„
    Unprung der mit dem Touemirmnr eng mkniipßen Exogunie Die Toten-
    mnhluit vor die Gedinhmid'eier der ungehoußrlichun Tut, von der du
    Schuldbewufiuein der Memhl\eil (dl: EYblii-nde) herrühm. mit der müde
    Organiraiion, Religion und rinliche Buchrinkung gleichzeitig ihren An-
    fang nnhmnn,

    Ob nun eine solche Möglichkeit als historisch anzunehmen ist
    oder nicht, die Religianshildung war hiemit auf den Boden des
    Vaterknmplexes g5mllt und über der Ambivnlenz aufgebaut, welche
    diesen beherrscht. Nachdem der Vnüerenatz durch du Totemfier ver»
    lesen war, wurde der gefürchwete und gehoßle, verehrte und In.—
    neidete Umter selbst das Vorbild Gottes. Der Sohan und seine
    Vnmmehnsuchl rungen miteinander in immer neuen Kompromiß-
    bildungen, durch welche einerseiis die Tat des Vamrrnordes gesnhm,
    anderseits deren Gewinn behauptet werden sollte. Ein besonders
    helles Licht wirkt diese Auffassung der Religion auf die psychologische
    Fundieng des Christentums, in dem in die Zeremonie der Tozem—
    mahlmit noch wenig enmllt als Kommunion forflebt. Ich will
    ausdrücklich bemerken, dAB diese letztere Agnoszierung nicht von
    mir herrlihn, sondern sich bereits bei Robertson Smith und
    Frazer findet.

    Th. Beik und der Ethnologe & Réheim hnhen in mhlreichen
    beachtenswenen Arbeiten an die Gednnkenginge von „Tamm und
    Tabu“ angeknüpfi, sie fortgefiilzrt, vertieft oder berichtigt. Ich selbst
    bin späwr noch einige Male auf sie zurückgekommen, bei Unter-
    suchungen uber das „unhewußve Schuldgeflihl“, dem auch unter
    den Moiiven des neurotischen Leiden; eine to große Bedeutung
    zukommt, und bei Bemühungen, die soziale Psychologie enger an
    die Psychologie des Individuum zu binden („Das Ich und des Es“ —
    „Mussenpsychologie und Ich-Analyse"). Auch zur Erklärung der

  • S.

    Hypnuvixicrherkeit hehe ich die nrehnische Erhubnfz nur der Ur-
    hordenzeit der Menschen herangenngen.

    Gering ist man direkter Anteil An anderen Anwendungen der
    Psychoanalyse, die doch des ellgemeinnen Interner würdig sind.
    Von den Phantasien des einzelnen Neuroükere fiihrt ein breiter
    Weg zu den Phnntasieschöpfnmgen der Messen und Vü1ker, wie sie
    in den Mythen, Sagen und Märchen zutage liegen. Die Mytho-
    logie ist das Arbeitsgebiet von One Rank geworden, die Deutung
    der Mythen, ihre 2arür.hfiihrung auf die bekennen unhequ
    Kindheitskomplexe, der Ersatz artraler Erklärungen durch mensch-
    liche Movivierung war in vielen Fällen der Erfolg seiner analyti-
    schen Bemühung. Auch das Thema der Symbolik bl! nhlreiclie
    Bearbeiter in meinen Kreisen gefunden. Die Symbolik hat der Psycho-
    analyse viel Feindschaflen eingetragen; manche nllm nuchterne
    Falscher haben ihr die Anerkennung der Symbolik, wie sie sich
    uns der Deutung der Träume «geb, niemals verzeihen können.
    Aber die Analyse ist un der Entdeckung der Symbolik unschuldig,
    sie war auf anderen Gebieten längnbeknnnt und. spielt dort (Folklore,
    Sage, Mylhus) selbst eine größere Rolle als in der „Sprache des
    Traumes“.

    Zur Anwendung dcr Analyre uf die Pädagugik hehe ich per-
    sönlich nichts beigetragen; aber eu war mmrlich, daß die Imlyti-
    schen Ermittlungen aber das Sexualleben und die teelieche Ent-
    wicklung der Kinder die Aufmerksamkeit der Erzieher auf ich
    zogen und sie ihre Aufgaben in einem neuen lichte sehen ließen.
    Als unermüdlicher Vorkämpfer dieser Richtung in der Pädagogik
    hat sich der protestantische Pfarrer O. Pfister in Zürich hervor-
    geum, der die Pflege der Analyse auch mit dem Festhalten an
    einer allerdings sublimierten Religior'mät vereinbar find; neben ihm
    Frau Dr. Hug-Hellmuth und Dr. S, Berufeld in Wien sowie
    viele andere. Aus der Verwendung der Analyse zur verbeugend.en
    Erziehung des gesunden und zur Korrektur des noch nicht neuroti-
    schen, aber in seiner Entwicklung entgleisten Kindes het sich eine

  • S.

    182 Schriften „in den Jahren 1923—1y25

    praktisch wichtige Folge ergeben. Es ist nicht mehr möglich, die
    Ausübung der Psychoanalyse den Ärzten vorzuhehalten und die
    Laien von ihr auszuschließen. In der Tat ist der Amt, der nicht
    eine bmndem Ausbildung erfahren hat, um seines Diplom; ein
    Laie in der Analyse und der Nichlarzt kann bei entsprechender
    Vnrberéitung und gelegentliche!“ Anlehnung an einen Am auch
    die Aufgabe der analytischen Behandlung von Neurosen etfiillen.

    Durch eine jener Entwicklungen, gegen deren Erfolg man sich
    vergebens sn-äuben würde, ist das Wort Psychoanalyse selbst mehr
    deutig geworden. Ursprünglich die Bezeichnung eines bestimmten
    therapeutischen Verfahrens, ist es jetzt auch der Name einer Wissen
    schaft geworden, der vom Unbewußt—Seelischen. Diese Wl&senschaft
    kann nur selten für sich allein ein Problem voll erledigen; aber
    sie scheint berufen, zu den verschiedensten Wissensgebieten Wichtige
    Beiträge zu liefern. Das Anwendungsgebiet der Psychoanalyse reicht
    ebensoweit wie das der Psychologie, zu der sie eine Ergänzung von
    mächtiger Tragweite hinzufügt.

    So kann ich denn, rückschaueud auf das Stückwerk meiner Lebens—
    arheit, sagen, daß ich vielerlei Anfänge gemacht und manche An-
    regungen ausgeteilt habe, woraus dann in der Zukunft etwas werden
    soll. Ich kann selbst nicht wissen, ob es viel sein wird oder wenig.