S.
B R I E F
vom 27. April 1915 an Frau Dr. H E R M I N E V O N H U G - H E L L M U T H ,
abgedruckt in ihrem Geleitwort zu dem von ihr herausgegebenen T A G E -
B U C H E I N E S H A L B W Ü C H S I G E N M Ä D C H E N S (Quellenschriften
zur seelischen Entwicklung, Nr. I). Internationaler Psychoanalytischer Verlag,
Leipzig – Wien – Zürich 1919 (2. Aufl. 1921, 3. Aufl. 1922).
Das Tagebuch ist ein kleines Juwel. Wirklich, ich glaube, noch niemals
hat man in solcher Klarheit und Wahrhaftigkeit in die Seelenregungen
hineinblicken können, welche die Entwicklung des Mädchens unserer Gesell-
schafts- und Kulturstufe in den Jahren der Vorpubertät kennzeichnen. Wie
die Gefühle aus dem kindlich Egoistischen hervorwachsen, bis sie die soziale
Reife erreichen, wie die Beziehungen zu Eltern und Geschwistern zuerst
aussehen und dann allmählich an Ernst und Innigkeit gewinnen, wie
Freundschaften angesponnen und verlassen werden, die Zärtlichkeit nach
ihren ersten Objekten tastet, und vor allem, wie das Geheimnis des Geschlechts-
lebens erst verschwommen auftaucht, um dann von der kindlichen Seele
ganz Besitz zu nehmen, wie dieses Kind unter dem Bewußtsein seines
geheimen Wissens Schaden leidet und ihn allmählich überwindet, das ist
so reizend, natürlich und so ernsthaft in diesen kunstlosen Aufzeichnungen
zum Ausdruck gekommen, daß es Erziehern und Psychologen das höchste
Interesse einflößen muß.
. . . Ich meine, Sie sind verpflichtet, das Tagebuch der Öffentlichkeit
zu übergeben. Meine Leser würden Ihnen dafür dankbar sein . . .
freudgs11
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