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GELEITWORT
ZU DER UNRAT IN SITTE, BRAUCH, GLAUBEN UND GE-
WOHNHEITSRECHT DER VÖLKER von JOHN GREGORY
BOURKE, verdeutscht und neubearbeitet von Friedrich S. Krauß und H. Ihm
(Beiwerke zum Studium der Anthropophyteia, VI. Band). Ethnologischer Verlag,
Leipzig 1913.Als ich im Jahre 1885 als Schüler C H A R C O T S in Paris weilte, zogen
mich neben den Vorlesungen des Meisters die Demonstrationen und Reden
Brouardels am stärksten an, der uns an dem Leichenmaterial der Morgue
zu zeigen pflegte, wieviel es Wissenswertes für den Arzt gäbe, wovon doch
die Wissenschaft keine Notiz zu nehmen beliebte. Als er einmal die Kenn-
zeichen erörterte, aus denen man Stand, Charakter und Herkunft des
namenlosen Leichnams erraten könne, hörte ich ihn sagen: „Les genous
sales sont le signe d’une fille honnête.“ Er ließ die schmutzigen Kniee Zeugnis
ablegen für die Tugend des Mädchens!Die Mitteilung, daß körperliche Reinlichkeit sich weit eher mit der
Sünde als mit der Tugend vergesellschaftet, beschäftigte mich oftmals später,
als ich durch psychoanalytische Arbeit Einsicht in die Art gewann, wie
sich die Kulturmenschen heute mit dem Problem ihrer Leiblichkeit aus-
einandersetzen. Sie werden offenbar durch alles geniert, was allzu deutlich
an die tierische Natur des Menschen mahnt. Sie wollen es dem „vollendeteren
Engeln“ gleichtun, die in der letzten Szene des Faust klagen:„Uns bleibt ein Erdenrest
zu tragen peinlich,
und wär’ er von Asbest,
er ist nicht reinlich.“S.
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Geleitworte zu Büchern anderer Autoren
Da sie aber von solcher Vollendung weit entfernt bleiben müssen, haben
sie den Ausweg gewählt, diesen unbequemen Erdenrest möglichst zu ver-
leugnen, ihn vor einander zu verbergen, obwohl ihn jeder vom anderen
kennt, und ihm die Aufmerksamkeit und Pflege zu entziehen, auf welche
er als integrierender Bestandteil ihres Wesens ein Anrecht hätte. Es wäre
gewiß vorteilhafter gewesen, sich zu ihm zu bekennen und ihm so viel
Veredlung angedeihen zu lassen, als seine Natur gestattet.Es ist gar nicht einfach zu übersehen oder darzustellen, welche Folgen
für die Kultur diese Behandlung des „peinlichen Erdenrestes“ mit sich ge-
bracht hat, als dessen Kern man die sexuellen und die exkrementellen
Funktionen bezeichnen darf. Haben wir nur die eine Folge davon, die uns
hier am nächsten angeht, daß es der Wissenschaft versagt worden ist, sich
mit diesen verpönten Seiten des Menschenlebens zu beschäftigen, so daß
derjenige, welcher diese Dinge studiert, als kaum weniger „unanständig“
gilt, wie wer das Unanständige wirklich tut.Immerhin, Psychoanalyse und Folkloristik haben sich nicht abhalten
lassen, auch diese Verbote zu übertreten, und haben uns dann allerlei
lehren können, was für die Kenntnis des Menschen unentbehrlich ist.
Beschränken wir uns hier auf die Ermittlungen über das Exkrementelle,
so können wir als Hauptergebnis der psychoanalytischen Untersuchungen
mitteilen, daß das Menschenkind genötigt ist, während seiner ersten Ent-
wicklung jene Wandlungen im Verhältnis des Menschen zum Exkremen-
tellen zu wiederholen, welche wahrscheinlich mit der Abhebung der Homo
sapiens von der Mutter Erde ihren Anfang genommen haben. In frühesten
Kindheitsjahren ist von einem Schämen wegen der exkrementellen Funktionen,
von einem Ekel vor den Exkrementen noch keine Spur. Das kleine Kind
bringt diesen wie anderen Sekretionen seines Körpers ein großes Interesse
entgegen, beschäftigt sich gerne mit ihnen und weiß aus diesen Beschäfti-
gungen mannigfaltige Lust zu ziehen. Als Teile seines Körpers und als
Leistungen seines Organismus haben die Exkremente Anteil an der – von
uns narzißtisch genannten – Hochschätzung, mit der das Kind alles zu
seiner Person gehörige bedenkt. Das Kind ist etwa stolz auf seine Aus-
scheidungen, verwendet sie im Dienste seiner Selbstbehauptung gegen die
Erwachsenen. Unter dem Einfluß der Erziehung verfallen die körperlichen
Triebe und Neigungen des Kindes allmählich der Verdrängung; das Kind
lernt sie geheimhalten, sich ihrer schämen und vor den Objekten derselben
Ekel empfinden. Der Ekel geht aber, streng genommen, nie so weit, daß
er die eigenen Ausscheidungen träge, er begnügt sich mit der VerwerfungS.
Geleitworte zu Büchern anderer Autoren
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dieser Produkte, wenn sie von anderen stammen. Das Interesse, das bisher
den Exkrementen galt, wird auf andere Objekte übergeleitet, z. B. vom Kot
aufs Geld, welches dem Kind ja erst spät bedeutungsvoll wird. Aus der
Verdrängung der kopropbilen Neigungen entwickeln sich – oder verstärken
sich – wichtige Beiträge zur Charakterbildung.Die Psychoanalyse fügt noch hinzu, daß das exkrementelle Interesse beim
Kinde anfänglich von den sexuellen Interessen nicht getrennt ist; die
Scheidung zwischen den beiden tritt erst später auf, aber sie bleibt nur
unvollkommen; die ursprüngliche, durch die Anatomie des menschlichen
Körpers festgelegte Gemeinschaft schlägt auch beim normalen Erwachsenen
in vielen Stücken durch. Endlich darf nicht vergessen werden, daß diese
Entwicklungen ebensowenig wie irgendwelche anderen ein tadelloses Ergebnis
liefern können; ein Stück der alten Vorliebe bleibt erhalten, ein Anteil
der kopropbilen Neigungen zeigt sich auch im späteren Leben wirksam und
äußert sich in den Neurosen, Perversionen, Unarten, Gewohnheiten der
Erwachsenen.Die Folkloristik hat ganz andere Wege der Forschung eingeschlagen und
doch dieselben Resultate wie die psychoanalytische Arbeit erreicht. Sie zeigt
uns, wie unvollkommen die Verdrängung der kopropbilen Neigungen bei
verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten ausgefallen ist, wie
sehr sich die Behandlung der exkrementellen Stoffe auf anderen Kultur-
stufen der infantilen Weise annähert. Sie beweist uns aber auch die Fort-
dauer der primitiven, wahrhaft unzerstörbaren, kopropbilen Interessen,
indem sie zu unserer Erstaunung vor uns ausbreitet, in welcher Fülle von
Verwendungen in Zauberbrauch, Volkssitte, Kulthandlung und Heilkunst
die einstige Hochschätzung der menschlichen Ausscheidungen sich neuen
Ausdruck geschaffen hat. Auch die Beziehung dieses Gebietes zum Sexual-
leben scheint durchweg erhalten zu sein. Mit dieser Förderung unserer Ein-
sichten ist eine Gefährdung unserer Sittlichkeit offenbar nicht verbunden.Das meiste und beste, was wir über die Rolle der Ausscheidungen im
Leben der Menschen wissen, ist in dem Buche von J. G. Bourke „Scato-
logic Rites of all Nations“ zusammengetragen. Es ist daher nicht nur ein
mutiges, sondern auch ein verdienstvolles Unternehmen, dieses Werk den
deutschen Lesern zugänglich zu machen.
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