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SEPARATABDRUCK
aus der
INTERNATIONALEN ZEITSCHRIFT FUR ÄRZTLICHE PSYCHOANALYSE
herausgegeben von Professor 8. Freud, redigiert von Dr. S, Ferenczi und Dr. 0. Rank,
I. Jahrgang 1913. Verlag von Hugo Heller & Co. in Leipzig und Wien I. Bauernmarkt 3.
Abonnementspreis ganzjährig M 18.— = K 21.60. 'Aus dem infantilen Seelenleben.
1.! Zwei Kinderlügen.
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к“Ton Sigm. Freud.
Es ist begreiflich, daß Kinder lügen, wenn sie damit die Lügen der
Erwachsenen nachahmen, Aber eine Anzahl von Lügen von gut geratenen
Kindern haben eine besondere Bedeutung und sollten die Erzieher nachdenk-
lich machen anstatt sie zu erbittern. Sie erfolgen unter dem Kinfluß über-
starker Liebesmotive und werden verhångnisvoll, wenn sie ein Mißverständnis
zwischen dem Kinde und der von ihm geliebten Person herbeiführen,L
Das 7jåhrige Mädchen (im zweiten Schuljahr) hat vom Vater Geld ver-
langt, um Farben zum Bemalen von Ostereiern zu kaufen. Der Vater hat
es abgeschlagen mit der Begründung, er habe kein Geld. Kurz darauf ver-
langt es vom Vater Geld, um zu einem Kranz für die verstorbene Landes-
fürstin beizusteuern. Jedes der Schulkinder soll 50 Pfennige bringen. Der
Vater gibt ihr 10 Mark; sie bezahlt ihren Beitrag, legt dem Vater 9 Mark
auf den Schreibtisch und hat für die übrigen 50 Pfennige Farben gekauft,
die sie im Spielschrank verbirgt. Bei Tische fragt der Vater argwóhnisch,
was sie mit den fehlenden 50 Pfennig gemacht, und ob sie dafür nicht doch
Farben gekauft hat. Sie leugnet es, aber der um 2 Jahre ältere Bruder, mit
dem gemeinsam sie die Eier bemalen wollte, verrüt sie; die Farben werden
im Schrank gefunden. Der erziirnte Vater überläßt die Missetiterin der
Mutter zur Züchtigung, die sehr energisch ausfällt. Die Mutter ist nachher
selbst erschüttert, als sie merkt, wie sehr das Kind verzweifelt ist. Sie lieb-
kost es nach der Züchtigung, geht mit ihm spazieren, um es zu trösten,
Aber die Wirkungen dieses Erlebnisses, von der Patientin selbst als , Wende-
punkt^ ihrer Jugend bezeichnet, erweisen sich als unaufhebbar. Sie war bis
dahin ein wildes, zuversichtliches Kind, sie wird von da an scheu und zag-
haft. In ihrer Brautzeit gerüt sie in eine ihr selbst unverstündliche Wut, als
die Mutter ihr die Möbel und Aussteuer besorgt. Es schwebt ihr vor, es ist
doch ihr Geld, dafür darf kein anderer etwas kaufen. Als junge Frau scheutS.
360 Aus dem infantilen Seelenleben.
sie sich, von ihrem Manne Ausgaben fiir ihren persönlichen Bedarf zu ver-
langen und scheidet in iiberfliissiger Weise „ihr“ Geld von seinem Geld.
Während der Zeit der Behandlung trifft es sich einige Male, daß die Geld-
zusendungen ihres Mannes sich verspåten, so daß sie in der fremden Stadt
mittellos bleibt. Nachdem sie mir dies einmal erzählt hat, will ich ihr das
Versprechen abnehmen, in der Wiederholung dieser Situation die kleine
Summe, die sie unterdes braucht, von mir zu entlehnen, Sie gibt dieses Ver-
sprechen, hilt es aber bei der nächsten Geldverlegenheit nicht ein und zieht
es vor, ihre Schmuckstücke zu verpfinden. Sie erklärt, sie kann kein Geld
von mir nehmen,Die Aneignung der 50 Pfennige in der Kindheit hatte eine Bedeutung,
die der Vater nicht ahnen konnte. Einige Zeit vor der Schule hatte sie ein
merkwirdiges Stückchen mit Geld aufgeführt. Eine befreundete Nachbarin
hatte sie mit einem kleinen Geldbetrag als Begleiterin ihres noch jüngeren
Sóhnchens in einen Laden geschickt, um irgend etwas einzukaufen, Den Rest
des Geldes nach dem Einkauf trug sie als die ältere nach Hause. Als sie
aber auf der Straße dem Dienstmädchen der Nachbarin begegnete, warf sie
das Geld auf das StraBenpflaster hin. Zur Analyse dieser ihr selbst uner-
klårlichen Handlung fiel ihr Judas ein, der die Silberlinge hinwarf, die er
für den Verrat am Herrn bekommen, Sie erklärt es für sicher, daß sie mit
der Passionsgeschichte schon vor dem Schulbesuch bekannt wurde. Aber
inwiefern durfte sie sich mit Judas identifizieren ?Im Alter von 3!/, Jahren hatte sie ein Kindermädchen, dem sie sich
sehr innig anschlof. Dieses Mädchen geriet in erotische Beziehungen zu
einem Arzt, dessen Ordination sie mit dem Kinde besuchte. Es scheint, dab
das Kind damals Zeuge verschiedener sexueller Vorgänge wurde. Ob sie sah,
daß der Arzt dem Mädchen Geld gab, ist nicht sichergestellt; unzweifelhaft
aber, daß das Mädchen dem Kind kleine Münzen schenkte, um sich seiner
Verschwiegenheit zu versichern, fiir welche auf dem Heimwege Einkäufe
(wohl an Süßigkeiten) gemacht wurden. Es ist auch möglich, daß der Arzt
selbst dem Kinde gelegentlich Geld schenkte. Dennoch verriet das Kind sein
Mädchen an die Mutter, aus Eifersucht. Es spielte so auffällig mit den heim-
gebrachten Groschen, daß die Mutter fragen mußte: Woher hast du das Geld?
Das Mädchen wurde weggeschickt,Geld von jemandem nehmen, hatte also für sie frühzeitig die Bedeutung
der körperlichen Hingebung, der Liebesbeziehung, bekommen. Vom Vater
Geld nehmen, hatte den Wert einer Liebeserklärung. Die Phantasie, daß der
Vater ihr Geliebter sei, war so verführerisch, daß der Kinderwunsch nach
den Farben fiir die Ostereier sich mit ihrer Hilfe gegen das Verbot leicht
durchsetzte. Eingestehen konnte sie aber die Aneignung des Geldes nicht,
sie mußte leugnen, weil das Motiv der Tat, ihr selbst unbewuBt, nicht einzu-
gestehen war. Die Züchtigung des Vaters war also eine Abweisung der ihm
angebotenen Zärtlichkeit, eine Verschmåhung, und brach darum ihren Mut.
In der Behandlung brach ein schwerer Verstimmungszustand los, dessen Auf-
lösung zu der Erinnerung des hier Mitgeteilten führte, als ich einmal genötigt
war die Verschmåhung zu kopieren, indem ich sie bat, keine Blumen mehr
zu bringen.Für den Psychoanalytiker bedarf es kaum der Hervorhebung, daß in
dem kleinen Erlebnis des Kindes einer jener so überaus häufigen Fälle von
Fortsetzung der früheren Analerotik in das spätere Liebesleben vorliegt. Auch
die Lust, die Eier farbig zu bemalen, entstammt derselben Quelle.—
S.
Sigm. Freud: Zwei Kinderlügen, 361
II.
Eine heute infolge einer Versagung im Leben schwerkranke Frau war
früher einmal ein besonders tiichtiges, wahrheitsliebendes, ernsthaftes und
gutes Mädchen gewesen und dann eine zärtliche und glückliche Frau geworden.
Noch früher aber, in den ersten Lebensjahren, war sie ein eigensinniges und
unzufriedenes Kind gewesen, und während sie sich ziemlich rasch zur Ubergiite
und Ubergewissenhaftigkeit wandelte, ereigneten sich noch in ihrer Schulzeit
Dinge, die ihr in den Zeiten der Krankheit schwere Vorwiirfe einbrachten
und von ihr als Beweise griindlicher Verworfenheit beurteilt wurden. Ihre
Erinnerung sagte ihr, daß sie damals oft geprahlt und gelogen hatte. Einmal
rihmte sich auf dem Schulweg eine Kollegin: Gestern haben wir zu Mittag
Eis gehabt. Sie erwiderte: Oh, Eis haben wir alle Tage. In Wirklichkeit
verstand sie nicht, was Eis zur Mittagsmalzeit bedeuten sollte; sie kannte
das Eis nur in den langen Blöcken, wie es auf Wagen verführt wird, aber
sie nahm an, es miisse etwas Vornehmes damit gemeint sein, und darum wollte
-816 hinter der Kollegin nicht zuriickbleiben.Als sie 10 Jahre alt war, wurde in der Zeichenstunde einmal die Auf-
gabe gegeben, aus freier Hand einen Kreis zu ziehen. Sie bediente sich dabei
aber des Zirkels, brachte so leicht einen vollkommenen Kreis zu stande und
zeigte “ihre Leistung triumphierend ihrer Nachbarin. Der Lehrer kam hinzu,
horte die Prahlerin, entdeckte die Zirkelspuren in der Kreislinie und stellte
das Mädchen zur Rede. Dieses aber leugnete hartnäckig, ließ sich durch
keine Beweise überführen und half sich durch trotziges Verstummen. Der
Lehrer konferierte darüber mit dem Vater; beide ließen sich durch die
sonstige Bravheit des Mådchens bestimmen, dem Vergehen keine weitere Folge
zu geben.Beide Liigen des Kindes waren durch den nåmlichen Komplex motiviert.
Als ålteste von fiinf Geschwistern entwickelte die Kleine friihzeitig eine un-
gewöhnlich intensive Anhänglichkeit an den Vater, an welcher dann in reifen
Jahren ihr Lebensgliick scheitern sollte. Sie mußte aber bald die Entdeckung
machen, daß dem geliebten Vater nicht die Größe zukomme, die sie ihm
zuzuschreiben bereit war, Er hatte mit Geldschwierigkeiten zu kämpfen, er
war nicht so mächtig oder so vornehm, wie sie gemeint hatte. Diesen Abzug
von ihrem Ideal konnte sie sich aber nicht gefallen lassen. Indem sie nach
Art des Weibes ihren ganzen Ehrgeiz auf den geliebten Mann verlegte, wurde
es zum iiberstarken Motiv fiir sie, den Vater gegen die Welt zu stützen. Sie
prahlte also vor den Kolleginnen, um den Vater nicht verkleinern zu miissen.
Als sie später das Eis beim Mittagessen mit „Glace“ übersetzen lernte, war
der Weg gebahnt, auf welchem dann der Vorwurf wegen dieser Reminiszenz
in eine Angst vor Glasscherben und Splittern einmiinden konnte.Der Vater war ein vorziiglicher Zeichner und hatte durch die Proben
seines Talents oft genug das Entzücken und die Bewunderung der Kinder
hervorgerufen, In der Identifizierung mit dem Vater zeichnete sie in der
Schule jenen Kreis, der ihr nur durch betrügerische Mittel gelingen konnte.
Es war, als ob sie sich riihmen wollte: Schau her, was mein Vater kann!
Das Schuldbewubtsein, das der iiberstarken Neigung zum Vater anhaftete, fand
in dem versuchten Betrug seinen Ausdruck; ein Geständnis war aus demselben
Grunde unmöglich wie in der vorstehenden Beobachtung, es hätte das Ge-
ständnis der verborgenen inzestuösen Liebe sein müssen,Man möge nicht gering denken von solchen Episoden des Kinderlebens.
Es wäre eine arge Verfehlung, wenn man aus solchen kindlichen VergehenS.
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