Dr. Ferenczi Sándor 1923-051/1928
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    DR. FERENCZI SÁNDOR

    Erschien – gezeichnet von „Herausgeber und
    Redaktion“ – als Einleitung des anläßlich
    seines 50. Geburtstages Ferenczi gewidmeten
    Hefts der „Internationalen Zeitschrift für
    Psychoanalyse“ (Bd. IX, Heft 3, Sommer 1923).

    Wenige Jahre nach ihrem Erscheinen (1900) geriet die „Traumdeutung“
    auch in die Hand eines jungen Budapester Arztes, der Neurologe, Psychiater
    und gerichtlicher Sachverständiger, doch eifrig nach neuem Erwerb in seiner
    Wissenschaft ausschaute. Er kam nicht weit in der Lektüre, bald hatte er
    das Buch von sich geworfen; es ist nicht bekannt, ob mehr gelangweilt
    oder angewidert. Indes kurze Zeit nachher lockte ihn der Ruf von neuen
    Arbeits- und Erkenntnismöglichkeiten nach Zürich, von dort trieb es ihn
    nach Wien, um den Autor des einst verächtlich beseitigten Buches zu sprechen.
    An diesen ersten Besuch knüpfte eine lange, intime und bis heute unge-
    trübte Freundschaft an, in deren Betätigung er auch 1909 die Reise nach
    Amerika zu den Vorlesungen an der Clark-University in Worcester,
    Mass., mitmachte.

    Dies waren die Anfänge Ferenczis, der seither selbst ein Meister und
    Lehrer der Psychoanalyse geworden ist und in diesem Jahre, 1925, gleich-
    zeitig sein fünfzigstes Lebensjahr wie das erste Dezennium in der Führung
    der Budapester Ortsgruppe vollendet.

    Ferenczi hat wiederholt auch in die äußeren Schicksale der Psycho-
    analyse eingegriffen. Bekannt ist sein Auftreten auf dem zweiten Kongreß
    der Analytiker, Nürnberg 1910, wo er die Gründung der Internationalen
    Psychoanalytischen Vereinigung als Abwehrmaßregel gegen die Ächtung der
    Analyse durch die offizielle Medizin in Vorschlag brachte und durchsetzen
    half. Auf dem fünften Analytischen Kongreß in Budapest, September 1918,

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    wurde Ferenczi zum Präsidenten der Vereinigung gewählt. Er bestimmte
    Anton v. Freund zu seinem Sekretär und die vereinte Tatkraft beider
    Männer sowie die großzügigen Stiftungsabsichten Freunds hätten Budapest
    sicherlich zur analytischen Hauptstadt Europas erhoben, wenn nicht poli-
    tische Katastrophen und persönliche Schicksale diese schönen Hoffnungen
    erbarmungslos vernichtet hätten. Freund erkrankte und starb im Jänner 1920,
    im Oktober 1919 hatte Ferenczi unter Berufung auf die Isolierung Ungarns
    vom Weltverkehr seine Stelle niedergelegt und das Präsidium der Inter-
    nationalen Vereinigung Ernest Jones in London übertragen. Während der
    Dauer der Sowjetrepublik in Ungarn war Ferenczi mit den Funktionen
    eines Universitätslehrers betraut gewesen und die Hörer hatten sich zu seinen
    Vorlesungen gedrängt. Die Ortsgruppe aber, die er 1913 gegründet hatte,1
    überstand alle Stürme, entwickelte sich unter seiner Leitung zu einer Stätte
    intensiver und fruchtbringender Arbeit und glänzte durch eine Häufung
    von Begabungen, wie sie sich an keinem anderen Orte zusammengefunden
    hatten. Ferenczi, der als ein mittleres Kind aus einer großen Geschwister-
    reihe ursprünglich einen starken Bruderkomplex in sich zu bekämpfen hatte,
    war unter der Einwirkung der Analyse ein tadelloser älterer Bruder, ein
    gütiger Erzieher und Förderer junger Talente geworden.

    Ferenczis analytische Schriften sind allgemein bekannt und gewürdigt
    worden. Seine „Populären Vorträge über Psychoanalyse“ hat unser Verlag
    erst 1922 als XIII. Band der „Internationalen Psychoanalytischen Bibliothek“
    herausgegeben. Klar und formvollendet, mitunter fesselnd geschrieben, sind
    sie eigentlich die beste „Einführung in die Psychoanalyse“ für den ihr
    ferner Stehenden. Eine Sammlung der rein fachlich-medizinischen Arbeiten,
    van denen eine Anzahl durch E. Jones ins Englische übersetzt worden ist
    (Contributions to Psycho-Analysis 1916), steht noch aus. Der Verlag wird
    diese Aufgabe nachholen, sobald die Ungunst der Zeiten es ihm nicht mehr
    verwehrt. Die in ungarischer Sprache erschienenen Bücher und Broschüren
    haben zahlreiche Auflagen gehabt und die Analyse den gebildeten Kreisen
    Ungarns vertraut gemacht.

    Die wissenschaftliche Leistung Ferenczis imponiert vor allem durch
    ihre Vielseitigkeit. An glückliche kasuistische Funde und scharf beobachtete
    klinische Mitteilungen (Ein kleiner Hahnemann — Passagère Symptom-
    bildungen während der Behandlung — Mitteilungen aus der analytischen

    1) Die konstituierende Generalversammlung wurde am 19. Mai 1913 von Ferenczi
    als Obmann, Dr. Radó als Sekretär, Hollós, Ignotus und Lévy als Mitgliedern
    abgehalten.

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    Praxis) reihen sich mustergültige kritische Arbeiten, wie die über Jungs
    Wandlungen und Symbole der Libido und Régis und Hésnards Beur-
    teilung der Analyse, treffliche Polemiken, wie die gegen Bleuler in der
    Alkoholfrage und gegen Putnam betreffs des Verhältnisses der Psycho-
    analyse zur Philosophie, maßvoll und würdig bei aller Entschiedenheit.
    Ferner die Aufsätze, auf denen Ferenczis Ruhm vorwiegend beruht, in
    denen seine Originalität, sein Gedankenreichtum und seine Verfügung über
    eine wohlgeleitete wissenschaftliche Phantasie so erfreulich zum Ausdruck
    kommen, durch die er wichtige Stücke der psychoanalytischen Theorie aus-
    gebaut und die Erkenntnis fundamentaler Verhältnisse im Seelenleben ge-
    fördert hat (Introjektion und Übertragung — Die Theorie der Hypnose —
    Die Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes — Die Arbeiten über Sym-
    bolik u. a.). Endlich die Arbeiten dieser letzten Jahre (Kriegsneurosen —
    Hysterie und Pathoneurosen — Zur Psychoanalyse der paralytischen Geistes-
    störung [mit Hollós]), in denen das ärztliche Interesse vom psychologischen
    Tatbestand zur sometimhen Bedingtheit hindrängt, und seine Ansätze zu einer
    „aktiven“ Therapie.

    So unvollständig diese Aufzählung ausgefallen ist, so wissen doch seine
    Freunde, daß Ferenczi noch mehr für sich behalten hat, als er sich mit-
    zuteilen entschließen konnte. An seinem fünfzigsten Geburtstage vereinigen
    sie sich in dem Wunsch, daß ihm Stimmung, Kraft und Muße gegönnt
    sein mögen, seine wissenschaftlichen Vorsätze in neuen Leistungen zu ver-
    wirklichen.