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Ein Fall von Muskelatrophie mit ausgebreite-
ten Sensibilitätsstörunge (Syringomyelie).Von Dr. SIGM. FREUD,
Sekundararzt im Wiener Allgemeinen Krankenhause.
A. Krankengeschichte
Johann T., 36 Jahre alt, Weber, aufgenommen s. J.-N. 21355 am 10. November
1884, gibt an, dass er in seinem sechsten Lebensjahre an „Nervenfieber“
erkrankt, seither gesund gewesen sei. Als Ursache seines gegenwärtigen
Leidens beschuldigt er „Zugluft“ und eine feuchte Wohnung. Die ersten Symptome
seiner Krankheit waren im Winter 1882 Schwäche des linken Oberarmes
und „Pamstigsein“ der Finger, welche beide im darauffolgenden Sommer
sich etwas besserten, im Herbste 1883 aber wieder zunahmen. Im Mai
1884 trat spontan Anschwellung am linken Vorderarme und Handrücken
auf, welche zur Abszessbildung führte. Pat. wurde damals durch 20 Tage auf
der IV. medizinischen Abtheilung behandelt. Von Juni bis Mitte Oktober
1884 arbeitete Pat. viel, gebrauchte seinen linken Arm, merkte aber, dass
derselbe sehr leicht ermüde. Drei Wochen vor der Aufnahme bildete sich
neuerdings eine Anschwellung am linken Vorderarme, welche aufbrach und
Eiter entleerte. Gleichzeitig wurde die Unempfindlichkeit der linken Hand
so gross, dass Pat. z. B. nicht in seine Hosentasche hineinfand.
S t a t u s p r a e s e n s : Der Kranke ist ein mittelgrosses, mässig genährtes
Individuum von fahler Gesichtsfarbe, an Intelligenz beschränkt, aber
klar. Die inneren Organe und Exkrete zeigen keine Abnormität, eine
etwas hohe und monotone Stimme ist auffällig. Die Funktionen der Sinnesorgane
und der Hirnnerven sind intakt, ebenso Motilität und alle Qualitäten
der Empfindung am Rumpfe von der sechsten Rippe abwärts und an den Beinen.
Dagegen zeigen sich erhebliche motorische und sensible Störungen am
Rumpfe bis zum Niveau der sechsten Rippe und an den oberen Extremitäten,
welche im Folgenden beschrieben werden sollen.a) M o t o r i s c h e S y m p t o m e . Der Kranke ist mit einer hochgradigen
Verkrümmung der Wirbelsäule behaftet, über deren Entwicklung er
nichts anzugeben weiss. Der obere Theil der Brustwirbelsäule ist nach links
konvex, vom achten Brustwirbel ab aber nach links konkav und lordotisch,
die Lendenwirbelsäule erscheint gerade. Die linke Thoraxhälfte ist vorne
schmal und stark gewölbt, die rechte breit, flach; das Akromion steht links
höher. Diese Missstaltung erschwert die Beurtheilung der an den Schulterblattmuskeln
beiderseits vorhandenen Atrophien. Die inneren Ränder beider
Scapulae etwas abstehend. Beide M. latissimi dorsi sind verdünnt, der M.
infraspinatus ist rechts dünn, links scheint er ganz zu fehlen. Auch der M.
cucullaris ist links weit schmächtiger als rechts. Auffällige Funktionsstörungen
im Bereiche dieser Muskeln finden sich nicht vor.Die Arme sind beiderseits mager, doch zeigt nur der linke Oberarm Funktionsstörung
und Abnahme der Masse in seinen Muskeln. Grösster Umfang
des linken Oberarmes 19 Ctm., der des rechten 20 Ctm. Der linke M. pectoralis
major etwas dünner als der rechte; die Rundung der Schulterhöhe wird
links vermisst, die Beuger des Oberarmes, insbesondere der M. biceps, dünn
und schlaff. Die Hebung des linken Armes zur Horizontalen sehr erschwert,
dabei treten faszikuläre Zuckungen im hinteren Antheile des Deltoiden auf
und werden einzelne Bündel dieses Muskels härter als andere. Die Rotationen
des Oberarmkopfes merklich erschwert, die Kraft der Beugung schwach,
dabei wird der M. biceps nicht ordentlich hart, Kraft der Streckung weit
beträchtlicher, doch ist der M. triceps in stärkster Kontraktion schlaffer anzufühlen
als auf der rechten Seite.Der Umfang der Unterarme beiderseits gleich, auch ist keine sinnfällige
Atrophie der Muskeln linkerseits vorhanden; doch ist die Dorsalflexion der
Hand links erschwert, die Supination unvollkommener als rechts, die kleinen
Handmuskeln intakt. Die Bewegungen der linken Hand sind oft hastig und
ungeschickt.Einer eingehenden elektrischen Untersuchung entzog sich der wenig intelligente
Patient, als er merkte, dass er Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit
geworden sei. Doch liess sich konstatiren, dass in den atrophirten
Muskeln nirgends Entartungsreaktion, sondern quantitative Herabsetzung
der Erregbarkeit bei normalem Zuckungsmodus bestand. Bei galvanischer
Prüfung von der Supraklavikulargrube aus (kleine Elektrode auf E r b ’s Supraklavikularpunkt,
mittlere Platte am Sternum) trat rechts die erste KSZ bei 0.9 mA. auf (abgelesen am kleinen E d e l m a n n ’schen Galvanometer), und zwar ziemlich gleichzeitig in den betreffenden Muskeln. Links reagirten die einzelnen Muskeln ungleichzeitig, der Deltoideus zuletzt, mit
KSZ bei 1.4–2.7 mA. Bei direkter galvanischer Reizung von seinem vorderen
motorischen Punkte gab der rechte Deltoideus erste KSZ bei 2.5 mA.,
der linke erst zwischen 3 und 4 mA.Eigenthümlicherweise zeigte sich die elektrische Erregbarkeit des linken
N. ulnaris erhöht im Vergleiche mit dem rechten (bei wiederholter Prüfung
an seinem empfindlichsten Punkte oberhalb des inneren Kondyls).R e c h t e r N . u l n a r i s : bei 1.9 mA. erste KSZ, bei 3 bis 4 mA.
erste AOZ und ASZ. Erste faradische Reaktion bei Rollenabstand 80 Mm.L i n k e r N . u l n a r i s : bei 1.4 mA. erste KSZ, bei 2.4 mA. erste
AOZ und ASZ. Erste faradische Reaktion bei Rollenabstand 90 Mm.b) S e n s i b l e S t ö r u n g e n . Die von der oberen Brustapertur
bis zur sechsten Rippe ausgedehnte Sensibilitätsstörung variirt für die verschiedenen
Qualitäten der Sensibilität und für die einzelnen innerhalb der
bezeichneten Grenzen eingeschlossenen Körpertheile, jedoch in der Weise
gleichsinnig, dass dort, wo die eine Sinnesqualität stärker gestört ist, auch
die übrigen mehr als an anderen Stellen beeinträchtigt sind. Im Allgemeinen
haben die taktilen Empfindungen weniger gelitten als Schmerz- und
Tem-S.
peraturempfindung. Die Sensibilität ist am besten erhalten an
der rechten Rumpfhälfte, dann folgen der Reihe nach die rechte obere Extremität
und die linke Rumpfhälfte, während am linken Arme die Störung
am ausgesprochensten ist und vom zentralen zu dem peripheren Abschnitte
der Extremität hin zunimmt. Der Unterschied in der Affektion der linken
Hand und des linken Oberarmes ist weit beträchtlicher, als der Unterschied
zwischen linkem Oberarme und rechtem Arme. Die Verhältnisse gestalten
sich demnach folgender Art. Am rechten Arme und an der rechten Thoraxhälfte
werden selbst die feinsten Berührungen empfunden, aber minder
deutlich als an den Beinen oder im Gesichte. Die Feinheit der taktilen Empfindung
nimmt links etwas ab, doch wird Streichen mit einem Haare noch
auf der linken Schulterhöhe gefühlt, am linken Unterarme braucht es stär-
kere Berührung, um eine sichere Empfindung zu erzeugen und vom linken
Handgelenke ab besteht, wenn nicht völlige taktile Anästhesie, so doch die
hochgradigste Herabsetzung des Tastgefühles. Der Kranke ist ganz unfähig,
einen Gegenstand bei geschlossenen Augen durch Betasten mit der linken
Hand zu erkennen, was rechts ganz gut möglich ist; den Druck aufgelegter
Gegenstände verspürt er links fast nie, unterschätzt ihn gewöhnlich auch von
der rechten Hand aus. Ein mittleres, gefülltes Chromsäureelement, das er in
der linken Hand wägt, hält er für ein nussgrosses Stück Eis; rechts schätzt
er denselben Gegenstand auf 25 Dekagr. und hat eine annähernd richtige
Vorstellung von dessen Grösse. Prüfungen dieser Art wurden aber durch die
geringe Aufmerksamkeit des Kranken gestört. Schmerz- und Temperaturempfindung
waren rechts viel stärker herabgesetzt, als die taktile Empfindung.
Man konnte überall am rechten Arme die Haut durchstechen, ohne
Schmerzensäusserungen hervorzurufen, während unterhalb der sechsten
Rippe und im Gesichte die Haut sich sehr schmerzempfindlich erwies. Eis
wurde am rechten Arme und Rumpfe einfach als „kalt“ bezeichnet, sowie
man aber das Niveau der sechsten Rippe passirte, erkannte der Kranke das
Eis und gab zu erkennen, dass ihm die Kälteempfindung unangenehm sei.
Am linken Oberarme wurde Streichen mit einem Stücke Eis von dem Streichen
mit Seife nicht mehr unterschieden; die linke Hand war ganz analgisch
und zeigte nach einer Untersuchung mit einem brennenden Lichte mehrere
kreuzergrosse Schorfe, welche ohne Schmerz und Empfindung erzeugt worden
waren. Die Untersuchung mit dem faradischen Pinsel ergab die im Vorigen
angeführte Reihenfolge der befallenen Körpertheile. Bei Aufsetzen einer
feuchten Elektrode auf die Haut wurde auch in der linken Hand deutliche
Empfindung in den tiefen Theilen angegeben.Dass die Lagevorstellungen von den Armen gestört waren, wurde zweifellos
erkannt, wenn man passive Bewegungen der einen Extremität durch
willkürliche Bewegungen der andersseitigen bei geschlossenen Augen nachahmen
liess. Während dies dem Kranken für die Stellungen der Füsse vortrefflich
gelang, zeigte er sich in der Nachahmung der Stellung der Hände
und Finger sehr unsicher. Insbesondere schien er in der Kenntniss der Lage
des linken Armes und wieder am meisten der linken Finger beeinträchtigt.c) T r o p h i s c h e S t ö r u n g e n . Drei Narben am Handgelenke
und Handrücken links bestätigten die Angaben des Patienten von Schwel-
lungen und Abszessbildungen, welche daselbst zu wiederholten Malen aufgetreten
waren.Während einer sechswöchentlichen Beobachtung und elektrischen Behandlung
wurde die Analgesie am rechten Arme und die Anästhesie der linken
Hand merklich gesteigert. Der Kranke behauptete, eine Kräftigung der
Muskeln des linken Armes zu verspüren.B. Versuch einer Diagnose.
Das im Vorigen beschriebene Krankheitsbild setzt sich aus solchen motorischen
und sensiblen Störungen zusammen, welche selten vereint gefunden
werden, und ist ausserdem durch die Abwesenheit von cephalischen Symptomen
und Schmerzen und die Beschränkung auf den oberen Abschnitt
des Rumpfes mit Einschluss der oberen Extremitäten ausgezeichnet. Die
Affektion der Muskeln trägt den Charakter einer der typischen Formen der
Muskelatrophie: bilaterale Erkrankung von Schulter- und Schulterblattmuskeln,
einseitige des Deltoideus, Pektoralis und der Oberarmbeuger,
Erhaltensein der faradischen Reaktion und der normalen Zuckungsform,
Lähmung nur dem Muskelschwunde proportional.Die sensible Störung ist wesentlich als „partielle“ Empfindungslähmung
zu bezeichnen, da über dem ganzen Gebiete der Affektion Schmerz- und
Temperaturempfindung weit auffälliger als die Tastempfindungen gelitten
haben. In dem Bereiche der linken Hand besteht hochgradige Herabsetzung
aller Empfindungsqualitäten; ebendort, wo die sensible Störung am stärksten
entwickelt ist, ist eine Beeinträchtigung der trophischen Funktionen, eine
Neigung zu Abszessbildungen auffällig, welche indess als Folgen unbeachteter
Schädlichkeiten auf die Anästhesie zurückgeführt werden könnten. Der
Verlauf der Erkrankung ist ein mit Schwankungen progressiver, ein ätiologisches
Moment nicht bekannt.In welchem Abschnitt des Nervensystems – Gehirn, Rückenmark, periphere
Nerven – ist die Ursache dieses eigenthümlichen Symptomenkomplexes
zu verlegen? Wenn man den Versuch einer Lokaldiagnose unternehmen
will, kann man zunächst die Annahme einer Gehirnläsion ohne Bedenken
zurückweisen. Die Abwesenheit aller cephalischen Symptome, die Lokalisa-
tion der Erkrankung, die Muskelatrophie sind für diese Abweisung massgebend.
Auch einer Erkrankung peripherer Nerven und Nervenwurzeln muss
widersprochen werden. Gegen den neuritischen Ursprung der Symptome
spricht das Fehlen von Schmerzen während des ganzen Verlaufes, die Doppelseitigkeit,
vor Allem aber der Umstand, dass die myotrophischen Störungen
an ganz anderen Abschnitten des Körpers hervortreten, als die sensiblen,
so dass am linken Oberarme Muskelatrophie besteht ohne bedeutende Sensibilitätsstörung,
an der linken Hand fast völlige Anästhesie ohne Andeutung
von Lähmung und Atrophie. Der Charakter der Muskelaffektion entspricht
auch durchaus nicht dem einer neuritischen Affektion. Die Analogie derselben
mit einer typischen Muskelatrophie ist für die Lokaldiagnose nicht
verwerthbar, weil über den Sitz der Erkrankung bei der typischen Muskelatrophie
bekanntlich noch keine Einigung erzielt worden ist.Es bleibt also nur die Annahme einer spinalen Affektion im Hals- und
oberen Brustmarke entsprechend dem Bereiche der Erkrankung. Diese
Affektion kann keine transversale sein, denn in unserem Krankheitsbilde
fehlen die Symptome der Leitungsunterbrechung, welche die Folge einer
Erkrankung des Rückenmarksquerschnittes wäre. Sie kann auch keine halbseitige
sein, denn es fehlt die für letztere charakteristische Vertheilung der
motorischen und sensiblen Störungen auf verschiedene Körperseiten. Durch
das Fehlen jeder Andeutung von Leitungsunterbrechung ist die weisse Substanz
des Rückenmarkes von der Erkrankung ausgeschlossen. Andererseits
erklärt die bekannte Systemerkrankung der grauen Substanz, die der Vorderhörner,
nicht die vorhandenen sensiblen Symptome. Es erübrigt also nur
noch die Möglichkeit einer longitudinalen Erkrankung der ganzen grauen
Substanz des Hals- und oberen Brustmarkes, welche allen positiven und negativen
Merkmalen unseres Falles gerecht werden könnte. Denn es ist kein
Zweifel, dass durch Affektion der hinteren grauen Substanz des Rückenmarkes
sensible Störungen erzeugt werden, ebenso wie motorische und myotrophische
durch Erkrankung der vorderen. Soll die supponirte Affektion der
grauen Substanz den Einzelheiten unseres Falles gerecht werden, so muss
dieselbe vorwiegend links entwickelt und überdies in den Hinterhörnern weit
ausgedehnter und intensiver sein, als in den Vorderhörnern.(Schluss folgt.)
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