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VORREDE
zu Probleme der Religionspsychologie von
Dr. Theodor Reik, I. Teil: Das Ritual (Internationale Psycho-
analytische Bibliothek, Nr. V). Internationaler Psychoanalytischer Verlag,
Leipzig und Wien 1919.Die Psychoanalyse wurde aus der ärztlichen Not geboren, sie entsprang
dem Bedürfnis, nervös Kranken zu helfen, denen Ruhe, Wasserheilkünste
und Elektrizität keine Linderung bringen konnten. Eine höchst merkwürdige
Erfahrung von Josef Breuer hatte die Hoffnung geweckt, ihnen um so
ausgiebiger helfen zu können, je mehr man von der bis dahin unergrün-
deten Entstehung ihrer Leidensymptome verstünde. So wurde die Psycho-
analyse ursprünglich eine rein ärztliche Technik, von ihrem Anfang an
auf Erforschung, auf die Aufdeckung weitreichender verborgener Zusammen-
hänge hingewiesen.Ihr weiterer Weg lenkte sie von dem Studium der körperlichen Be-
dingungen des nervösen Krankseins in einem für den Arzt befremdenden
Maße ab. Dafür bekam sie es mit allem seelischen Inhalt zu tun, der das
menschliche Leben erfüllt, auch auf das der Gesunden, der Normalen und
Übernormalen. Sie mußte sich um Affekte und Leidenschaften kümmern,
vor allem um jene, welche die Dichter darzustellen und zu verherrlichen
nicht müde werden, um die Affekte des Liebeslebens, lernte die Macht
der Erinnerungen kennen, die ungeahnte Bedeutung der frühen Kindheits-
jahre für die Gestaltung der späteren Reife, die Stärke der Wünsche, die
das Urteil des Menschen verfälschen und seinem Streben feste Bahnen
vorschreiben. Eine Zeitlang schien es ihr beschieden, in Psychologie auf-
zugehen, ohne angeben zu können, warum sich die Psychologie des Kranken
von der des Normalen unterscheide.S.
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Auf ihrem Wege stieß sie aber auf das Problem des Traumes, der ein
abnormes seelisches Produkt ist, von normalen Menschen unter regelmäßig
wiederkehrenden physiologischen Bedingungen geschaffen. Als sich der
Psychoanalyse das Rätsel der Träume löste, hatte sie im unbewußten
Seelischen den gemeinsamen Boden gefunden, in dem die höchsten wie
die niedrigsten Seelenregungen wurzeln, aus dem sich die normalsten wie
die krankhaft irregehenden Seelenleistungen erheben. Nun gestaltete sich
immer deutlicher und vollständiger das Bild des seelischen Betriebs. Dunkle,
aus dem Organismus stammende Triebe, die nach mitgebrachten Zielen
streben, über ihnen ein Instanzenzug von höher organisierten seelischen
Formationen, – Erzeugungen der Menschheitsentwicklung unter dem Zwange
der Menschheitsgeschichte, – welche Anteile dieser Triebregungen auf-
genommen, weitergebildet oder ihnen selbst höhere Ziele zugewiesen haben,
auf jeden Fall aber sie durch feste Verknüpfungen binden und mit ihren
Triebkräften nach ihren eigenen Absichten walten. Einen anderen Anteil
derselben elementaren Triebregungen hat aber diese höhere Organisation,
die uns als das **Ich** bekannt ist, als unbrauchbar von sich gewiesen, weil
sie sich in die organische Einheit des Individuums nicht fügen konnten
oder weil sie sich gegen die kulturellen Ziele desselben sträubten. Das Ich
ist nicht imstande, diese ihm unterworfenen seelischen Mächte aus-
zurotten, aber es wendet sich von ihnen ab, beläßt sie auf dem primitivsten
psychologischen Niveau, schützt sich gegen ihre Ansprüche durch energische
Schutz- und Gegenbildungen oder sucht sich durch Ersatzbefriedigungen
mit ihnen abzufinden. Ungebändigt und unzerstörbar, doch an jeder Be-
tätigung gehemmt, bilden diese der **Verdrängung** verfallenen Triebe und
ihre primitive Seelenrepräsentanz die seelische Unterwelt, den Kern des
eigentlich Unbewußten, stets bereit, ihre Ansprüche geltend zu machen
und auf jedem Umweg zur Befriedigung vorzudringen. Daher die Labilität
des stolzen psychischen Oberbaus, der nächtliche Vorstoß des Verpönten
und Verdrängten im Traume, die Eignung, an Neurosen und Psychosen
zu erkranken, sobald das Kräfteverhältnis zwischen dem **Ich** und dem
Verdrängten zu ungunsten des Ichs verschiebt.
Die nächste Überlegung mußte sagen, daß eine solche Auffassung vom
Leben der menschlichen Seele unmöglich auf das Gebiet des Traumes und
der nervösen Erkrankungen eingeschränkt werden konnte. Wenn sie etwas
Richtiges getroffen hatte, so mußte sie auch für das normale seelische Ge-
schehen zutreffend sein, und selbst die höchsten Leistungen des Menschen-
geistes mußten eine Beziehung zu den in der Pathologie erkannten Mo-
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menten, zur Verdrängung, zu den Bemühungen um die Bewältigung des
Unbewußten, zu den Befriedigungsmöglichkeiten der primitiven Triebe
erkennen lassen. Es wurde von da an eine unwiderstehliche Versuchung,
ein wissenschaftliches Gebot, die Untersuchungsmethoden der Psychoanalyse
weit weg von ihrem Mutterboden auf die mannigfaltigsten Geisteswissen-
schaften anzuwenden. Ja selbst die psychoanalytische Arbeit an den Kranken
mahnte unaufhörlich an diese neue Aufgabe, denn es war unverkennbar,
daß die einzelnen Formen der Neurose die stärksten Anklänge an die höchst-
wertigen Schöpfungen unserer Kultur vernehmen ließen. Der Hysteriker
ist ein unzweifelhafter Dichter, wenngleich er seine Phantasien im wesent-
lichen mimisch und ohne Rücksicht auf das Verständnis der anderen
darstellt; das Zeremoniell und die Verbote des Zwangsneurotikers nötigen
uns zum Urteil, er habe sich eine Privatreiigion geschaffen, und selbst die
Wahnbiidungen der Paranoiker zeigen eine unerwünschte äußere Ähnlich-
keit und innere Verwandtschaft mit den Systemen unserer Philosophen. Man
kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier Kranke in asozialer
Weise doch dieselben Versuche zur Lösung ihrer Konflikte und Berücksich-
tigung ihrer drängenden Bedürfnisse unternehmen, die Dichtung, Religion
und Philosophie heißen, wenn sie in einer für eine Mehrzahl verbind-
lichen Weise ausgeführt werden.O. Rank und H. Sachs haben 1913 in einer überaus gedankenreichen
Schrift („Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften“)
zusammengestellt, welche Ergebnisse die Anwendung der Psychoanalyse auf
die Geisteswissenschaften bis dahin geliefert hat. Mythologie, Literatur
und Religionsgeschichte scheinen die am leichtesten zugängliche Gebiete
zu sein. Für den Mythus ist die endgültige Formel, welche ihm seinen
Platz im seelischen Zusammenhange anweist, noch nicht gefunden. In einem
großen Buche über den Inzestkomplex hat Otto Rank¹ den über-
raschenden Nachweis erbracht, daß die Stoffwahl insbesondere der drama-
tischen Dichtung vorwiegend durch den Umfang des von der Psychoanalyse
so genannten Ödipus-Komplexes bestimmt wird, durch dessen Bearbeitung
in den mannigfachsten Abänderungen, Entstellungen und Verhüllungen der
Dichter sein eigenes, persönliches Verhältnis zu diesem affektiven Thema
zu erledigen sucht. Der Ödipus-Komplex, d. i. die affektive Einstellung zur
Familie, im engeren Sinne zu Vater und Mutter, ist jener Stoff, an dessen
Bewältigung der einzelne Neurotiker scheitert, und der darum regelmäßig
¹) O. Rank: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Leipzig und Wien, 1912.
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den Kern seiner Neurose bildet. Er verdankt aber seine Bedeutung keines-
wegs einem unvernünftigen Zusammentreffen, sondern die biologischen
Tatsachen der langen Unselbständigkeit und langsamen Reifung des jungen
Menschen, sowie des komplizierten Entwicklungsganges seiner Liebesfähig-
keit drücken sich in dieser Betonung des Verhältnisses zu den Eltern aus
und haben zur Folge, daß die Überwindung des Ödipus-Komplexes mit der
zweckmäßigsten Bewältigung der archaischen, animalischen Erbschaft des
Menschen zusammenfällt. In dieser sind zwar alle Kräfte enthalten, welche
für die spätere Kulturentwicklung des Einzelnen benötigt werden, aber
sie müssen erst ausgesondert und verarbeitet werden. So wie es der einzelne
Mensch mitbringt, ist dieses archaische Erbgut für die Zwecke des sozialen
Kulturlebens nicht zu brauchen.
Es bedarf eines Schrittes weiter, um den Ausgangspunkt für die psycho-
analytische Betrachtung des religiösen Lebens zu finden. Was heute für
den einzelnen Erbgut ist, das war einmal vor einer langen Reihe von
Generationen, die es einander übertragen haben, Neuerwerb. Auch der
Ödipus-Komplex kann also seine Entwicklungsgeschichte haben und das
Studium der Prähistorie kann dazu führen, diese zu erraten. Die Forschung
nimmt an, daß das menschliche Familienleben in entlegenen Urzeiten
ganz anders gestaltet hatte, als wir es heute kennen, und bestätigt diese
Vermutung durch Befunde bei den heute lebenden Primitiven. Unterzieht
man das prähistorische und ethnologische Material darüber einer psycho-
analytischen Bearbeitung, so stellt sich ein unerwartet präzises Ergebnis
heraus: daß der Vater dereinst leibhaftig auf Erden gewandelt und als
Häuptling der Urmenschenhorde seine Herrschermacht gebraucht hat, bis
ihn seine Söhne im Verein erschlugen. Ferner, daß durch die Wirkung
dieser befreienden Untat und in Reaktion auf dieselbe die ersten sozialen
Bindungen entstanden, die grundlegenden moralischen Beschränkungen und
die älteste Form einer Religion, der Totemismus. Daß aber auch die
späteren Religionen von demselben Inhalt erfüllt und bemüht sind, einer-
seits die Spuren jenes Verbrechens zu verwischen oder es zu sühnen, in-
dem sie andere Lösungen für den Kampf zwischen Vater und Söhnen ein-
setzen, andererseits aber nicht umhin können, die Beseitigung des Vaters von
neuem zu wiederholen. Dabei läßt sich auch im Mythus der Nachhall jenes,
die ganze Menschheitsentwicklung riesengroß überschattenden Ereignisses
erkennen.
Diese auf den Einsichten von Robertson Smith fußende, von mir in
„Totem und Tabu“ 1912 entwickelte Hypothese hat Th. Reik seinen
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Studien über Probleme der Religionspsychologie zugrunde gelegt, von denen
hier der erste Band ausgegeben wird. Der psychoanalytischen Technik getreu
gehen diese Arbeiten von bisher unverstandenen Einzelheiten des religiösen
Lebens aus, um durch deren Aufklärung Aufschluß über die tiefsten Vor-
aussetzungen und letzten Ziele der Religionen zu gewinnen, und behalten
die Beziehung zwischen dem Urzeitlichen und dem heutigen Primitiven
sowie den Zusammenhang kultureller Leistung mit neurotischer Ersatz-
bildung unverrückt im Auge. Im übrigen darf auf die Einleitung des
Verfassers verwiesen und die Erwartung ausgesprochen werden, daß sein
Werk sich der Beachtung Fachkundiger selbst empfehlen wird.
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