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KURZER ABRISS DER PSYCHOANALYSE
Erschien englisch (in der Übersetzung von
A. A. Brill) als Kapitel LXXIII des zweiten
Bandes des im Verlage der Encyclopaedia
Britannica in London und New York 1924
veröffentlichten Sammelwerkes „These eventful
years. The twentieth Century in the making
as told by many of its makers". Deutsch
bisher noch nicht gedruckt.
I
Die Psychoanalyse ist sozusagen mit dem zwanzigsten Jahrhundert geboren;
die Veröffentlichung, mit welcher sie als etwas Neues vor die Welt tritt,
meine „Traumdeutung“, trägt die Jahreszahl 1900. Aber sie ist, wie selbst-
verständlich, nicht aus dem Stein gesprungen oder vom Himmel gefallen,
sic knüpft an Älteres an, das sie fortsetzt, sie geht aus Anregungen hervor,
die sie verarbeitet. So muß ihre Geschichte mit der Schilderung der Ein-
flüsse beginnen, die für ihre Entstehung maßgebend waren, und darf auch
der Zeiten und der Zustände vor ihrer Schöpfung nicht vergessen.
Die Psychoanalyse ist auf einem engbegrenzten Boden erwachsen. Sie
kannte ursprünglich nur das eine Ziel, etwas von der Natur der sogenannt
,,funktionellen" Nervenkrankheiten zu verstehen, um die bisherige ärztliche
Ohnmacht in der Behandlung derselben zu überwinden. Die Neurologen
dieser Zeit waren in der Hochschätzung chemisch-physikalischer und patho-
logisch-anatomischer Tatsachen erzogen worden, sie standen zuletzt unter
dem Eindruck der Funde von Hitzig und Fritsch, Ferrier, Goltz u. a.,
welche eine innige, vielleicht eine ausschließliche Bindung gewisser Funktionen
an bestimmte Teile des Gehirns zu erweisen scheinen. Mit dem psychischen
Moment wußten sie nichts anzufangen, sie konnten es nicht erfassen, über-
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ließen es den Philosophen, Mystikern und Kurpfuschern und hielten es
auch für unwissenschaftlich sich mit ihm abzugeben; dementsprechend er-
öffnete sich auch kein Zugang zu den Geheimnissen der Neurosen, vor allem
der rätselhaften „Hysterie", die ja das Vorbild der ganzen Gattung war.
Noch als ich 1885 an der Salpêtrière hospitierte, erfuhr ich, daß man sich
für die hysterischen Lähmungen mit der Formel begnügte, sie seien in
leichten funktionellen Störungen derselben Hirnpartien begründet, deren
schwere Schädigung die entsprechende organische Lähmung hervorrufe.
Unter dem Mangel an Verständnis litt natürlich auch die Therapie dieser
Krankheitszustände. Sie bestand in allgemein „roborierenden“ Maßnahmen,
in der Verabreichung von Arzneimitteln und in meist sehr unzweckmäßigen,
unfreundlich ausgeführten Versuchen zur seelischen Beeinflussung wie Ein-
schüchterungen, Verspottungen, Mahnungen, seinen Willen aufzubieten, sich
,,zusammenzunehmen". Als spezifische Therapie der nervösen Zustände wurde
die elektrische Behandlung ausgegeben, aber wer diese je nach den detail-
lierten Vorschriften von W. Erb auszuüben unternahm, durfte sich ver-
wundern, welchen Raum die Phantasie auch in der angeblich exakten
Wissenschaft behaupten konnte. Die entscheidende Wendung trat ein, als
in den achtziger Jahren die Phänomene des Hypnotismus wieder einmal
um Einlaẞ in die medizinische Wissenschaft warben, diesmal dank der Arbeit
von Liébault, Bernheim, Heidenhain, Forel mit besserem Erfolg als
schon so oft vorher. Es kam vor allem darauf an, daß man die Echtheit
dieser Erscheinungen anerkannte. War dies zugestanden, so mußte man aus
dem Hypnotismus zwei grundlegende und unvergeßliche Lehren ziehen.
Erstens überzeugte man sich, daß auffällige körperliche Veränderungen doch
nur der Erfolg von seelischen Einflüssen waren, die man in diesem Falle
selbst in Tätigkeit gerufen hatte; zweitens bekam man besonders aus dem
Verhalten der Versuchspersonen nach der Hypnose den deutlichsten Eindruck
von der Existenz solcher seelischer Vorgänge, die man nur „unbewußte" nennen
konnte. Das „Unbewußte“ stand zwar schon seit langem als theoretischer Begriff
bei den Philosophen zur Diskussion, aber hier in den Erscheinungen des
Hypnotismus wurde es zuerst leibhaft, handgreiflich und Gegenstand des
Experiments. Es kam hinzu, daß die hypnotischen Phänomene eine unver-
kennbare Ähnlichkeit mit den Äußerungen mancher Neurosen zeigten.
Man kann die Bedeutung des Hypnotismus für die Entstehungsgeschichte
der Psychoanalyse nicht leicht überschätzen. In theoretischer wie therapeuti-
scher Hinsicht verwaltet die Psychoanalyse ein Erbe, das sie vom Hypno-
tismus übernommen hat.
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Die Hypnose erwies sich auch als ein wertvolles Hilfsmittel zum Studium
der Neurosen, wiederum in erster Linie der Hysterie. Einen großen Ein-
druck machten die Versuche von Charcot, der vermutet hatte, daß gewisse
Lähmungen, die nach Trauma (Unfall) aufgetreten waren, hysterischer
Natur seien, und nun durch die Suggestion eines Traumas in der Hypnose
Lähmungen von den nämlichen Charakteren künstlich hervorrufen konnte.
Es verblieb seitdem die Erwartung, daß traumatische Einflüsse ganz all-
gemein an der Entstehung der hysterischen Symptome beteiligt sein konnten.
Charcot selbst bemühte sich weiter nicht um ein psychologisches Ver-
ständnis der hysterischen Neurose, aber sein Schüler P. Janet nahm diese
Studien auf und konnte mit Hilfe der Hypnose zeigen, daß die Krankheits-
äußerungen der Hysterie in fester Abhängigkeit von gewissen unbewußten
Gedanken (idées fixes) stehen. Janet charakterisierte die Hysterie durch eine
von ihm angenommene konstitutionelle Unfähigkeit, die seelischen Vorgänge
zusammenzuhalten, aus der ein Zerfall (Dissoziation) des Seelenlebens her-
vorgehe.
Die Psychoanalyse knüpfte aber keineswegs an diese Forschungen Janets
an. Für sie wurde die Erfahrung eines Wiener Arztes, Dr. Josef Breuer,
maßgebend, der unabhängig von fremdem Einfluß um das Jahr 1881 ein
hysterisch erkranktes Mädchen von hoher Begabung mit Hilfe der Hypnose
studieren und herstellen konnte. Breuers Ergebnisse sind der Öffentlichkeit
erst fünfzehn Jahre später mitgeteilt worden, nachdem er den Referenten
(Freud) zum Mitarbeiter angenommen hatte. Der von ihm behandelte Fall
hat seine einzigartige Bedeutung für unser Verständnis der Neurosen bis
auf den heutigen Tag behalten, so daß es unvermeidlich ist, länger bei
ihm zu verweilen. Es ist notwendig, klar zu erfassen, worin die Eigen-
tümlichkeit des Breuerschen Falles bestand. Das Mädchen war an der
Pflege ihres zärtlich geliebten Vaters erkrankt. Breuer konnte nun nach-
weisen, daß alle ihre Symptome sich auf diese Krankenpflege bezogen und durch
sie ihre Aufklärung fanden. Es war also zum erstenmal ein Fall der rätsel-
haften Neurose restlos durchschaut worden und alle Krankheitserscheinungen
hatten sich als sinnvoll herausgestellt. Ferner war es ein allgemeiner Charakter
der Symptome, daß sie in Situationen entstanden waren, welche einen
Impuls zu einer Handlung enthielten, der aber dann nicht ausgeführt, sondern
infolge anderer Motive unterdrückt worden war. An Stelle dieser unter-
bliebenen Aktionen waren eben die Symptome aufgetreten. Somit wurde
man für die Ätiologie der hysterischen Symptome auf das Gefühlsleben
(die Affektivität) und auf das Spiel der seelischen Kräfte (den Dyna-
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mismus) verwiesen, und diese beiden Gesichtspunkte sind seither niemals
wieder fallen gelassen worden.
Die Anlässe für die Entstehung der Symptome wurden von Breuer den
Charcotschen Traumen gleichgestellt. Es war nun bemerkenswert, daß
diese traumatischen Anlässe und alle seelischen Regungen, die sich an sie
knüpften, für die Erinnerung der Kranken verloren waren, als ob sie nie
vorgefallen wären, während deren Wirkungen, eben die Symptome, unver-
änderlich fortbestanden, als ob es für sie keine Abnützung durch die Zeit
gäbe. Man hatte also hier einen neuen Beweis für die Existenz unbewußter,
aber gerade darum besonders mächtiger, seelischer Vorgänge gefunden, wie
man sie zuerst an den posthypnotischen Suggestionen kennengelernt hatte.
Die Therapie, die Breuer übte, bestand darin, daß er die Kranke in der
Hypnose veranlaßte, die vergessenen Traumen zu erinnern und mit kraft-
vollen Affektäußerungen auf sie zu reagieren. Dann verschwand das Symptom,
das bisher an Stelle einer solchen Gefühlsäußerung gestanden war. Dasselbe
Verfahren diente also gleichzeitig der Erforschung und der Beseitigung des
Leidens und auch diese ungewöhnliche Vereinigung wurde von der späteren
Psychoanalyse festgehalten.
Nachdem Referent in den ersten neunziger Jahren die Breuerschen Er-
gebnisse an einer größeren Anzahl von Kranken bestätigt hatte, entschlossen
sich die beiden, Breuer und Freud, zu einer Publikation, welche ihre
Erfahrungen und den Versuch einer auf sie gegründeten Theorie enthielt
(Studien über Hysterie, 1895). Diese sagte aus, das hysterische Symptom
entstehe, wenn der Affekt eines stark affektiv besetzten seelischen Vorgangs
von der normalen bewußten Verarbeitung abgedrängt und somit auf eine
falsche Bahn gewiesen werde. Er gehe dann im Falle der Hysterie in unge-
wöhnliche Körperinnervation über (Konversion), könne aber durch Auf-
frischung des Erlebnisses in der Hypnose anders gelenkt und erledigt werden
(Abreagieren). Die Autoren nannten ihr Verfahren Katharsis (Reinigung,
Befreiung vom eingeklemmten Affekt).
Die kathartische Methode ist der unmittelbare Vorläufer der Psychoanalyse
und trotz aller Erweiterungen der Erfahrung und aller Modifikationen der
Theorie immer noch als Kern in ihr enthalten. Aber sie war nichts anderes
als ein neuer Weg zur ärztlichen Beeinflussung gewisser nervöser Erkran-
kungen, und nichts ließ ahnen, daß sie Gegenstand des allgemeinsten Inter-
esses und des heftigsten Widerspruches werden könnte.
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Kurzer Abriß der Psychoanalyse
II
Bald nach der Veröffentlichung der „Studien über Hysterie" brach die
Arbeitsgemeinschaft von Breuer und Freud zusammen. Breuer, der eigent-
lich Internist war, gab die Behandlung von Nervenkranken auf, Freud
bemühte sich, das ihm von dem älteren Kollegen überlassene Instrument
weiter zu vervollkommnen; die technischen Neuerungen, die er einführte,
und die Funde, die er machte, wandelten das kathartische Verfahren in die
Psychoanalyse um. Der folgenschwerste Schritt war wohl der, daß er
sich entschloß, auf das technische Hilfsmittel der Hypnose zu verzichten.
Er tat es aus zwei Motiven, erstens, weil es ihm, trotz eines Unterrichts-
kurses bei Bernheim in Nancy, nicht gelang, eine genügend große Anzahl
der Patienten in Hypnose zu versetzen, und zweitens, weil er mit den thera-
peutischen Erfolgen der auf Hypnose gegründeten Katharsis unzufrieden war.
Diese Erfolge waren zwar sehr auffällig und traten nach kurzer Behandlungs-
dauer auf, erwiesen sich aber als nicht haltbar und als allzusehr abhängig
vom persönlichen Verhältnis des Patienten zum Arzte. Das Aufgeben der
Hypnose bedeutete einen Bruch mit der bisherigen Entwicklung des Ver-
fahrens und einen neuen Anfang.
Die Hypnose hatte aber den Dienst geleistet, das vom Kranken Vergessene
seiner bewußten Erinnerung zuzuführen. Sie mußte durch eine andere Technik
ersetzt werden. Freud verfiel damals darauf, an ihre Stelle die Methode
der freien Assoziation zu setzen, d. h. er verpflichtete die Kranken dazu,
auf alles bewußte Nachdenken zu verzichten und sich in ruhiger Konzentration
der Verfolgung ihrer spontanen (ungewollten) Einfälle hinzugeben („die Ober-
fläche ihres Bewußtseins abzutasten"). Diese Einfälle sollten sie dem Arzt
mitteilen, auch wenn sie Einwendungen dagegen verspürten, wie z. B. der
Gedanke sei zu unangenehm, zu unsinnig oder zu unwichtig oder er gehöre
nicht hieher. Die Wahl der freien Assoziation als Hilfsmittel zur Erforschung
des vergessenen Unbewußten erscheint so befremdend, daß ein Wort zu
ihrer Rechtfertigung nicht überflüssig wird. Freud wurde dabei von der
Erwartung geleitet, daß sich die sogenannte freie Assoziation in Wirklichkeit
als unfrei erweisen werde, indem nach der Unterdrückung aller bewußten
Denkabsichten eine Determinierung der Einfälle durch das unbewußte Material
zum Vorschein käme. Diese Erwartung ist durch die Erfahrung gerechtfertigt
worden. Durch die Verfolgung der freien Assoziation unter Einhaltung der
oben gegebenen „,,analytischen Grundregel" erhielt man ein reiches Material
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von Einfällen, welches auf die Spur des vom Kranken Vergessenen führen
konnte. Dies Material brachte zwar nicht das Vergessene selbst, aber so
deutliche und reichliche Andeutungen desselben, daß der Arzt mit gewissen
Ergänzungen und Deutungen das Vergessene daraus erraten (rekonstruieren)
konnte. Freie Assoziation und Deutungskunst leisteten also nun das Gleiche
wie früher die Versetzung in Hypnose.
Anscheinend hatte man sich die Arbeit sehr erschwert und kompliziert;
der unschätzbare Gewinn war aber, daß man Einblick in ein Kräftespiel
gewann, welches dem Beobachter durch den hypnotischen Zustand verhüllt
worden war. Man erkannte, daß sich die Arbeit zur Aufdeckung des patho-
genen Vergessenen gegen einen beständigen und sehr intensiven Widerstand
zu wehren hatte. Schon die kritischen Einwendungen, mit denen der Patient
die in ihm auftauchenden Einfälle von der Mitteilung hatte ausschließen
wollen und gegen welche die analytische Grundregel gerichtet war, waren
Äußerungen dieses Widerstandes gewesen. Aus der Würdigung der Wider-
standsphänomene ergab sich einer der Grundpfeiler der psychoanalytischen
Neurosenlehre, die Theorie der Verdrängung. Es lag nahe anzunehmen,
daß dieselben Kräfte, die sich gegenwärtig gegen die Bewußtmachung des
pathogenen Materials sträubten, dasselbe Bestreben auch seinerzeit mit Erfolg
geäußert hatten. Nun war eine Lücke in der Ätiologie der neurotischen
Symptome ausgefüllt. Die Eindrücke und seelischen Regungen, für welche
jetzt die Symptome als Ersatz standen, waren nicht grundlos oder infolge
einer konstitutionellen Unfähigkeit zur Synthese, wie Janet meinte, ver-
gessen worden, sondern sie hatten durch den Einfluß anderer seelischer
Kräfte eine Verdrängung erfahren, deren Erfolg und Zeichen eben ihre Ab-
haltung vom Bewußtsein und ihr Ausschluß aus der Erinnerung war. Erst
infolge dieser Verdrängung waren sie pathogen geworden, d. h. sie hatten
sich auf ungewöhnlichem Wegen einen Ausdruck als Symptome geschafft.
Als Motiv der Verdrängung und somit als Ursache jeder neurotischen
Erkrankung muẞte man den Konflikt zwischen zwei Gruppen von seelischen
Strebungen ansehen. Und nun lehrte die Erfahrung eine ganz neue und
überraschende Tatsache über die Natur der miteinander ringenden Kräfte
kennen. Die Verdrängung ging regelmäßig von der bewußten Persönlichkeit
(dem Ich) des Erkrankten aus und berief sich auf ethische und ästhetische
Motive; von der Verdrängung betroffen wurden Regungen von Selbstsucht
und Grausamkeit, die man allgemein als böse zusammenfassen kann, vor
allem aber sexuelle Wunschregungen, oft von der grellsten und verbotensten
Art. Die Krankheitssymptome waren also ein Ersatz für verbotene Befriedi-
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gungen und die Krankheit schien einer unvollkommenen Bändigung des
Unmoralischen im Menschen zu entsprechen.
Der Fortschritt der Erkenntnis machte es immer deutlicher, welch un-
geheuer große Rolle die sexuellen Wunschregungen im Seelenleben spielen,
und gab die Veranlassung, die Natur und Entwicklung des Sexualtriebes
eingehend zu studieren. (Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 1905.)
Man stieß aber auch auf ein anderes, rein empirisches Ergebnis, indem man
entdeckte, daß die Erlebnisse und Konflikte der ersten Kinderjahre eine
ungeahnt wichtige Rolle in der Entwicklung des Individuums spielen und
unverwischbare Dispositionen für die Zeit der Reife zurücklassen. So kam
man dazu, etwas aufzudecken, was bisher von der Wissenschaft grundsätzlich
übersehen worden war, die infantile Sexualität, die sich vom zartesten
Alter an in körperlichen Reaktionen wie in seelischen Einstellungen äußert.
Um diese kindliche Sexualität mit der sogenannten normalen der Erwachsenen
und dem abnormen Sexualleben der Perversen zusammenzubringen, mußte
der Begriff des Sexuellen selbst eine Berücksichtigung und Erweiterung
erfahren, die sich durch die Entwicklungsgeschichte des Sexualtriebs recht-
fertigen ließ.
Seit dem Ersatz der Hypnose durch die Technik der freien Assoziation
war das kathartische Verfahren Breuers zur Psychoanalyse geworden, die
nun durch länger als ein Jahrzehnt von dem Referenten (Freud) allein
entwickelt wurde. Die Psychoanalyse kam in dieser Zeit allmählich in den
Besitz einer Theorie, welche über die Entstehung, den Sinn und die Absicht
der neurotischen Symptome zureichende Auskunft zu geben schien und eine
rationelle Grundlage für die ärztlichen Bemühungen zur Aufhebung des
Leidens lieferte. Ich will die Momente, welche den Inhalt dieser Theorie
ausmachen, nochmals zusammenstellen. Es sind: die Betonung des Trieb-
lebens (Affektivität), der seelischen Dynamik, der durchgehenden Sinn-
haftigkeit und Determinierung auch der anscheinend dunkelsten und will-
kürlichsten seelischen Phänomene, die Lehre vom psychischen Konflikt und
von der pathogenen Natur der Verdrängung, die Auffassung der Krankheits-
symptome als Ersatzbefriedigungen, die Erkenntnis von der ätiologischen Be-
deutung des Sexuallebens, insbesondere der Ansätze zur kindlichen Sexualität.
In philosophischer Hinsicht mußte diese Theorie den Standpunkt einnehmen,
daß das Seelische nicht mit dem Bewußten zusammenfalle, daß die seeli-
schen Vorgänge an sich unbewußt seien und nur durch die Leistung be-
sonderer Organe (Instanzen, Systeme) bewußt gemacht würden. Ich füge
als ergänzend zu dieser Aufzählung hinzu, daß sich unter den affektiven
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Einstellungen der Kindheit die komplizierte Gefühlsbeziehung zu den Eltern,
der sogenannte Ödipus-Komplex, hervorhob, in welchem man immer
deutlicher den Kern eines jeden Falles von Neurose erkannte, und daß im
Benehmen des Analysierten gegen den Arzt gewisse Erscheinungen der
Gefühlsübertragung auffielen, welche eine für die Theorie wie für die
Technik gleich große Bedeutung gewannen.
Die psychoanalytische Theorie der Neurosen enthielt in dieser Ausgestal-
tung schon manches, was herrschenden Meinungen und Neigungen zuwider-
lief und bei Fernstehenden Befremden, Abneigung und Unglauben hervor-
rufen konnte. So die Stellungnahme zum Problem des Unbewußten, die
Anerkennung einer kindlichen Sexualität und die Betonung des sexuellen
Moments im Seelenleben überhaupt, aber es sollte noch anderes hinzu-
kommen.
III
Um halbwegs zu verstehen, wie sich bei einem hysterischen Mädchen
ein verbotener sexueller Wunsch in ein schmerzhaftes Symptom umsetzen
kann, hatte man tiefgehende und verwickelte Annahmen über Struktur und
Leistung des seelischen Apparats machen müssen. Das war ein offenbarer
Widerspruch zwischen Aufwand und Erfolg. Wenn die von der Psycho-
analyse behaupteten Verhältnisse wirklich bestanden, so waren sie funda-
mentaler Natur und mußten sich auch in anderen Phänomenen als den
hysterischen äußern können. Traf diese Folgerung aber zu, so hätte die
Psychoanalyse aufgehört nur für Neurologen interessant zu sein; sie durfte
dann Anspruch auf die Aufmerksamkeit aller erheben, denen psychologische
Forschung etwas bedeutete. Ihre Ergebnisse kamen dann nicht nur für das
Gebiet des pathologischen Seelenlebens in Betracht, sondern durften auch
für das Verständnis der normalen Funktion nicht vernachlässigt werden.
Der Nachweis ihrer Brauchbarkeit zur Aufklärung anderer als krank-
hafter Seelentätigkeit gelang der Psychoanalyse frühzeitig an zweierlei
Phänomenen, bei den so häufigen alltäglichen Fehlleistungen, Vergessen,
Versprechen, Verlegen usw., und bei den Träumen gesunder und psychisch
normaler Menschen. Die kleinen Fehlleistungen, wie das zeitweilige Ver-
gessen von sonst bekannten Eigennamen, das Versprechen, Verschreiben
und ähnliches waren bisher einer Erklärung überhaupt nicht gewürdigt
worden oder sollten in Zuständen von Ermüdung, Ablenkung der Auf-
merksamkeit u. dgl. ihre Aufklärung finden. Referent wies nun in seiner
„Psychopathologie des Alltagslebens" (1901 und 1904) an zahlreichen Bei-
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spielen nach, daß solche Vorkommnisse sinnreich sind und durch die
Störung einer bewußten Intention durch eine andere, unterdrückte, oft
direkt unbewußte, entstehen. Meist reicht eine rasche Besinnung oder eine
kurze Analyse hin, um den störenden Einfluß aufzufinden. Bei der Häufig-
keit solcher Fehlleistungen wie das Versprechen wird es jedermann leicht
gemacht, sich an der eigenen Person die Überzeugung von der Existenz
nicht bewußter seelischer Vorgänge zu holen, die doch wirksam sind und
sich wenigstens als Hemmungen und Modifikationen anderer, beabsichtigter,
Akte Ausdruck verschaffen.
Weiter führte die Analyse der Träume, die Referent schon 1900 in der
Traumdeutung der Öffentlichkeit vorlegte. Es ergab sich aus ihr, daß
der Traum nicht anders gebaut ist als ein neurotisches Symptom. Er mag
wie ein solches fremdartig und sinnlos erscheinen; wenn man ihn mittels
einer Technik untersucht, die sich von der in der Psychoanalyse verwendeten
freien Assoziation wenig unterscheidet, gelangt man von seinem manifesten
Inhalt zu einem geheimen Sinn des Traumes, zu den latenten Traum-
gedanken. Dieser latente Sinn ist allemal eine Wunschregung, die als in
der Gegenwart erfüllt dargestellt wird. Aber außer bei kleinen Kindern
oder unter dem Druck imperativer Körperbedürfnisse kann dieser geheime
Wunsch niemals kenntlich ausgesprochen werden. Er muß sich erst eine
Entstellung gefallen lassen, welche das Werk einschränkender, zensurieren-
der Kräfte im Ich des Träumers ist. So entsteht der manifeste Traum, wie er
im Wachen erinnert wird, bis zur Unkenntlichkeit entstellt durch die Kon-
zessionen an die Traumzensur, durch die Analyse aber noch als Ausdruck
einer Befriedigungssituation oder Wunscherfüllung zu entlarven, ein Kom-
promiß zwischen zwei miteinander ringenden Gruppen seelischer Strebungen,
ganz so, wie wir es für das hysterische Symptom gefunden haben. Die
Formel, der Traum ist eine (verkappte) Erfüllung eines (verdrängten)
Wunsches, trifft im Grunde das Wesen des Traumes am besten. Durch das
Studium jenes Prozesses, der den latenten Traumwunsch in den manifesten
Trauminhalt umwandelt (die Traumarbeit), haben wir das beste, was wir
vom unbewußten Seelenleben wissen, erfahren.
Nun ist der Traum kein krankhaftes Symptom, sondern eine Leistung
des normalen Seelenlebens. Die Wünsche, die er als erfüllt darstellt, sind
die nämlichen, die in der Neurose der Verdrängung verfallen. Der Traum
verdankt die Möglichkeit seiner Entstehung bloß dem günstigen Umstand,
daß sich während des Schlafzustandes, der die Motilität des Menschen lähmt,
die Verdrängung zur Traumzensur ermäßigt. Doch wenn die Traumbildung
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gewisse Grenzen überschreitet, macht ihm der Träumer ein Ende und wacht
erschreckt auf. Es ist also erwiesen, daß im normalen Seelenleben dieselben
Kräfte und dieselben Vorgänge zwischen ihnen bestehen wie im krank-
haften. Von der Traumdeutung an hatte die Psychoanalyse eine zweifache
Bedeutung, sie war nicht nur eine neue Therapie der Neurosen, sondern
auch eine neue Psychologie; sie erhob den Anspruch, nicht nur von Nerven-
ärzten, sondern von allen, die eine Geisteswissenschaft betrieben, beachtet
zu werden.
Der Empfang aber, der ihr in der wissenschaftlichen Welt bereitet wurde,
war kein freundlicher. Etwa ein Jahrzehnt lang kümmerte sich niemand um
die Arbeiten Freuds. Etwa um das Jahr 1907 wurde durch eine Gruppe
von Schweizer Psychiatern (Bleuler und Jung in Zürich) die Aufmerksam-
keit auf die Psychoanalyse gelenkt und nun brach, besonders in Deutschland,
ein Sturm der Entrüstung los, der in seinen Mitteln und Argumenten wahr-
lich nicht wählerisch war. Die Psychoanalyse teilte dabei das Schicksal von
so vielen Neuheiten, die dann nach Ablauf einer gewissen Zeit allgemeine
Anerkennung gefunden haben. Allerdings lag es in ihrem Wesen, daß sie
besonders heftigen Widerspruch erwecken mußte. Sie verletzte die Vorurteile
der Kulturmenschheit an einigen besonders empfindlichen Stellen, unterwarf
gewissermaßen alle Menschen der analytischen Reaktion, indem sie das auf-
deckte, was durch allgemeines Übereinkommen ins Unbewußte verdrängt
worden war, und zwang so die Zeitgenossen, sich wie die Kranken zu be-
nehmen, die in der analytischen Behandlung vor allem ihre Widerstände
zum Vorschein bringen. Es muß auch zugestanden werden, daß es nicht
leicht war, sich von der Richtigkeit der psychoanalytischen Lehren zu über-
zeugen oder Unterricht in der Ausübung der Analyse zu bekommen.
Die allgemeine Feindseligkeit konnte indes nicht verhindern, daß sich
die Psychoanalyse im Laufe des nächsten Jahrzehnts ständig nach zwei
Richtungen ausdehnte; auf der Landkarte, indem das Interesse für sie in
immer neuen Ländern auftauchte, und auf dem Felde der Geisteswissen-
schaften, indem sie auf immer neue Disziplinen Anwendung fand. 1909 lud
Präsident G. Stanley Hall Freud und Jung ein, an der von ihm ge-
leiteten Clark University in Worcester, Mass., Vorlesungen über Psycho-
analyse zu halten, denen auch eine freundliche Aufnahme zuteil wurde.
Die Psychoanalyse ist seither in Amerika populär geblieben, wenngleich
gerade in diesem Lande viel Seichtigkeit und mancher Mißbrauch sich mit
ihrem Namen deckt. Schon 1911 konnte Havelock Ellis konstatieren,
daß die Analyse nicht nur in Österreich und der Schweiz, sondern eben-
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sowohl in den Vereinigten Staaten, in England, Indien, Kanada und gewiß
auch in Australien gepflegt und betrieben werde.
In dieser Zeit des Kampfes und der ersten Blüte entstanden auch die
literarischen Organe, die ausschließlich der Psychoanalyse dienten. Es waren
das Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen",
herausgegeben von Bleuler und Freud, redigiert von Jung (1909-1914),
das mit dem Ausbruch des Weltkrieges eingestellt wurde, das „Zentral-
blatt für Psychoanalyse" (1911), redigiert von Adler und Stekel, das
alsbald von der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse" (1913,
heute im zehnten Jahrgang) abgelöst wurde; ferner seit 1912 die von Rank
und Sachs begründete „Imago“, eine Zeitschrift für die Anwendung der
Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Das große Interesse der anglo-
amerikanischen Ärzte äußerte sich 1913 in der Gründung der noch jetzt
bestehenden Psychoanalytic Review" durch White und Jelliffe.
Später, 1920, trat das speziell für England bestimmte, von Ernest Jones
redigierte „International Journal of Psycho-Analysis" ins Leben. Der Inter-
nationale Psychoanalytische Verlag und das ihm entsprechende englische
Unternehmen (I. PSA. Press) bringen unter dem Namen einer Internationalen
Psychoanalytischen Bibliothek (Int. PsA. Library) eine fortlaufende Reihe
analytischer Publikationen. Natürlich ist die Literatur der Psychoanalyse
nicht ausschließlich in diesen periodischen Veröffentlichungen zu finden,
die zumeist von psychoanalytischen Vereinigungen unterhalten werden,
sondern an einer Unzahl von Stellen zerstreut, in wissenschaftlichen wie
in literarischen Produktionen. Unter den Zeitschriften der romanischen
Welt, die der Psychoanalyse besondere Aufmerksamkeit schenken, ist die
von H. Delgado in Lima (Peru) geleitete „Rivista de Psiquiatria"
hervorzuheben.
Ein wesentlicher Unterschied dieses zweiten Jahrzehnts der Psychoanalyse
vom ersten lag darin, daß Referent nicht mehr ihr einziger Vertreter war.
Ein stetig wachsender Kreis von Schülern und Anhängern hatte sich um
ihn gesammelt, deren Arbeit zuerst für die Ausbreitung der psychoanaly-
tischen Lehren sorgte und dieselben dann fortführte, ergänzte und vertiefte.
Von diesen Anhängern fielen im Laufe der Jahre, wie unvermeidlich, mehrere
ab, gingen ihre eigenen Wege oder wandten sich zu einer Opposition, welche
die Kontinuität in der Entwicklung der Psychoanalyse zu bedrohen schien.
Zwischen 1911 und 1915 waren es C. G. Jung in Zürich und Alfred
Adler in Wien, die durch ihre Umdeutungsversuche an den analytischen
Tatsachen und ihre Bestrebungen zur Ablenkung von den Gesichtspunkten
Freud XI.
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Schriften aus den Jahren 1923-1926
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der Analyse eine gewisse Erschütterung hervorriefen, aber es zeigte sich
bald, daß diese Sezessionen keinen nachhaltigen Schaden gestiftet haben.
Was ihnen an zeitweiligem Erfolg zugefallen war, erklärte sich leicht aus
der Bereitwilligkeit der Menge, sich vom Druck der psychoanalytischen An-
forderungen befreien zu lassen, welchen Weg immer man ihnen dazu er-
öffnete. Die überwiegende Mehrzahl der Mitarbeiter hielt aus und setzte
die Arbeit längs der ihnen angezeigten Richtlinien fort. Wir werden ihren
Namen in der nun folgenden, sehr verkürzten Darstellung der Ergebnisse
der Psychoanalyse auf den mannigfachen Gebieten ihrer Anwendung wieder-
holt begegnen.
IV
Die geräuschvolle Ablehnung, welche der Psychoanalyse von seiten der
ärztlichen Welt widerfuhr, hat ihre Anhänger nicht abhalten können, sie
zunächst in ihrer ursprünglichen Absicht zu einer speziellen Pathologie
und Therapie der Neurosen zu entwickeln, eine Aufgabe, welche auch
gegenwärtig noch nicht vollkommen gelöst ist. Die unleagbaren Heilerfolge,
welche weit über alles bisher Erreichte hinausgingen, spornten zu immer
neuen Bemühungen an und die Schwierigkeiten, die sich bei tieferem Ein-
dringen in die Materie erhoben, veranlaßten tiefgreifende Veränderungen
der analytischen Technik und bedeutsame Korrekturen an den Annahmen
und Voraussetzungen der Theorie.
Die Technik der Psychoanalyse ist im Laufe dieser Entwicklung so
bestimmt und so heikel geworden wie die irgendeiner anderen medizini-
schen Spezialität. In Verkennung dieser Tatsache wird besonders in England
und Amerika viel gesündigt, indem Personen, die sich durch Lektüre eine
nur literarische Kenntnis der Psychoanalyse erworben haben, sich für be-
fähigt halten, analytische Behandlungen zu unternehmen, ohne sich einer
besonderen Schulung zu unterziehen. Die Erfolge eines solchen Vorgehens
sind unheilvoll sowohl für die Wissenschaft wie für die Patienten und haben
viel zur Diskreditierung der Psychoanalyse beigetragen. Die Gründung der
ersten psychoanalytischen Poliklinik (durch M. Eitingon in Berlin, 1920)
ist daher ein Schritt von hoher praktischer Bedeutung geworden. Dieses
Institut bemüht sich einerseits, die analytische Therapie weiten Volks-
kreisen zugänglich zu machen, anderseits übernimmt es die Ausbildung
von Ärzten zu praktischen Analytikern in einem Lehrkurs, welcher die
Bedingung einschließt, daß der Lernende an sich selbst eine Psychoanalyse
vollziehen läßt.
S.
Kurzer Abriß der Psychoanalyse
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Unter den Hilfsbegriffen, welche dem Arzt die Bewältigung des analyti-
schen Materials ermöglichen, ist an erster Stelle der der „Libido" zu nennen.
Libido bedeutet in der Psychoanalyse zunächst die (als quantitativ veränderlich
und meßbar gedachte) Kraft der auf das Objekt gerichteten Sexualtriebe (in
dem durch die analytische Theorie erweiterten Sinne). Bei weiterem Studium
ergab sich die Nötigung, dieser „Objektlibido“ eine auf das eigene Ich
gerichtete „narziẞtische oder Ichlibido" an die Seite zu stellen, und
die Wechselwirkungen dieser beiden Kräfte haben es gestattet, von einer
großen Anzahl normaler wie pathologischer Vorgänge im Seelenleben Rechen-
schaft zu geben. Es ergab sich bald die grobe Scheidung der sogenannten
„Übertragungsneurosen" von den narziẞtischen Affektionen, die ersteren
(Hysterie und Zwangsneurose) die eigentlichen Objekte der psychoanalyti-
schen Therapie, während die anderen, die narziẞtischen Neurosen, zwar die
Untersuchung mit Hilfe der Analyse gestatten, aber einer therapeutischen
Beeinflussung prinzipielle Schwierigkeiten bereiten. Es ist richtig, daß die
Libidotheorie der Psychoanalyse keineswegs abgeschlossen und ihr Verhältnis
zu einer allgemeinen Trieblehre noch nicht geklärt ist, die Psychoanalyse
ist eben eine junge, durchweg unfertige, in rascher Entwicklung begriffene
Wissenschaft, aber es ist hier die Stelle zu betonen, wie irrig der Vorwurf
des Pansexualismus ist, der so häufig gegen die Psychoanalyse erhoben wird.
Er will besagen, daß die psychoanalytische Theorie keine anderen seelischen
Triebkräfte als bloß sexuelle kennt, und macht sich dabei populäre Vor-
urteile zunutze, indem er „sexuell" nicht im analytischen, sondern im
vulgären Sinne verwendet.
Zu den narziẞtischen Affektionen müßte die psychoanalytische Auffassung
auch alle die Leiden rechnen, die in der Psychiatrie „funktionelle Psychosen"
genannt werden. Es ließ sich nicht bezweifeln, daß Neurosen und Psychosen
nicht durch eine scharfe Grenze getrennt waren, so wenig wie Gesundheit
und Neurose, und es lag zu nahe, zur Erklärung der so rätselhaften psychoti-
schen Phänomene die Einsichten heranzuziehen, die man an den bisher
ebenso undurchsichtigen Neurosen gewonnen hatte. Schon Referent hatte
in der Zeit seiner Vereinsamung einen Fall von paranoider Erkrankung
durch analytische Untersuchung halbwegs verständlich gemacht und in dieser
unzweideutigen Psychose dieselben Inhalte (Komplexe) und ein ähnliches
Kräftespiel wie bei simplen Neurosen nachgewiesen. E. Bleuler verfolgte
bei einer ganzen Anzahl von Psychosen die Anzeichen von dem, was er
„Freudsche Mechanismen“ nannte, und C. G. Jung erwarb sich mit einem
Schlage ein großes Ansehen als Analytiker, als er 1901 für die absonder-
S.
Schriften aus den Jahren 1923-1926
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lichsten Symptome in den Endausgängen der Dementia praecox die Auf-
klärung aus der individuellen Lebensgeschichte dieser Kranken gab. Die
umfassende Bearbeitung der Schizophrenie durch Bleuler (1911) hat dann
die Berechtigung psychoanalytischer Gesichtspunkte für die Auffassung dieser
Psychosen in wahrscheinlich endgiltiger Weise dargetan.
In solcher Art wurde die Psychiatrie das nächste Anwendungsgebiet der
Psychoanalyse und ist es auch seither geblieben. Dieselben Forscher, welche
am meisten für eine vertiefte analytische Kenntnis der Neurosen getan haben,
wie K. Abraham in Berlin und S. Ferenczi in Budapest (um nur die
hervorragendsten zu nennen), sind auch in der analytischen Durchleuchtung
der Psychosen führend geblieben. Die Überzeugung von der Einheit und
Zusammengehörigkeit all der Störungen, die sich uns als neurotische und
psychotische Phänomene kundgeben, setzt sich trotz alles Sträubens der
Psychiater immer stärker durch. Man fängt an zu verstehen, vielleicht
am besten in Amerika, daß nur das psychoanalytische Studium der
Neurosen die Vorbereitung für ein Verständnis der Psychosen ergeben kann,
daß die Psychoanalyse dazu berufen ist, eine wissenschaftliche Psychiatrie
der Zukunft zu ermöglichen, die sich nicht mehr mit der Beschreibung
sonderbarer Zustandsbilder, unbegreiflicher Abläufe, und mit der Verfolgung
des Einflusses grober anatomischer und toxischer Traumen auf den unserer
Kenntnis unzugänglichen seelischen Apparat zu begnügen braucht.
V
Aber niemals hätte die Psychoanalyse durch ihre Bedeutung für die
Psychiatrie die Aufmerksamkeit der intellektuellen Welt auf sich gezogen
oder einen Platz in The History of our times für sich erobert. Diese Wirkung
ging von der Beziehung der Psychoanalyse zum normalen Seelenleben, nicht
xum pathologischen aus. Ursprünglich beabsichtigte die analytische Forschung
ja nichts anderes als die Entstehungsbedingungen (Genese) einiger krank-
hafter Seelenzustände zu ergründen, aber in dieser Bemühung gelangte sie
dazu, Verhältnisse von grundlegender Bedeutung aufzudecken, geradezu eine
neue Psychologie zu schaffen, so daß man sich sagen mußte, die Giltigkeit
solcher Funde könne unmöglich auf das Gebiet der Pathologie beschränkt
sein. Wir wissen bereits, wann der entscheidende Nachweis für die Richtigkeit
dieses Schlusses erbracht wurde. Es war, als die Deutung der Träume
durch die analytische Technik gelang, der Träume, die ja dem Seelen-
leben der Normalen angehören und doch eigentlich pathologischen Pro-
S.
Kurzer Abriß der Psychoanalyse
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duktionen entsprechen, die regelmäßig unter den Bedingungen der Gesund-
heit entstehen können.
Hielt man an den psychologischen Einsichten fest, die man durch das
Studium der Träume gewonnen hatte, so war nur noch ein Schritt zu tun,
um die Psychoanalyse als Lehre von den tieferen, dem Bewußtsein nicht
direkt zugänglichen, seelischen Vorgängen, als „Tiefenpsychologie" prokla-
mieren und auf fast sämtliche Geisteswissenschaften anwenden zu können.
Dieser Schritt bestand in dem Übergang von der seelischen Tätigkeit des
Einzelmenschen zu den psychischen Leistungen von menschlichen Gemein-
schaften und Völkern, also von der Individual- zur Massenpsychologie, und
man sah sich durch viele überraschende Analogien zu ihm gedrängt.
So hatte man z. B. erfahren, daß in den tiefen Schichten unbewußter
Geistestätigkeit Gegensätze nicht voneinander unterschieden, sondern durch
das nämliche Element ausgedrückt werden. Aber der Sprachforscher K. Abel
hatte schon 1884 die Behauptung aufgestellt („Über den Gegensinn der
Urworte"), daß die ältesten uns bekannten Sprachen mit dem Gegensatz
nicht anders verfahren sind. So hat das Altägyptische z. B. für stark und
schwach zunächst nur ein Wort und erst später werden die beiden Seiten
der Antithese durch leichte Modifikationen auseinandergehalten. Noch in
den modernsten Sprachen lassen sich deutliche Überreste dieses Gegensinnes
aufzeigen, so im deutschen „Boden" das Oberste wie das Unterste im
Haus, ähnlich wie „altus" hoch und tief im Lateinischen. So ist
die Gleichstellung der Gegensätze im Traum ein allgemeiner archaischer
Zug menschlichen Denkens.
Um ein Beispiel aus einem anderen Gebiet zu geben: es ist unmöglich,
sich dem Eindruck der vollen Übereinstimmung zu entziehen, die man
zwischen den Zwangshandlungen gewisser Zwangskranker und den religiösen
Betätigungen der Frommen in aller Welt entdeckt. Manche Fälle von Zwangs-
neurose benehmen sich geradezu wie eine karikierte Privatreligion, so daß
man die offiziellen Religionen einer durch ihre Allgemeinheit ermäßigten
Zwangsneurose gleichsetzen möchte. Dieser für alle Gläubigen gewiß höchst
anstößige Vergleich ist psychologisch doch sehr fruchtbar geworden. Denn
für die Zwangsneurose ist es der Psychoanalyse bald bekannt worden, welche
Kräfte hier miteinander ringen, bis ihre Konflikte sich den merkwürdigen
Ausdruck durch das Zeremoniell der Zwangshandlungen geschaffen haben.
Nichts ähnliches war für das religiöse Zeremoniell vermutet worden, bis
es gelang, durch die Zurückführung des religiösen Gefühls auf das Vater-
verhältnis als seine tiefste Wurzel auch hier die analoge dynamische Situation
S.
Schriften aus den Jahren 1923-1926
198
nachzuweisen. Dies Beispiel mag übrigens den Leser daran mahnen, daß
auch die Anwendung der Psychoanalyse auf nicht ärztliche Gebiete nicht
umhin kann, hochgehaltene Vorurteile zu verletzen, an tiefwurzelnde Emp-
findlichkeiten zu rühren und so Feindschaften hervorzurufen, die eine wesent-
lich affektive Grundlage haben.
Wenn wir die allgemeinsten Verhältnisse des unbewußten Seelenlebens (die
Konflikte der Triebregungen, die Verdrängungen und Ersatzbefriedigungen)
als überall vorhanden annehmen dürfen und wenn es eine Tiefenpsycho-
logie gibt, welche zur Kenntnis dieser Verhältnisse führt, so ist es eine
billige Erwartung, daß die Anwendung der Psychoanalyse auf die mannig-
fachsten Gebiete der menschlichen Geistestätigkeit überall wichtige und
bisher unerreichbare Resultate zutage fördern wird. Eine überaus gehalt-
volle Studie von Otto Rank und H. Sachs hat sich bemüht zusammen-
zustellen, inwieweit die Arbeit der Psychoanalytiker diese Erwartungen
bis zum Jahre 1913 erfüllen konnte. Der Raummangel verbietet es mir,
hier eine Vervollständigung dieser Aufzählung zu versuchen. Ich kann nur
das wichtigste Ergebnis herausheben und einige Einzelheiten daran an-
lehnen.
Wenn man
von wenig bekannten inneren Antrieben absieht, so darf
man sagen, der Hauptmotor der Kulturentwicklung des Menschen ist die
äußere reale Not gewesen, die ihm die bequeme Befriedigung seiner natür-
lichen Bedürfnisse verweigerte und ihn übergroßen Gefahren preisgab. Diese
äußere Versagung zwang ihn zum Kampf mit der Realität, der teils in An-
passung an dieselbe, teils in Beherrschung derselben ausging, aber auch
zur Arbeitsgemeinschaft und zum Zusammenleben mit seinesgleichen, womit
bereits ein Verzicht auf mancherlei sozial nicht zu befriedigende Trieb-
regungen verbunden war. Mit den weiteren Fortschritten der Kultur wuchsen
auch die Ansprüche der Verdrängung. Die Kultur ist doch überhaupt auf
Triebverzicht aufgebaut und jedes einzelne Individuum soll auf seinem Wege
von der Kindheit zur Reife an seiner Person diese Entwicklung der Mensch-
heit zur verständigen Resignation wiederholen. Die Psychoanalyse hat gezeigt,
daß es vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, sexuelle Triebregungen
sind, welche dieser kulturellen Unterdrückung verfallen. Ein Teil derselben
zeigt nun die wertvolle Eigenschaft, sich von ihren nächsten Zielen ab-
lenken zu lassen und so als „sublimierte“ Strebungen ihre Energie der
kulturellen Entwicklung zur Verfügung zu stellen. Ein anderer Anteil bleibt
aber als unbefriedigte Wunschregung im Unbewußten bestehen und drängt
nach irgendwelcher, wenn auch entstellter, Befriedigung.
S.
Kurzer Abriß der Psychoanalyse
199
Wir haben gehört, daß ein Stück der menschlichen Geistestätigkeit auf
die Bewältigung der realen Außenwelt gerichtet ist. Nun fügt die Psycho-
analyse hinzu, ein anderes, besonders hochgeschätztes Stück des seelischen
Schaffens dient der Wunscherfüllung, der Ersatzbefriedigung jener verdrängten
Wünsche, die seit den Jahren der Kindheit unbefriedigt in der Seele eines
jeden wohnen. Zu diesen Schöpfungen, deren Zusammenhang mit einem
unfaẞbaren Unbewußten immer vermutet wurde, gehören Mythus, Dichtung
und Kunst und wirklich hat die Arbeit der Psychoanalytiker eine Fülle von
Licht auf die Gebiete der Mythologie, der Literaturwissenschaft und der
Künstlerpsychologie geworfen; als Vorbild sei hier nur die Leistung von
O. Rank erwähnt. Man hat gezeigt, daß Mythen und Märchen eine Deutung
zulassen wie die Träume, hat die verschlungenen Wege verfolgt, die vom
Antrieb des unbewußten Wunsches bis zur Realisierung im Kunstwerk
führen, hat die affektive Wirkung des Kunstwerks auf den Empfänger ver-
stehen gelernt und beim Künstler selbst dessen innere Verwandtschaft wie seine
Verschiedenheit vom Neurotiker geklärt und den Zusammenhang zwischen
seiner Anlage, seinem zufälligen Erleben und seiner Leistung aufgezeigt.
Die ästhetische Würdigung des Kunstwerks sowie die Aufklärung der künst-
lerischen Begabung kommen zwar als Aufgaben für die Psychoanalyse nicht
in Betracht. Es scheint aber, daß die Psychoanalyse imstande ist, in all
den Fragen, die das menschliche Phantasieleben betreffen, das entscheidende
Wort zu sprechen.
Und nun zudritt: Die Psychoanalyse hat uns zu unserem wachsenden
Erstaunen erkennen lassen, welch ungeheuer wichtige Rolle der sogenannte
Ödipus-Komplex, d. i. die affektive Beziehung des Kindes zu seinen beiden
Eltern, im Seelenleben des Menschen spielt. Dies Erstaunen ermäßigt sich,
wenn wir erfassen, daß der Ödipus-Komplex das psychische Korrelat zweier
fundamentaler biologischer Tatsachen ist, der langen infantilen Abhängigkeit
des Menschen und der merkwürdigen Art, wie sein Sexualleben im dritten
bis fünften Jahr einen ersten Höhepunkt erreicht, um dann nach einer Periode
der Hemmung mit der Pubertät neu einzusetzen. Dann aber eröffnete sich
die Einsicht, daß ein drittes, höchst ernsthaftes Stück der menschlichen Geistes-
tätigkeit, jenes, das die großen Institutionen der Religion, des Rechts, der
Ethik und all der Formen der Staatlichkeit geschaffen hat, im Grunde darauf
abzielt, dem Einzelnen die Bewältigung seines Ödipus-Komplexes zu ermög-
lichen und seine Libido aus ihren infantilen Bindungen in die endgültig
erwünschten sozialen überzuleiten. Die Anwendungen der Psychoanalyse
auf Religionswissenschaft und Soziologie (Referent, Th. Reik, O. Pfister),
S.
Schriften aus den Jahren 1923-1926
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welche zu diesem Ergebnis geführt haben, sind noch jung und nicht ge-
nügend gewürdigt, aber es ist nicht zu bezweifeln, daß weitere Studien die
Sicherheit dieser wichtigen Aufschlüsse nur erhöhen werden.
Wie als Anhang muß ich noch erwähnen, daß auch die Pädagogik es
nicht unterlassen kann, sich die Winke zunutze zu machen, die ihr die
analytische Erforschung des kindlichen Seelenlebens gibt. Ferner, daß sich
unter den Therapeuten Stimmen erhoben haben (Groddeck, Jelliffe), die
auch die psychoanalytische Behandlung schwerer organischer Leiden für aus-
sichtsvoll erklären, da bei vielen dieser Affektionen auch ein psychischer
Faktor mitgewirkt hat, auf den man Einfluß gewinnen kann.
So darf man die Erwartung aussprechen, daß die Psychoanalyse, deren
Entwicklung und bisherige Leistung hier in knapper und unzureichender
Weise dargestellt wurde, als ein bedeutsames Ferment in die kulturelle Ent-
wicklung der nächsten Dezennien eingehen und dazu verhelfen wird, unser
Weltverständnis zu vertiefen und manchem im Leben als schädlich Erkanntem
zu widerstreben. Nur vergesse man nicht daran, daß die Psychoanalyse für
sich allein ein vollständiges Weltbild nicht liefern kann. Wenn man die
Unterscheidung annimmt, welche ich kürzlich vorgeschlagen habe, die den
seelischen Apparat in ein der Außenwelt zugewendetes, mit Bewußtsein
ausgestattetes Ich und ein unbewußtes, von seinen Triebbedürfnissen be-
herrschtes Es zerlegt, so ist die Psychoanalyse als eine Psychologie des Es
(und seiner Einwirkungen auf das Ich) zu bezeichnen. Sie kann also auf
jedem Wissensgebiet nur Beiträge liefern, welche aus der Psychologie des
Ichs zu ergänzen sind. Wenn diese Beiträge oft gerade das Wesentliche
eines Tatbestandes enthalten, so entspricht dies nur der Bedeutung, welche
das lange unerkannt gebliebene seelisch Unbewußte für unser Leben bean-
spruchen darf.
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