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Akute multiple Neuritis der spinalen und Hirnnerven.
Von Dr. SIGM. FREUD, Dozent für Nervenkrankheiten in Wien.
Als Sekundararzt im Allgemeinen Krankenhause hatte ich Gelegenheit, auf der IV. medizinischen Abtheilung des Herrn Primararztes S c h o l z einen Kranken von seinem Eintritte bis zum letalen Ende zu beobachten, welcher ein klassisches Bild der oben genannten interessanten und erst in neuester Zeit studirten Affektion bot. Da nach der Mittheilung des pathologischen Ana- tomen ein Fall dieser Art in Wien vorher nicht zur Sektion gekommen ist, erlaube ich mir, an dieser Stelle die Krankengeschichte mitzutheilen und werde über die Resultate der mikroskopischen Untersuchung des mir von Herrn Prof. K u n d r a t in reichem Maasse überlassenen Materials anderwärts berichten.
H. Rudolf, sub J.-N. 18.928 aufgenommen am 3. Oktober 1884, 18 Jahre alt, Bäckergehilfe, gibt an, dass er keine ernstere Erkrankung durch- gemacht und sich bis vor 8 Tagen gesund gefühlt habe. Zu dieser Zeit seien ziehende Schmerzen und andauerndes Kältegefühl in beiden Beinen, Schmerzen im linken Knie, Druck und Beengung auf der Brust, sowie grosse Mattigkeit bei ihm aufgetreten; auch wären seine Füsse etwas angeschwollen gewesen. Die Untersuchung beim Eintritte ergibt: Kräftiger Körperbau, gute Ernährung, Hautfarbe etwas blass, Temperatur normal, im Harn weder Ei- weiss noch Zucker. Anschwellungen der Gelenke sind nicht zu konstatiren. Die inneren Organe mit Ausnahme des Herzens normal. Die Herzdämp- fung mässig nach aussen und oben verbreitert, Herzstoss undeutlich, an der Herzspitze lautes systolisches Geräusch, sonst sehr dumpfe Töne. Der Puls arythmisch, oft gruppenschlägig, die Pulsfrequenz im Mittel nicht vermehrt. Bis auf eine gewisse Erregtheit bietet der Kranke keine objektiven nervösen Symptome. – Natrium salicyl., Bettruhe.
13. Oktober. Keine Arythmie, dumpfe Töne, Verbreiterung der Herz- dämpfung noch nachweisbar.
- Oktober. Systole noch unrein. Pat. klagt über heftige Schmerzen im Nacken und Hinterkopf, über kriebelnde Empfindungen in den Fingern der linken Hand und grosses Schwächegefühl. In den nächsten Tagen nehmen diese ärztlich noch nicht gehörig gewürdigten Symptome an Intensität zu. Es wird blos konstatirt, dass Druck auf die seitliche Halsgegend links und auf die Dornfortsätze der unteren Halswirbel sehr schmerzhaft wirkt.
Am 29. Oktober wird der Kranke in grösserer Erregung, in Schweiss ge- badet angetroffen und berichtet, dass er einen Anfall spontaner Zuckungen des rechten Beines gehabt habe. Die nun vorgenommene und am nächsten Tage vervollständigte Untersuchung ergibt folgenden Status:
Bewusstsein ungestört, der Körper, besonders die unteren Extremitäten, mit Schweiss bedeckt. Temperatur 37.3, Puls regelmässig, sehr beschleu- nigt, Herztöne matt. Pupillen weit, gleich, von ausgiebiger Reaktion. Der Hinterkopf Sitz spontaner drückender Schmerzen, Bewegung des Kopfes nach links schmerzhaft, andere Bewegungen frei. Weder im Gesichte noch an den Extremitäten Zeichen einer motorischen Lähmung. Tastempfindlich- keit überall normal, selbst die feinsten Berührungen werden empfunden und richtig lokalisirt. Die Reaktion des Kranken gegen schmerzhafte Eingriffe im Allgemeinen verstärkt, doch sind unverkennbar die Haut, Nervenstämme und Muskeln gewisser Körperregionen von besonderer Hyperalgesie befallen. Im Gesichte besteht linkerseits Hyperalgesie der Haut gegen Stich und be- sonders gegen Kneipen am Ohr, Kinn, Unterlippe (Haut und Schleimhaut), ebenso am Halse derselben (linken) Seite. Alle drei Austrittsstellen der Tri- geminusendäste links auf Druck sehr schmerzempfindlich; rechts besteht im Gesichte weder Hyperalgesie der Haut noch der Nervenstämme. Die Hals- wirbelsäule druckempfindlich bis zum 7. Dornfortsatze, dann die Brustwirbel vom 10. ab, die ganze Lendenwirbelsäule und das Kreuzbein. Die ersten 10 Brustwirbel sind frei. An der linken oberen Extremität sind in exzessiver Weise druckempfindlich die Nervenstämme des Cervikalgeflechtes am Halse und die Armnerven an verschiedenen Stellen ihres Verlaufes (Me-
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dianus, Ulnaris, Radialis). Ganz leicht drückende Berührung derselben wird mit schmerzhaften Verziehungen der Gesichtsmuskeln beantwortet, wäh- rend dieselben Eingriffe auf der rechten Seite keine besondere Empfindung oder Reaktion wachrufen. Die Druckempfindlichkeit ist am stärksten, wo die Nerven oberflächlich liegen und beschränkt sich auf die Nervenstämmen entsprechenden Stellen. Die Haut des linken Armes nicht besonders hyper- algisch, dagegen in hohem Grade die des rechten, dessen Nerven sich nicht druckempfindlich erwiesen. Drücken oder Kneipen des linken Musculus pec- toralis sehr schmerzhaft, während die Haut über demselben keine vermehrte Empfindlichkeit zeigt.
Die Haut der Vorderfläche des Rumpfes vom Schlüsselbein bis unter das Nabelniveau frei, am Rücken rechts ein bis zur hinteren Axillarlinie reichen- der hyperalgischer Bezirk.
An den unteren Extremitäten die gesammte Muskulatur in ziemlicher Spannung. Beklopfen der Patellarsehne ruft rechterseits einen Schütteltre- mor des ganzen Beines hervor, der, sich allmälig verstärkend, bis eine Vier- telminute anhält. Links erzeugt Beklopfen der Patellarsehne nur eine heftige Kontraktion, doch tritt dasselbe Schüttelphänomen ein, wenn der Kranke spontan das Bein hebt, was rechts nicht der Fall ist. Während des Schüttelns geräth das linke Bein in starke Streckkontraktur. Druck auf den N. cruralis hebt beiderseits das Schüttelphänomen auf. Die Sohlenreflexe sind gering, Cremasterenreflexe lebhaft, rechts stärker. Druck auf den N. cruralis bei- derseits sehr schmerzhaft, ebenso auf den Ischiadicus unterhalb der Glute- alfalte; Druck auf den N. peroneus und den N. tibialis hinter dem Malleolus internus nur links schmerzhaft. Die Haut der unteren Extremitäten überall hyperalgisch, die Muskeln nicht deutlich. – Es bestehen keine Harn- oder Stuhlbeschwerden.
Ein Versuch elektrischer Prüfung der Nerven und Muskeln scheitert wie alle späteren an der Hyperästhesie des Kranken. Das Ophthalmoskop zeigt den Augenhintergrund normal, die Papillen etwas hyperämisch.
Am 30. Oktober drei solche Anfälle mit Schweissausbruch wie der gest- rige. Dabei beschleunigte Athmung. – Der Kranke erhält Leiter’sche Kühler längs der Lendenwirbelsäule und über einige spontan schmerzende Partien der Extremitäten.
Am 2. November etwas gebessert. Keine spontanen Anfälle. Der Schüttel- tremor des rechten Beines beim Hervorrufen des Patellarreflexes kürzer; das Bein geräth rasch in Streckkontraktur. Im Gesichte hat die Hyperalgesie auch das Gebiet des zweiten Trigeminusastes (Wange und Oberlippe) ergriffen.
Am 4. November fühlt sich Pat. subjektiv leichter. Im Gesichte spontan ziehende Schmerzen. Tiefe Druckempfindlichkeit in beiden M. pectorales, biceps und im rechten Oberschenkel. Kriebeln und Kältegefühl hat seit Be- ginn der Erkrankung angehalten.
Am 6. November Schweisse und Zuckungen der Beine, jedoch schwächer; grösste Empfindlichkeit in den Muskeln des rechten Oberschenkels.
Am 8. November der Patellarreflex rechts gering, links das Schütteln bei willkürlicher Bewegung erhalten. Leichtes Erythem am Stamme. Die hyper- algische Zone am Rücken ist gewandert. Schmerzen an der Innenfläche des rechten Oberschenkels und ein Druckgefühl links seitlich am Thorax sind neu aufgetreten.
Am 10. November heftige spontane Schmerzen im linken Beine, Kopf- schmerz bei Nacht. Klagen über „Todtsein“ der Hände. Bei Druck auf die linken Armvenen bezeichnet der Kranke prickelnde Empfindungen in den entsprechenden Fingern.
Am 21. November. In den letzten Tagen haben die Reizerscheinungen an der unteren Körperhälfte noch mehr nachgelassen, Reflex und Hyperalgesie daselbst sind gering. Dagegen sind der rechte Cervikalplexus und die rech- ten Armnerven sehr druckempfindlich und spontan schmerzhaft geworden. Druck auf fast alle Nerven der Extremitäten wird längs des ganzen Verlau- fes derselben verspürt. Die Gesichtshyperästhesie links geringer; Kopf- und Nackenschmerzen sehr heftig, dazu Schmerzen im Halse beim Schlingen, Schwindelgefühl, wenn Pat. den Kopf nach abwärts beugt. Die Muskeln ziemlich schlaff, die Ernährung derselben hat merklich gelitten, der Druck beider Hände sehr schwach; beim Versuche, zu gehen, knickt der Kranke zusammen, doch ist keine Störung einer bestimmten Bewegungsform oder der Koordination vorhanden.
Am 24. November. Der Kranke zeigt sich sehr aufgeregt, bezieht gleich- giltige Aeusserungen auf sich und beginnt, zu weinen. – Am empfindlichsten der linke M. pectoralis.
Nach längerer Unterbrechung wird der Kranke am 11. Dezember wieder vorgenommen. Pat. in ungetrübtem Bewusstsein, aber weinerlicher Stim- mung. Die Pupillen weit, linke weiter als rechte, beide reagiren auf Lichtein- fall. Klagen über Doppeltsehen, besonders nach oben und beiderseits seitlich; Zurückbleiben des rechten M. internus ist deutlich und ebenso, dass die Be-
weglichkeit des linken Bulbus nach aufwärts eingeschränkt ist. Beim Spre- chen fällt das lebhafte Spiel der Gesichtsmuskulatur auf, und Pat. beklagt sich über eine gewisse Schwierigkeit beim Sprechen, sowie beim Schlingen. Dabei hängt der rechte Mundwinkel herab und wird bei mimischen Bewe- gungen, auch beim Zeigen der Zähne weniger innervirt. Im Rachen die linke Hälfte des weichen Gaumens und die linken Gaumenbögen herabhängend, beim Intoniren weniger gehoben. Alle Austrittsstellen des Trigeminus druck- empfindlich, am meisten die des N. mentalis sin. Die Gesichtshaut links gegen Stiche und Kneipen hpyerästhetisch, angeblich tobende Schmerzen im Gesichte und Hinterkopfe. Die Zunge wird gerade vorgestreckt, scheint aber dünner geworden zu sein und zeigt kontinuirliche fibrilläre Zuckungen. Die Stimme ist heiser und kraftlos. Geschmacksempfindung erhalten.Die Haut ist ausser an der linken Gesichtshälfte besonders hyperalgisch am Halse, über dem M. pectoralis und biceps sin., am linken Handrücken und rückwärts über der rechten Scapula. Nicht hyperalgisch ist blos die Haut des Abdomens rechts vorn bis zur Höhe der Brustwarze und links hinten am Rumpfe. Extreme Schmerzhaftigkeit auf Druck beider M. cucullares, Sternocleidomastoidei, aller Muskeln der oberen Extremitäten, besonders des linken M. biceps, geringere der unteren Extremitäten. Grosse Druck- empfindlichkeit aller Nerven der oberen und unteren Extremitäten mit ex- zentrischer Sensation bei leichtem Drucke. Druck auf den rechten N. ulna- ris an seiner oberflächlichsten Stelle löst einen Schütteltremor des rechten Armes aus, ebenso Druck auf den linken N. cruralis einen Schütteltremor des Beines in Streckkontraktur. Das Beklopfen der Patellarsehne erzeugt ebenfalls einen sehr heftigen Schüttelkrampf, besonders links, auf welcher Seite dann Beugung im Knie und Abduktion der grossen Zehe eintritt. Die Plantarreflexe sind minimal. Alle Bewegungen sind kraftlos, obwohl nirgends eine vollständige Lähmung zu konstatiren ist. Die Druckkraft der linken Hand am Dynamometer beträgt 10 Kilo, die der rechten ist kaum merk- lich. Allgemeine Abmagerung der Muskulatur; eine stärkere Atrophie ist am rechten Oberarme nachweisbar, dessen grösster Umfang 20.8 Ctm. gegen 22 der linken Seite beträgt. Die mechanische Erregbarkeit der Oberschen- kelmuskeln links erheblich gesteigert. – Beim Uriniren ist längeres Pressen erforderlich. – Cutis marmorata; keine Schweisse.
Dieselben Erscheinungen bot der Kranke am nächsten Tage, 12. Dezem-
ber, als er mehreren fremden Aerzten vorgestellt wurde. Das Phänomen der exzentrischen Sensation bei Druck auf die Nervenstämme war so ausgespro- chen, dass der Kranke wohl sicherer als mancher Arzt den Verlauf und die Endvertheilung seiner Nerven anzugeben wusste. Die verschiedene Lokali- sation der Haut- und Muskelhyperalgesie liess sich am besten am rechten Oberarme demonstriren, woselbst der M. pectoralis äusserst druckempfind- lich war, die Haut darüber aber auf Druck, Stich und Kneipen sich kaum schmerzempfindlich erwies – bei intakter Tastempfindlichkeit. Am Abend desselben Tages wurde Patient, der schon früher einmal beschimpfende Stimmen halluzinirt hatte, sehr aufgeregt, klagte, dass er von den anderen Kranken bedroht werde, sprang aus dem Bette, machte einige Schritte im Zimmer, legte sich dann nieder und weinte. Nachts soll er mehrere Anfälle von Schütteltremor der Beine gehabt haben.Am 13. Dezember benommen, Temp. 38.8, Puls 108, das Gesicht schmerzhaft verzogen, Schlucken erschwert. Nachts sehr unruhig.
Am 14. Dezember Morgens. Temp 39.5, Puls 104, Athmung langsam und oberflächlich. Stark benommen, die Augen geschlossen, die rechte Lid- spalte häufig etwas offen stehend. Die Sensibilität
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der Cornea ist erhalten, dagegen kann man die Sclera ohne Reaktion berühren. Lebhafte Pupillenreaktion, Schaum vor dem Munde, den er nur schwer ausspucken kann, beim Trinken kein fester Lippenschluss. Harn wird spontan gelassen. Abends fast komatös. Puls klein, aussetzend. Bei Klopfen auf den Stamm des N. facialis oder Reizung im Gesichte noch links schmerzliche Verziehung zu erzielen. Temp. 38. 5.
Am 15. Dezember Temp. 38.7–39.2, Puls 140–132. Die mittleren Dorsalwirbel sehr druckempfindlich.
Am 16. Dezember Temp. 38.7–39.4, Puls 180. Oberflächliche, be- schleunigte Athmung, Mund offenstehend, rechter Mundwinkel ganz herab- hängend. Reizung der linken Gesichtshaut erzeugt noch Reaktion, Klopfen auf die Patellarsehnen keinerlei Reflexphänomene. Beim Aufheben stösst der Kranke ein klägliches Geschrei aus, sonst komatös. Rechts hinten von der Mitte der Scapula ab gedämpfter Schall und Konsonanz.
Am 17. Dezember exitus letalis.
Die Diagnose wurde auf E n d o k a r d i t i s , P n e u m o n i e und N e u r i t i s m u l t i p l e x (Polyneuritis acuta) mit Sicherheit gestellt.
Zur Rechtfertigung der letzteren Annahme nur folgende Bemerkungen: Im Krankheitsbilde traten weit mehr solche Erscheinungen hervor, die als Rei- zungssymptome aufgefasst werden können; Lähmungssymptome spielten eine untergeordnete Rolle. Zu den ersteren sind zu rechnen: Schmerzen und Parästhesien längs einzelner Nerven, Hyperalgesie der Haut, Druckemp- findlichkeit der Muskeln und Nervenstämme mit exzentrischer Sensation, Steigerung der mechanischen und reflektorischen Erregbarkeit der Muskeln; zu den letzteren: die allgemeine Muskelschwäche, die Paresen des Oculo- motorius, des Facialis und Vagus (Heiserkeit, Schlingbeschwerden, Pulsbe- schleunigung) und die Dysurie. Als trophische Phänomene kommen hinzu: der allgemeine Muskelschwund (mit stärkerer Atrophie eines Oberarmes und der Zunge?), Schweissausbrüche, gelegentliches Hauterythem. Die Sensibi- lität war bis zum Ende intakt; dass der Kranke kurz vor seinem Tode unter dem Einflusse einer physischen Erregung aus dem Bette springen und mit seinen Gliedmassen agiren konnte, beweist das Fehlen einer eigentlichen Lähmung. Es war nun vor Allem die Lokalisation dieser Symptome im Ver- laufe der Erkrankung, welche eine Verlegung des Prozesses in’s Gehirn oder Rückenmark ausschloss. Es zeigten sich zunächst ergriffen das Gebiet des linken Trigeminus, woselbst die Hyperalgesie vom dritten Aste zum ersten fortschritt, und die obere Extremität; dann kam die Affektion beider unteren Extremitäten hinzu und endlich die der rechten oberen und einiger anderer Hirnnerven. Es war also keine der bekannten Typen, unter denen die Kör- perperipherie eine Erkrankung des nervösen Zentralorganes anzeigt, einge- halten; gegen eine Leptomeningitis cerebrospinalis war einzuwenden, dass bis zum Ausbruche der terminalen fieberhaften Erkrankung das Bewusstsein un- getrübt und grosse Partien des Rumpfes von der Affektion verschont waren. Während so die beiden Momente – das Vorwalten der Reizerscheinungen und die eigenthümliche Lokalisation – eine zentrale Erkrankung abweisen, deuten sie im Vereine mit den Phänomenen der Nerven- und Muskeldruck- empfindlichkeit darauf hin, dass in den Nerven selbst sich ein Prozess eta- blirt hat, dessen Folge das beobachtete Krankheitsbild ist. Der Anschluss an eine wahrscheinlich infektiöse Erkrankung (rheumatische Endokarditis), das Fortkriechen des Prozesses, die Erstreckung desselben auf Hirn- und Spinalnerven sind entscheidend, um unseren Fall unter die, insbesondere von L e y d e n (Verhandlungen des dritten Kongresses für innere Medizin 1884) aufgestellte Polyneuritis acuta zu subsumiren, deren Krankheitsbild nach den seit L e y d e n neu hinzugekommenen kasuistischen Beiträgen von der schlaffen atrophischen Lähmung mit Verlust der Reflexe, mit grösse- ren oder geringeren sensiblen Störungen bis zu einem Symptomenkomplexe wie in unserem Falle variiren kann. Immerhin würde unser Fall in der Reihe dieser Krankheitsbilder das dem L e y d e n ’schen Schema entgegengesetzte Endglied bilden. Weitere Erörterungen müssen bis nach Beendigung der his- tologischen Untersuchung aufgespart werden. Ich lasse noch den Sektionsbe- fund (Prof. K u n d r a t ) folgen, der die gestellte Diagnose bis in’s Einzelne bestätigt hat.
S e k t i o n s b e f u n d vom 19. Dezember 1884: Körper mittelgross, ziemlich kräftig, mager, blass. Kopfhaar dunkelbraun, Hals kräftig, Brustkorb ziemlich gewölbt, Unterleib gespannt. Mässig entwickelte Todten- starre. Schädel lang und breit, von 52 Ctm. Umfang, gewöhnlicher Dicke, kompakt, mit tiefen Impressionen an der Basis, seichteren an den Stirnbein- schuppen versehen, entsprechend grossen Pacchioni’schen Granulationen, auf der Scheitelhöhe verdünnt. Harte Hirnhaut mässig gespannt, normal; die inneren Hirnhäute ziemlich blutreich, bis in die feinsten venösen Reiser in- jizirt. Hirn leicht geschwellt, im Rinde wie Mark ziemlich blutreich, die Ge- fässe anscheinend erweitert. Ventrikel normal, ebenso Gefässe an der Basis.
D i e N i e r e n a n d e r B a s i s i n i h r e n S c h e i d e n l e i c h t i n j i z i r t . D e r l i n k e T r i g e m i n u s u n d Va - g u s , b e s o n d e r s e r s t e r e r , g r a u - r ö t h l i c h , a u f d e m D u r c h s c h n i t t e w i e z e r f a s e r t . A u c h d a s l i n k e G a n g l i o n G a s s e r i s e h r b l u t r e i c h , d u n k - l e r , g r a u v e r f ä r b t .
In der Luftröhre eitriger Schleim, die Luftröhrenschleimhaut blass. Beide Lungen in den vorderen Antheilen stark gedunsen, nach hinten blutreich, in den hintersten Antheilen des Unterlappens und im grössten Theile desselben in der Basis des Mittellappens schwarzroth, luftarm, stellenweise luftleer, von bis erbsengrossen, undeutlich gekörnten, blassrothen, infiltrirten Her- den durchsetzt. Die Bronchien dieser Partien von Eiter strotzend, in ihrer Schleimhaut dunkel geröthet.
Im Herzbeutel wenige Gramm Serum, das Herz mässig zusammengezo- gen, im linken Ventrikel leicht hypertrophirt. Die Bicuspidalklappen an ihrer
Oberfläche, entlang dem freien Rande, mit einer schwieligen, mit zartes- ten Granulationen besetzten Leiste versehen. Auch die Aortenklappen an Noduli und Schlusslinien leicht verdickt, an diesen Stellen mit einzelnen feinzottigen und körnigen Exkreszenzen versehen. Leber und Milz blutreich, ebenso Nieren. Magen und Darm normal.
S ä m m t l i c h e s p i n a l e N e r v e n i n i h r e n S c h e i - d e n i n j i z i r t , n a m e n t l i c h j e n e d e s u n t e r e n l i n k e n H a l s g e f l e c h t e s , g r a u - r o t h , m i t d u r c h s c h m a l e g r a u e S t r e i f e n d e u t l i c h h e r v o r t r e - t e n d e r B ü n d e l u n g . D i e R ü c k e n m a r k s h ä u t e b l u t r e i c h , d a s M a r k n o r m a l , i n d e r g r a u e n S u b s t a n z l e i c h t , i n d e n K ö p f e n d e r H i n t e r - h ö r n e r s t a r k g e r ö t h e t .
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