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GELEITWORT
zu VERWAHRLOSTE JUGEND, Die Psychoanalyse in der Für-
sorgeerziehung, Zehn Vorträge zur ersten Einführung von AUGUST
AICHHORN (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Nr. XIX).
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig – Wien – Zürich 1925.
Von allen Anwendungen der Psychoanalyse hat keine so viele Interesse
gefunden, so viel Hoffnungen erweckt und demzufolge so viele tüchtige
Mitarbeiter herangezogen wie auf die Theorie und Praxis der Kinder-
erziehung. Dies ist leicht zu verstehen. Das Kind ist das hauptsächliche
Objekt der psychoanalytischen Forschung geworden; es hat in dieser Be-
deutung den Neurotiker abgelöst, an dem sie ihre Arbeit begann. Die
Analyse hat im Kranken das wenig verstandene, fortlebende Kind aufgezeigt
wie im Träumer und im Künstler, sie hat die Triebkräfte und Tendenzen
beleuchtet, die dem kindlichen Wesen sein eigenes Gepräge geben
und die Entwicklungswege verfolgt, die von diesem zur Reife des Erwach-
senen führen. Kein Wunder also, wenn die Erwartung entstand, die psycho-
analytische Bemühung um das Kind werde der erzieherischen Tätigkeit zu
gute kommen, die das Kind auf seinem Weg zur Reife leiten, fördern und
gegen Irrungen sichern will.
Mein persönlicher Anteil an dieser Anwendung der Psychoanalyse ist
sehr geringfügig gewesen. Ich hatte mir frühzeitig das Scherzwort von den
drei unmöglichen Berufen – als da sind: Erziehen, Kurieren, Regieren –
zu eigen gemacht, was auch von den mittleren dieser Aufgaben hinreichend
in Anspruch genommen. Darum verkenne ich aber nicht den hohen sozialen
Wert, den die Arbeit meiner pädagogischen Freunde beanspruchen darf.
Das vorliegende Buch des Vorstandes A. Aichhorn beschäftigt sich mit
einem Teilstück des großen Problems, mit der erzieherischen BeeinflussungS.
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der jugendlichen Verwahrlosten. Der Verfasser hatte in amtlicher Stellung
als Leiter städtischer Fürsorgeanstalten lange gewirkt, ehe er mit der
Psychoanalyse bekannt wurde. Sein Verhalten gegen die Pflegebefohlenen
entsprang aus der Quelle einer warmen Anteilnahme an dem Schicksal
dieser Unglücklichen und wurde durch eine intuitive Einführung in deren
seelische Bedürfnisse richtig geleitet. Die Psychoanalyse konnte ihn prak-
tisch wenig Neues lehren, aber sie brachte ihm die klare theoretische Ein-
sicht in die Berechtigung seines Handelns und setzte ihn in den Stand, es
vor anderen zu begründen.
Man kann diese Gabe des intuitiven Verständnisses nicht bei jedem
Erzieher voraussetzen. Zwei Mahnungen scheinen mir aus den Erfahrungen
und Erfolgen des Vorstandes Aichhorn zu resultieren. Die eine, daß der
Erzieher psychoanalytisch geschult sein soll, weil ihm sonst das Objekt
seiner Bemühung, das Kind, ein unzugängliches Rätsel bleibt. Eine solche
Schulung wird am besten erreicht, wenn sich der Erzieher selbst einer
Analyse unterwirft, sie am eigenen Leibe erlebt. Theoretischer Unterricht
in der Analyse dringt nicht tief genug und schafft keine Überzeugung.
Die zweite Mahnung klingt eher konservativ, sie besagt, daß die Er-
ziehungsarbeit etwas sui generis ist, das nicht mit psychoanalytischer Be-
einflussung verwechselt und nicht durch sie ersetzt werden kann. Die
Psychoanalyse des Kindes kann von der Erziehung als Hilfsmittel heran-
gezogen werden. Aber sie ist nicht dazu geeignet, an ihre Stelle zu treten.
Nicht nur praktische Gründe verbieten es, sondern auch theoretische Über-
legungen widerraten es. Das Verhältnis zwischen Erziehung und psycho-
analytischer Bemühung wird voraussichtlich in nicht ferner Zeit einer
gründlichen Untersuchung unterzogen werden. Ich will hier nur Weniges
andeuten. Man darf sich nicht durch die übrigens vollberechtigte Aussage
irrcleiten lassen, die Psychoanalyse des erwachsenen Neurotikers sei einer
Nacherziehung desselben gleichzustellen. Ein Kind, auch ein entgleistes
und verwahrlostes Kind, ist eben noch kein Neurotiker und Nacherziehung
etwas ganz anderes als Erziehung des Unfertigen. Die Möglichkeit der
analytischen Beeinflussung ruht auf ganz bestimmten Voraussetzungen, die
man als „analytische Situation“ zusammenfassen kann, erfordert die Aus-
bildung gewisser psychischer Strukturen, eine besondere Einstellung zum
Analytiker. Wo diese fehlen, wie beim Kind, beim jugendlichen Verwah-
losten, in der Regel auch beim triebhaften Verbrechen, muß man etwas
anderes machen als Analyse, was dann in der Abart wieder mit ihr
zusammentrifft. Die theoretischen Kapitel des vorliegenden Buches werdenS.
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dem Leser eine erste Orientierung in der Mannigfaltigkeit dieser Ent-
scheidungen bringen.
Ich schließe noch eine Folgerung an, die nicht mehr für die Erziehungs-
lehre, wohl aber für die Stellung des Erziehers bedeutsam ist. Wenn der
Erzieher die Analyse durch Erfahrung an der eigenen Person erlernt hat
und in die Lage kommen kann, sie bei Grenz- und Mischfällen zur Unter-
stützung seiner Arbeit zu verwenden, so muß man ihm offenbar die Aus-
übung der Analyse freigeben und darf ihn nicht aus engherzigen Motiven
daran hindern wollen.
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