Josef Popper-Lynkeus und die Theorie des Traumes 1923-005/1928
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    JOSEF POPPER-LYNKEUS UND DIE
    THEORIE DES TRAUMES

    Erschien im Juni 1923 in der „Zeitschrift
    des Vereines Allgemeine Nährpflicht“, Wien.

    Über den Anschein wissenschaftlicher Originalität ist viel Interessantes
    zu sagen. Wenn in der Wissenschaft eine neue Idee auftaucht, die zunächst
    als Entdeckung gewertet und in der Regel als solche auch bekämpft wird,
    so weist die objektive Erforschung bald nach, daß sie eigentlich doch keine
    Neuheit ist. In der Regel ist sie schon wiederholt gemacht und dann wieder
    vergessen worden, oft zu sehr weit voneinander entfernten Zeiten. Oder
    sie hat wenigstens Vorläufer gehabt, wurde undeutlich geahnt oder unvoll-
    kommen ausgesprochen. Das ist zu genau bekannt, als daß es einer weiteren
    Ausführung bedürfte.

    Aber auch die subjektive Seite der Originalität ist der Verfolgung würdig.
    Ein wissenschaftlicher Arbeiter mag sich einmal die Frage stellen, woher
    die ihm eigentümlichen Ideen kommen, die er an sein Material heran-
    gebracht hat. Dann findet er von einem Teil derselben ohne viel Besinnen,
    auf welche Anregungen er zurückgeht, welche Angaben von anderer Seite
    er dabei aufgegriffen, modifiziert und in ihre Konsequenzen ausgeführt hat.
    Von einem anderen Anteil seiner Ideen kann er nichts Ähnliches bekennen,
    er muß annehmen, diese Gedanken und Gesichtspunkte seien in seiner
    eigenen Denktätigkeit – er weiß nicht wie – entstanden, durch sie stützt
    er seinen Anspruch auf Originalität.

    Sorgfältige psychologische Untersuchung schränkt diesen Anspruch dann
    noch weiter ein. Sie deckt verborgene, längst vergessene Quellen auf, aus
    denen die Anregung der anscheinend originellen Ideen erflossen ist, und
    setzt an Stelle der vermeintlichen Neuschöpfung eine Wiederbelebung des

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    Vergessenen in der Anwendung auf einen neuen Stoff. Daran ist nichts zu
    bedauern; man hatte ja kein Recht zu erwarten, daß das „Originelle“ etwas
    Unableitbares, Indeterminiertes sein würde. Auf solche Weise hat sich auch
    für meinen Fall die Originalität vieler neuer Gedanken, die ich in der
    Traumdeutung und in der Psychoanalyse verwendet hatte, verflüchtigt. Nur
    von einem dieser Gedanken kenne ich die Herkunft nicht. Er ist geradezu
    der Schlüssel meiner Auffassung des Traumes geworden und hat mir dazu
    verholfen, seine Rätsel zu lösen, soweit sie bis heute lösbar geworden sind.
    Ich knüpfte an den fremdartigen, verworrenen, unsinnigen Charakter so
    vieler Träume an und kam auf die Idee, daß der Traum so werden müsse,
    weil in ihm etwas nach Ausdruck ringt, was den Widerstand anderer
    Mächte des Seelenlebens gegen sich hat. Im Traume rühren sich geheime
    Regungen, die mit dem sozusagen offiziellen ethischen und ästhetischen
    Bekenntnis des Träumers im Widerspruch stehen; darum schämt sich der
    Träumer dieser Regungen, wendet sich tagsüber von ihnen ab, will nichts
    von ihnen wissen, und wenn er ihnen zur Nachtzeit nicht jede Art von
    Ausdruck verwehren kann, zwingt er sie zur Traumentstellung, durch
    die der Trauminhalt verworren und unsinnig erscheint. Die seelische Macht
    im Menschen, die diesem inneren Widerspruch Rechnung trägt und zu-
    gunsten der konventionellen oder auch der höheren sittlichen Ansprüche
    die primitiven Triebregungen des Traumes entstellt, nannte ich die Traum-
    zensur
    .

    Gerade dieses wesentliche Stück meiner Traumtheorie hat aber Popper-
    Lynkeus
    selbst gefunden. Man vergleiche das nachstehende Zitat aus seiner
    Erzählung „Träumen wie Wachen“ in den „Phantasien eines Realisten“,
    die sicherlich ohne Kenntnis meiner 1900 veröffentlichten „Traumtheorie“
    geschrieben worden sind, wie ich auch damals Lynkeus’ Phantasien noch
    nicht kannte:

    „Von einem Manne, der die merkwürdige Eigenschaft hat, niemals Unsinn
    zu träumen“ … „Diese herrliche Eigenschaft, zu träumen wie zu wachen,
    beruht auf Deinen Tugenden, auf Deiner Güte, Deiner Gerechtigkeit, Deiner
    Wahrheitsliebe: es ist die moralische Klarheit Deiner Natur, die mir alles
    an Dir verständlich macht.“

    „Wenn ich aber recht bedenke,“ erwiderte der Andere, „so glaube ich
    beinahe, alle Menschen seien so wie ich beschaffen, und gar niemand träume
    jemals Unsinn! Ein Traum, an den man sich so deutlich erinnert, daß man
    ihn nacherzählen kann, der also kein Fiebertraum ist, hat immer Sinn. Und
    es kann gar nicht anders sein! Denn was miteinander im Widerspruch steht,
    könnte sich ja nicht zu einem Ganzen gruppieren. Daß Zeit und Ort oft

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    durcheinander gerüttelt werden, benimmt dem wahren Gehalt des Traumes
    gar nichts, denn sie beide sind gewiß ohne Bedeutung für seinen wesentlichen
    Inhalt gewesen. Wir machen es ja oft im Wachen auch so: denke an das
    Märchen, an so viele sinnvolle Phantasiegebilde, zu denen nur ein Unverstän-
    diger sagen würde: Das ist widersinnig! denn das ist nicht möglich!“

    „Wenn man nur die Träume immer richtig zu deuten wüßte, so wie Du
    es eben mit dem meinem getan hast“, sagte der Freund.

    „Das ist gewiß keine leichte Aufgabe, aber es müßte bei einiger Aufmerk-
    samkeit dem Träumenden wohl immer gelingen. Warum es meistens nicht
    gelingt? Es scheint bei Euch etwas Verstecktes in den Träumen zu liegen, etwas
    Unkeusches eigener und höherer Art, eine gewisse Heimlichkeit in Eurem
    Wesen, die schwer auszudenken ist; und darum scheint Euer Träumen so oft
    ohne Sinn, sogar ein Widersinn zu sein. Es ist aber im tiefsten Grunde nicht
    so; ja, es kann gar nicht anders sein, denn es ist immer derselbe Mensch,
    ob er wacht oder träumt.“

    Ich glaube, was mich dazu befähigt hat, die Ursache der Traumentstel-
    lung aufzufinden, war mein moralischer Mut. Bei Popper war es die
    Reinheit, Wahrheitsliebe und moralische Klarheit seines Wesens.