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Ueber die Allgemeinwirkung des Cocains.
Vortrag, gehalten im psychiatrischen Verein am 5. März 1885
von Dr. Sigm. Freud.
Ich habe mich im vorigen Sommer mit dem Studium der physiologischen
Wirkung und therapeutischen Anwendung des Cocains beschäftigt und
habe mich nun zum Vortrag vor Ihnen gemeldet, weil ich glaube, dass einige
Punkte dieses Themas auch das Interesse einer psychiatrischen Gesellschaft
erregen können. Ich sehe dabei vollständig von der externen Anwendung
des Cocains ab, welche durch K o l l e r so erfolgreich in die Oculistik eingeführt
worden ist und auch in anderen Zweigen der praktischen Medizin
Erspriessliches leistet. Unser Interesse gilt nur der Wirkung des Cocains bei
interner Application.Mit der Eroberung der Länder Südamerika’s durch die Spanier ist es bekannt
geworden, dass die Blätter der Cocapflanze den Eingeborenen daselbst
als Genussmittel dienen, und die Wirkung des Cocagenusses soll nach den
glaubwürdigsten Berichterstattern in einer wunderbaren Leistungsfähigkeit
bestehen. Es ist daher begreiflich, dass man in Europa grosse Erwartungen
hegte, als von der Novaraexpedition eine Quantität Cocablätter nach Europa
gebracht wurde und ein Schüler Wö h l e r ’s in Göttingen, N i e m a n n ,
aus denselben ein neues Alkaloid, das Cocain, darstellte. Mit diesem Körper
wie mit den Blättern selbst sind seither vielfache Versuche angestellt worden,
um ein der Cocawirkung auf die Indianer ähnliches Resultat zu erzielen, aber
der Gesammteffekt dieser Bemühungen war eine grosse Enttäuschung und
die Neigung, jene Berichte aus den Cocaländern in ihrer Glaubwürdigkeit
anzuzweifeln. Ich will auf die wahrscheinlichen Gründe dieses Misslingens
hier nicht eingehen; immerhin existiren auch aus jener Zeit – vor 60 und 70
Jahren – einige Angaben, welche von einer Erhöhung der Leistungsfähigkeit
durch Cocain zeugen. Im Winter 1883 hat Herr Doctor v. A s c h e n -
b r a n d t mitgetheilt, dass baierische Soldaten, welche in Folge erschöpfender
Einflüsse, wie Strapazen, Hitze u. s. w. marode geworden waren, sich
erholten, nachdem sie ganz geringe Mengen Cocainum muriaticum erhalten
hatten. Mein Verdienst besteht vielleicht nur darin, dass ich dieser Angabe
Glauben schenkte. Dieselbe war für mich der Anlass, die Cocawirkung an der
eigenen Person und an Anderen zu studiren.Ich kann die Wirkung des Cocains bei interner Anwendung, wie folgt,
beschreiben: Nimmt man eine eben wirksame Dosis (0.05 bis 0.10 gr.) im
besten Wohlbefinden und muthet sich hernach keine besondere Anstrengung
zu, so wird man kaum einen auffälligen Effekt verspüren. Anders aber, wenn
man diese Dosis des salzsauren Cocains während einer Herabsetzung des
Allgemeinbefindens durch Ermüdung oder Hunger einnimmt. Dann fühlt
man sich nach kurzer Zeit (10–20 Minuten) auf die volle Höhe der geistigen
und körperlichen Frische gehoben, man ist in einer Euphorie, welche
sich durch das Fehlen jedes Alterationsgefühls von der nach Alkoholgenuss
unterscheidet. So überraschend dieser Effekt der Cocaeinführung ist, so
trägt doch die Abwesenheit solcher Merkmale, welche den Zustand von der
normalen Euphorie der Gesundheit unterscheiden könnten, dazu bei, ihn
zu unterschätzen. Sobald erst der Contrast zwischen dem nunmehrigen und
dem Befinden vor Cocaeinnahme vergessen ist, hat man Mühe zu glauben,
dass man unter der Einwirkung eines fremden Agens steht und doch ist man
für 4–5 Stunden sehr eingreifend verändert. Denn so lange die Cocawirkung
anhält, kann man geistige und physische Arbeit mit grösserer Ausdauer verrichten
und sind die sonst gebieterisch auftretenden Bedürfnisse nachS.
Ruhe, Nahrung und Schlaf wie weggewischt. In den ersten Stunden nach
Cocain ist es sogar unmöglich einzuschlafen. Diese Wirkung des Alkaloid
klingt nach der angegebenen Zeit allmälig ab und wird von keiner Depression
gefolgt.In meiner Abhandlung „Ueber Coca“ (Centralblatt für die gesammte Therapie
von Heitler, Juli 1884; im Separatabdruck bei Moritz Perles 1885)
habe ich mehrere Beispiele von Aufhebung berechtigter Müdigkeit und Hungergefühls
u. dgl. angeführt, die ich zumeist an Collegen, welche auf mein
Ersuchen Cocain nahmen, beobachtet habe. Ich habe seither viele ähnliche
Erfahrungen gemacht, so bei einem Schriftsteller, welcher durch Wochen
vorher zur literarischen Produktion unfähig war, und nach einem 0.1 gr.
Cocain. mur. 14 Stunden lang ohne Unterbrechung arbeiten konnte. Doch
konnte es mir nicht entgehen, dass bei der Wirksamkeit des Cocains die
individuelle Disposition eine grosse Rolle spielt, vielleicht eine grössere als
bei anderen Alkaloiden. Die subjektiven Erscheinungen nach Cocaeinnahme
fallen bei verschiedenen Personen verschieden aus, nur Wenige zeigen, wie
ich, die reine Euphorie ohne Alteration; Andere empfinden nach denselben
Mengen Cocain bereits Anzeichen einer leichten Intoxication, Bewegungsdrang
und Gesprächigkeit, bei noch Anderen fehlen subjektive Symptome
der Cocawirkung gänzlich. Die Steigerung der Leistungsfähigkeit erwies
sich dagegen als ein weit constanteres Symptom der Cocawirkung und ich
richtete mein Bestreben dahin, die letztere objektiv darzustellen, etwa durch
die Veränderung von an Lebenden leicht zu bestimmenden Grössen, welche
sich auf die physische und psychische Leistungsfähigkeit beziehen. Ich
wählte dazu die Prüfung der bei einer bestimmten Aktion aufgewendeten
Kraft mittelst des Dynamometer und die Bestimmung der psychischen Reaktionszeit
mit dem E x n e r ’schen Neuramoebimeter. Ein Dynamometer
ist bekanntlich eine federnde Metallspange, deren Zusammenrückung einen
Zeiger längs eines Gradbogens verschiebt, an welchen die für den Betrag der
Zusammenrückung erforderliche Kraft in Pfunden oder Kilo ablesbar ist.
Ein solches Instrument ist brauchbar, wenn es richtig graduirt ist, nicht zu
grosse Anstrengung zur Handhabung erfordert, und wenn bei der Application
des Druckes auf dasselbe nur eine solche Aktion ausgeführt ist, wie wir
bei dem täglichen Gebrauch unserer Extremitäten häufig üben, welche Bewegungsform
also gleichsam in unserem Nervensystem bereit liegt. Die Wirkung,
welche ich machte, war der Druck mit einer Hand oder beiden Händen
bei ausgestrecktem Arm und ich überzeugte mich bald, dass es sehr leicht
ist, constante oder constant veränderliche Zahlen mit diesem Instrument zu
erhalten. Das Ergebniss meiner Prüfungen war ein sehr auffälliges, 0.4 gr.
Cocain. mur. steigert die Kraftleistung einer Hand um 2–3 Kilo, die beider
Hände um 3–4 Kilo, und zwar tritt diese Wirkung nach wenigen Minuten
etwa gleichzeitig mit der Cocaeuphorie ein, und klingt in derselben Zeit allmälig
ab. Bei Gelegenheit solcher dynamometrischen Messungen konnte ich
die von M. B u c h gefundene Thatsache bestätigen, dass die Muskelkraft
wie die Temperatur eine regelmässige Tagesschwankung erkennen lässt. Das
Minimum der motorischen Leistungsfähigkeit findet sich am Morgen nach
dem Erwachen; dieselbe steigt am Vormittag rasch an, erreicht am Nachmittag
ein Maximum und sinkt gegen Abend langsam ab. Der Unterschied
zwischen Maximum und Minimum betrug bei mir 4 Kilo.Ich wurde auch auf eine zweite Schwankung der Muskelkraft aufmerksam,
welche von den Tageszeiten unabhängig ist und sich darin ausdrückt, dass
man an manchen Tagen von einem niedrigeren Minimum anfängt, und nur
ein niedrigeres Maximum erreicht, so dass die tägliche Schwankung sich auf
einem niedrigeren Niveau abspielt. Der Zusammenhang dieser Herabsetzung
der Muskelkraft mit einem gedrückteren Allgemeinbefinden war mir jedesmal
ganz unverkennbar, und ich bin dadurch zur Auffassung gedrängt worden,
dass die Cocainwirkung nicht durch Beeinflussung der motorischen Apparate,
sondern durch Hebung der centralen Arbeitsbereitschaft zu Stande
kommt. Für die Cocainwirkung ist noch zu berücksichtigen, dass dieselbe
auffälliger wird, wenn man Cocain bei niedrigeren Zahlen für die motorische
Kraft nimmt, als wenn man im besten Wohlbefinden und mit dem Maximum
seiner Muskelleistung den Versuch anstellt. Die Bestimmung der psychischen
Reactionszeit führte zu demselben Ergebniss wie die dynamometrischen
Prüfungen. Unter psychischer Reactionszeit versteht man bekanntlich die
Zeit, welche zwischen der Einwirkung eines Sinneseindruckes und der Einführung
einer verabredeten motorischen Reaction auf denselben verfliesst.
Diese Zeit ist an dem kleinen Apparat von E x n e r in Hundertstel von
Sekunden gegeben durch die Anzahl von Schwingungen, welche eine Feder
auf einer berussten Platte verzeichnen konnte, bis sie durch die Reaction der
untersuchten Person arretirt wird. Der beim Freiwerden der schwingenden
Feder entstehende Ton dient als Sinnesreiz, auf den reagirt wird. Es ergab
sich nun, dass meine ReactionszeitenS.
durch Cocain kürzer und gleichförmiger
würden, wenn sie vordem ungleich und verlängert waren. Dagegen
erzielte ich andere Male ebenso günstige Verhältnisse der Reaction, wenn ich
im besten Wohlbefinden ohne Cocain die Versuche anstellte. Auch hier war
also die Beziehung der Cocainwirkung zur durch Cocain hervorgebrachten
Euphorie evident.Ich komme nun zu den beiden Punkten, welche ein directes psychiatrisches
Interesse haben. Die Psychiatrie ist reich an Mitteln, welche die übererregte
Nerventhätigkeit herabsetzen, dagegen arm an solchen, welche die
herabgesetzte Leistung des Nervensystems heben könnten. Es liegt darum
nahe, an die Verwerthung der im Vorigen geschilderten Wirkung des Cocains
in solchen Krankheitsformen zu denken, welche wir als Schwäche- und
Depressionszustände des Nervensystems ohne organische Laesion deuten.
In der That ist das Cocain, seitdem es bekannt geworden, gegen Hysterie,
Hypochondrie etc. in Anwendung gebracht worden und es fehlt nicht an
einzelnen Berichten über damit erzielte Heilung. In ausgedehnter und systematischer
Weise haben nur M o r s e l l i und B u c c o l a Cocain bei
Melancholikern angewendet, und gaben an, leichte Besserung erzielt zu haben.
Im Ganzen muss man sagen, dass die Brauchbarkeit des Cocains in
der psychiatrischen Praxis noch zu erweisen ist, und wohl einer sorgfältigen
Prüfung werth scheint, sobald das gegenwärtig unerschwingliche Medikament
wohlfeil geworden ist.Bestimmter kann man sich über einen anderen Nutzen des Cocains für
den Psychiater äussern. Es ist zuerst in Amerika die Erfahrung gemacht
worden, dass das Cocain die bedenklichen Erscheinungen während der
Morphinabstinenz bei Entziehungscuren zu mässigen und den Morphiumhunger
zu unterdrücken im Stande ist. Die „Detroit Therapeutic Gazette“
brachte in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Berichten über Morphin-
und Opiumentziehungen, welche mit Hilfe des Cocains durchgeführt
worden waren, aus welchen z. B. hervorzuheben ist, dass die Kranken während
der Entziehung nicht der beständigen ärztlichen Aufsicht bedurften,
wenn sie angewiesen waren, eine wirksame Dosis Cocain zu nehmen, so oft
der Morphiumhunger bei ihnen wieder auftrat. Ich habe selbst Gelegenheit
gehabt, eine – und zwar plötzliche – Morphinentziehung unter Cocain hier
zu beobachten und konnte sehen, dass die Person, welche bei einer früheren
Entziehung die schwersten Collapserscheinungen geboten hatte, nun mit
Hilfe des Cocains arbeitsfähig und ausser Bette blieb und nur durch Frieren,
Diarrhoe und das von Zeit zu Zeit wiederkehrende Morphinbedürfniss
an seine Abstinenz gemahnt wurde. Es wurden etwa 0.40 gr. Cocain pro die
verbraucht und nach 20 Tagen war die Morphinabstinenz überwunden. Eine
Cocagewöhnung trat dabei nicht ein, im Gegentheil war eine steigende Abneigung
gegen den Cocaingenuss unverkennbar. Ich würde nach den Erfahrungen,
die ich über die Cocainwirkung gesammelt habe, unbedenklich dazu
rathen, in ähnlichen Entziehungscuren Cocain in subcutanen Injectionen
von 0.03–0.05 gr. pro dosi zu geben und sich vor der Häufung der Dosen
nicht zu scheuen. Einigemale habe ich auch gesehen, dass das Cocain die
nach einer grösseren Dosis von Morphium auftretenden Erscheinungen der
Intoleranz rasch beseitigte, als ob es eine specifische Gegenwirkung gegen das
Morphin besässe. R i c h t e r in Pankow hat neuerdings (Vgl. Neurologisches
Centralblatt vom 1. Januar 1885) meine Erfahrungen über den Werth
des Cocains bei Morphinisten bestätigt. Ich weiss wohl, dass bei einzelnen
Entziehungscuren das Cocain keine Dienste zu leisten schien und bin darauf
gefasst, dass auch die Verschiedenheit der individuellen Reaction gegen das
Alkaloid hervortreten wird. Ich glaube endlich noch anführen zu sollen, dass
die amerikanischen Aerzte über Heilung oder günstige Beeinflussung der
Trunksucht bei Alkoholikern zu berichten wissen.
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