Akute multiple Neuritis der spinalen und Hirnnerven 1886-001/1886.2
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    Separatabdruck aus Ihr-. Wittelshöfer’s „Wiener lied. Wachenschrift.“
    (Nr. 6, 1886.)

    Akute multiple N euritis der spinalen und
    Hirnnerven.

    Von Dr. SIGM. FREUD, Dozent für Nervenkrankheiten in Wien.

    Als Sekundararzt im Allgemeinen Krankenhause hatte
    ich Gelegenheit, auf der IV. medizinischen Abtheilung des
    Herrn Primararztes Scholz einen K
    ranken von seinem Ein-
    tritte bis zum letalen Ende zu beobachten, welcher ein klas-
    sisches Bild der oben genannten interessanten und erst in
    neuester Zeit studirten Aflektion bot. Da nach der Mitthei-
    lung des pathologischen Anatomen ein Fall dieser Art in
    Wien vorher nicht zur Sektion gekommen ist, erlaube ich
    mir, an dieser Stelle die Krankengesehichte mitzutheilen
    und werde über die Resultate der mikroskopischen Unter-
    suchung des mir von Herrn Prof. Kundrat in reichem
    Maasse überlassenen Materials anderwärts berichten.

    H. Rudolf, sub J.-N. 18.928 aufgenommen am 3. Oktober
    1884, 18 Jahre alt, Bäckergehilfe, gibt an, dass er keine ernstere
    Erkrankung durchgemacht und sich bis vor 8 Tagen gesund ge-
    fühlt habe. Zu dieser Zeit seien ziehende Schmerzen und an-
    dauerndes Kältegefühl in beiden Beinen, Schmerzen im linken
    Knie, Druck und Beengung auf der Brust, sowie grosse Mattig-
    keit bei ihm aufgetreten; auch wären seine Füsse etwas ange-
    schwollen gewesen. Die Untersuchung beim Eintritte ergibt:
    Kräftiger Körperbau, gute Ernährung, Hautfarbe etwas blass, Tem-
    peratur normal, im Harn weder Eiweiss noch Zucker. Anschwel-
    lungen der Gelenke sind nicht zu konstatiren. Die inneren Organe
    mit Ausnahme des Herzens normal. Die Herzdämpfung mässig
    nach aussen und oben verbreitert, Herzstoss undeutlich, an der
    Herzspitze lautes systolisches Geräusch, sonst sehr dumpfe, Töne.
    Der Puls arythmisch, oft gruppensehlägig, die Pulsfrequenz im
    Mittel nicht vermehrt. Bis auf eine gewisse Erregtheit bietet der

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    Kranke keine objektiven nervösen Symptome. —— Natrium salicyl.,
    Bettruhe.

    13. Oktober. Keine Arythmie, (lumpfe Töne, Verbreiterung
    der Herzdämpfung noch nachweisbar.

    18. Oktober. Systole noch unrein. Pat. klagt über heftige
    Schmerzen im Nacken und Hinterkopf, über kriebelnde Empfindun-
    gen in den Fingern der linken Hand und grosses Schwächegefiihl.
    In den nächsten Tagen nehmen diese ärztlich noch nicht gehörig
    gewürdigten Symptome an Intensität zu. Es wird blos konstatirt,
    dass Druck auf die seitliche Halsgegend links und auf die Dorn—
    fortsätze der unteren Halswirbel sehr schmerzhaft wirkt.

    Am 29. Oktober wird der Kranke in grösserer Erregung,
    in Schweiss gebadet angetroffen und berichtet, dass er einen An—
    fall spontaner Zuckungen des rechten Beines gehabt habe. Die
    nun vorgenommene und am nächsten Tage vervollständigte Unter—
    suchung ergibt folgenden Status:

    Bewusstsein ungestört, der Körper, besonders die unteren
    Extremitäten, mit Schweiss bedeckt. Temperatur 37‘3, Puls regel-
    mässig, sehr beschleunigt, Herztöne matt. Pupillen weit, gleich,
    von ausgiebiger Reaktion. Der Hinterkopf Sitz spontaner drücken-
    der Schmerzen, Bewegung des Kopfes nach links schmerzhaft, an—
    dere Bewegungen frei. Weder im Gesichte noch an den Extremi-
    täten Zeichen einer motorischen Lähmung. Tastempfindlichkeit
    überall normal, selbst die feinsten Berührungen werden emptunden
    und. richtig lokalisirt. Die Reaktion des Kranken gegen schmerz-
    hafte Eingrifie im Allgemeinen verstärkt, doch sind nnverkennbar
    die Haut, Nervenstämme und Muskeln gewisser Körperregionen
    von besonderer Hyperalgesie befallen. Im Gesichte besteht linker-
    seits Hyperalgesie der Haut gegen Stich und besonders gegen
    Kneipen am Ohr, Kinn, Unterlippe (Haut und Schleimhaut), ebenso
    am Halse derselben (linken) Seite. Alle drei Austrittsstellen der
    Trigeminusendäste links auf Druck sehr schmerzempfindlich; rechts
    besteht im Gesichte weder Hyperalgesie der Haut noch der Nerven-
    stämme. Die Halswirbelsäule druckempfindlich bis zum 7. Dorn—
    fortsetze, dann die Brustwirbel vom 10. ab, die ganze Lenden-
    wirbelsäule und \ das Kreuzbein. Die ersten 10 Brustwirbel sind
    frei. An der linken oberen Extremität sind in exzessiver Weise
    druckempfindlich die Nervenstämme des Cervikalgefiechtes am Halse
    und die Armnerven an verschiedenen Stellen ihres Verlaufes (Me-
    dianus, Ulnaris, Radialis). Ganz leicht drückende Berührung der-
    selben wird mit schmerzhaften Verziehungen der Gesichtsmuskeln
    beantwortet, während dieselben Eingriffe auf der rechten Seite
    keine besondere Empfindung oder Reaktion wachrufen. Die Druck.
    empfindlichkeit ist am stärksten, wo die Nerven oberflächlich liegen

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    und beschränkt sich auf die Nervenstämmen entsprechenden Stellen.
    Die Haut des linken Armes nicht besonders hyperalgisch, da-
    gegen in hohem Grade die des rechten, dessen Nerven sich nicht
    druckempfindlich erwiesen. Drücken oder Kneipen des linken Mus-
    culus pectoralis sehr schmerzhaft, Während die Haut über demsel-
    ben keine vermehrte Empfindlichkeit zeigt.

    Die Haut der Vorderfläche des Rumpfes vom Schlüsselbein
    bis unter das Nabelniveau frei, am Rücken rechts ein bis zur
    hinteren Axillarlinie reichender hyperalgischer Bezirk.

    An den unteren Extremitäten die gesammte Muskulatur in
    ziemlicher Spannung. Beklopfen der Patellarsehne ruft rechterseits
    einen Schütteltremor des ganzen Beines hervor, der, sich allmälig
    verstärkcnd, bis eine Viertelminute anhält. Links erzeugt Beklo-
    pfen der Patellarsehne nur eine heftige Kontraktion, doch tritt
    dasselbe Schüttelphänomen ein, wenn der Kranke spontan das
    Bein hebt, was rechts nicht der Fall ist. Während des Schüttelns
    geräth das linke Bein in starke Streckkontraktur. Druck auf den
    N. cruralis hebt beiderseits das Schüttelphänomen auf. Die Schleu-
    reflexe sind gering, Cremasterenreflexe lebhaft, rechts stärker.
    Druck auf den N. cruralis beiderseits sehr schmerzhaft, ebenso
    auf den Ischiadicus unterhalb der Glutealtalte; Druck auf den
    N. peroneus und den N. tibialis hinter dem Malleolus internus
    nur links schmerzhaft. Die Haut der unteren Extremitäten überall
    hyperalgisch, die Muskeln nicht deutlich. —— Es bestehen keine
    Harn- oder Stuhlbeschwerden.

    Ein'Versuch elektrischer Prüfung der Nerven und Muskeln
    scheitert wie alle späteren an der Hyperästhesie des Kranken.
    Das Ophthalmoskop zeigt den Augenhintergrund normal, die Pa-
    pillen etwas hyperämisch.

    Am 30. Oktober drei solche Anfälle mit Schweissausbruch
    wie der gestrige. Dabei beschleunigte Athmung. — Der Kranke
    erhält Leiter’sche Kühler längs der Lendenwirbelsäule und über
    einige spontan schmerzende Partien der Extremitäten.

    Am 2. November etwas gebessert. Keine spontanen An-
    fälle. Der Schütteltremor des rechten Beines beim Hervorrufen
    des Patellarreflexes kürzer; das Bein geräth rasch in Streckkom
    traktur. Im Gesichte hat die Hyperalgesie auch das Gebiet des
    zweiten Trigeminusastes (Wange und Oberlippe) ergriffen.

    Am 4. November fühlt sich Pat. subjektiv leichter. Im Ge-
    sichte spontan ziehende Schmerzen. Tiefe Druckcmpfindlichkeit in
    beiden M. pectorales, biceps und im rechten Oberschenkel. Kriebeln
    und Kältcgefiihl hat seit Beginn der Erkrankung angehalten.

    Am 6. November Schweisse und Zuckungen der Beine,

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    jedoch schwächer; grösste Empfindlichkeit in den Muskeln des
    rechten Oberschenkels.

    Am 8. November der Patellarrefiex rechts gering, links
    das Schütteln bei willkürlicherßewegung erhalten. Leichtes Ery—
    them am Stamme. Die hyperalgische Zone am Rücken ist ge-
    wandert. Schmerzen an der Innenfläche des rechten Oberschenkels
    und ein Druckgefiihl links seitlich am Thorax sind neu aufgetreten.

    Am 10. November heftige spontane Schmerzen im linken
    Beine, Kopfschmerz bei Nacht. .Klagen über „Todtsein“ der Hände.
    Bei Druck auf die linken Armvenefibezeichnet der Kranke prickelnde
    Empfindungen in den entsprechenden Fingern.

    Am 21. November. In den letzten Tagen haben die Reiz-
    erscheinungen an der unteren Körperhälfte noch mehr nachgelassen,
    Reflex und Hyperalgesie daselbst sind gering. Dagegen sind der
    rechte Cervikalplexus und die rechten Armnerven sehr druck—
    empfindlich und spontan schmerzhaft geworden. Druck auf fast
    alle Nerven der Extremitäten wird längs des ganzen Verlautes
    derselben verspiirt. Die Gesichtshyperästhesie links geringer;
    Kopt- und. Nackenschmerzen sehr heftig, dazu Schmerzen im Halse
    beim Schlingen, Schwindelgefiihl, wenn Pat. den Kopf nach abwärts
    beugt. Die Muskeln ziemlich schlafi, die Ernährung derselben hat
    merklich gelitten, der Druck beider Hände sehr schwach; beim
    Versuche, zu gehen, knickt der Kranke zusammen, doch ist keine
    Störung einer bestimmten Bewegungsform oder der Koordination
    vorhanden. -

    Am 24. November. Der Kranke zeigt sich sehr aufgeregt,
    bezieht gleichgiltige Aeusserungen auf sich und beginnt, zu weinen.
    — Am empfindlichsten der linke M. pectoralis.

    Nach längerer Unterbrechung wird der Kranke am 11. De—
    zember wieder vorgenommen. Pat. in ungetriibtem Bewusstsein,
    aber weinerlicher Stimmung. Die Pupillen weit, linke weiter als
    rechte, beide reagiren auf Lichteinfall. Klagen über Doppeltsehen,
    besonders nach oben und beiderseits seitlich; Zurückbleiben des
    rechten M. internus ist deutlich und ebenso, dass die Beweglichkeit
    des linken Bulbus nach aufwärts eingeschränkt ist. Beim Sprechen
    fällt das lebhafte Spiel der Gesichtsmuskulatur auf, und Pat. be—
    klagt sich über eine gewisse Schwierigkeit beim Sprechen, sowie
    beim Schlingen. Dabei hängt der rechte Mundwinkel herab und
    wird bei mimischen Bewegungen, auch beim Zeigen der Zähne
    weniger innervirt. Im Rachen die linke Hälfte des weichen Grau-
    mens und die linken Gaumenbögen her-abhängend, beim Intoniren
    weniger gehoben. Alle Austrittsstellen des Trigeminus druck-
    empfindlich, am meisten die des N. mentalis sin. Die Gesichts—
    haut links gegen Stiche und Kneipen hyperästhetisch, angeblich

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    tobende Schmerzen im Gesichte und I-Iinterkopfe. Die Zunge wird
    gerade vorgestreckt, scheint aber dünner geworden zu sein und zeigt
    kontinuirliche fibrilläre Zuckungen. Die Stimme ist heiser und
    kraftlos. Geschmacksempfindung erhalten.

    Die Haut ist ausser an der linken Gesichtshälfte besonders
    liyperalgisch am Halse, über dem M. pectoralis und biceps sin.,
    am linken Handriicken und rückwärts über der rechten Scapula.
    Nicht hyperalgisch ist blos die Haut des Abdomens rechts vorn
    bis zur Höhe der Brustwarze und links hinten am Rumpfe. Ex—
    treme Schmerzhaftigkeit auf Druck! beider M. cucullares, Sterno—
    cleidomastoidei, aller Muskeln der oberen Extremitäten, besonders des
    linken M. biceps, geringere der unteren Extremitäten. Grosse Druck-
    empfindlichkeit aller Nerven der oberen und unteren Extremitäten
    mit exzentrischer Sensation bei leichtem Drucke. Druck auf den
    rechten N. ulnaris an seiner oberflächlichsten Stelle löst einen
    Sehiitteltremor des rechten Armes aus, ebenso Druck auf den lin—
    ken N. eruralis einen Schütteltremor des Beines in Streckkontraktur.
    Das Beklopfen der Patellarsehne erzeugt ebenfalls einen sehr hef-
    tigen Schiittelkrampf, besonders links, auf welcher Seite dann Beu—
    gung im Knie und. Abduktion der grossen Zehe eintritt. Die Plan—
    tarreflexe sind minimal. Alle Bewegungen sind kraftlos, obwohl
    nirgends eine vollständige Lähmung zu konstatiren ist. Die Druck-
    kraft der linken Hand am Dynamometer beträgt 10 Kilo, die der
    rechten ist kaum merklich. Allgemeine Abmagerung der Muskulatur;
    eine stärkere Atrophie ist am rechten Oberarme nachweisbar, dessen
    grösster Umfang 208 Ctm. gegen 22 der linken Seite beträgt.
    Die mechanische Erregbarkeit der Oberschenkelmuskeln links er-
    heblich gesteigert. — Beim Uriniren ist längeres Pressen erforder-
    lich. — Cutis marmorata; keine Schweisse.

    Dieselben Erscheinungen bot der Kranke am nächsten Tage,
    12. Dezember, als er mehreren fremden Aerzten vorgestellt wurde.
    Das Phänomen der exzentrischen Sensation bei Druck auf die
    Nervenstämme war so ausgesprochen, dass der Kranke wohl
    sicherer als mancher Arzt den Verlauf und die Endvertheilung
    seiner Nerven anzu'geben wusste. Die verschiedene Lokalisation der
    Haut- und. Muskelhyperalgesie liess sich am besten am rechten
    ()berarme demonstriren, woselhst der M. pectoralis äusse1st druck-
    empfindlich war, die Haut darüber aber amC Druck, Stich und
    Kneipen sich kaum schmerzempfindlich erwies — bei intakter Tast-
    empfindlichkeit. Am Abend desselben Tages wurde Patient, der
    schon früher einmal beschimpfende Stimmen halluzinirt hatte, sehr
    aufgeregt, klagte, dass er von den anderen Kranken bedroht werde,
    sprang aus dem Bette, machte einige Schritte im Zimmer, legte

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    sich dann nieder und weinte. Nachts soll er mehrere Anfälle von
    Schütteltremor der Beine gehabt haben.

    Am 13. Dezember benommen, Temp. 38'8, Puls 108, das
    Gesicht schmerzhaft verzogen, Schlucken erschwert. Nachts sehr
    unruhig. .
    Am 14. Dezember Morgens. Temp. 39°5, Puls 104, Athmung
    langsam und oberflächlich. Stark benommen, die Augen geschlossen,
    die rechte Lidspalte häufig etwas ofien stehend. Die Sensibilität
    der Cornea ist erhalten, dagegen kann man die Selera ohne Reak-
    tion berühren. Lebhafte Pupillenreaktion, Schaum vor dem Munde,
    den er nur schwer ausspuc-ken kann, beim Trinken kein fester
    Lippenschluss. Harn wird spontan gelassen. Abends fast komatös.
    Puls klein, aussetzend. Bei Klopfen auf den Stamm des N. facialis
    oder Reizung im Gesichte noch links schmerzliche Verziehung zu
    erzielen. Temp. 385.

    Am 15. Dezember Temp. 38'7—39'2, Puls 140—132. Die
    mittleren Dorsalwirbel sehr druckempfindlich.

    Am 16. Dezember Temp. 38'7—39'4, Puls 180. Oberfläch—
    liche, beschleunigte Athmung, Mund ofi‘enstehend, rechter Mund-
    Winkel ganz herabhängend. Reizung der linken Gesichtshaut er—
    zeugt noeh Reaktion, Klopfen auf die Patellarsehnen keinerlei
    Reflexphänomene. Beim Aufheben stösst der Kranke ein klägliches
    Geschrei aus, sonst komatös. Rechts hinten von der Mitte der
    Scapula ab gedämpfter Schall und Konsonanz.

    Am 17. Dezember exitus letalis.

    Die Diagnose wurde auf Endokarditis, Pneumonie und
    Neuritis multiplex (Polyneuritis acuta) mit Sicherheit gestellt.
    Zur Rechtfertigung der letzteren Annahme nur folgende Bemer-
    kungen: Im Krankheitsbilde traten weit mehr solche Erscheinungen
    hervor, die als Reizungssymptome aufgefasst werden können; Läh-
    mungssymptome spielten eine untergeordnete Rolle. Zu den ersteren
    sind zu rechnen: Schmerzen und Parästhesien längs einzelner Ner-
    ven, Hyperalgesie der Haut, Druckempfindlichkeit der Muskeln und
    Nervenstämme mit exzentrischer Sensation, Steigerung der mecha-
    nischen und reflektorischen Erregbarkeit der Muskeln; zu den letz—
    teren: die allgemeine Muskelschwäche, die Paresen des 001th-
    motorius, des Facialis und Vagus (Heiserkeit, Schlingbeschwerden,
    Pulsbeschleunigung) und die Dysurie. Als trophische Phänomene
    kommen hinzu: der allgemeine Muskelschwund (mit stärkerer
    Atrophie eines Oberarmes und der Zunge?), Schweissausbrüche,
    gelegentliches Hanterythem. Die Sensibilität war bis zum Ende
    intakt; dass der Kranke kurz vor seinem Tode unter dem Ein-
    flusse einer physischen Erregung aus dem Bette springen und mit
    seinen Gliedmassen agiren konnte, beweist das Fehlen einer eigent—

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    lichen Lähmung. Es war nun vor Allem die Lokalisation dieser
    Symptome im Verlaufe der Erkrankung, welche eine Verlegung
    des Prozesses in’s Gehirn oder Rückenmark ausschloss. Es zeigten
    sich zunächst ergrifi'en das Gebiet des linken Trigeminus, woselbst
    die Hyperalgeüe vom dritten Aste zum ersten fortschritt, und
    die obere Extremität; dann kam die Aflektion beider unteren Ex-
    tremitäten hinzu und endlich die der rechten oberen und einiger
    anderer Hirnnerven. Es war also keine der bekannten Typen,
    unter denen die Körperperipherie eine Erkrankung des nervösen
    Zentralorganes anzeigt, eingehalten; gegen eine Leptomeningitis
    cerebrospinalis war einzuwenden, dass bis zum Ausbruche der ter—
    minalen fieberhaften Erkrankung das Bewusstsein ungetriibt und
    grosse Partien des Rumptes von der Aflektion verschont waren.
    Während so die beiden Momente — das Vorwalten der Reiz-
    erscheinungen und die eigenthiimliche Lokalisation —— eine zentrale
    Erkrankung abweisen, deuten sie im Vereine mit den Phänomenen
    der Nerven- und Muskeldruckempfindlichkeit darauf hin, dass in
    den Nerven selbst sich ein Prozess etablirt hat, dessen Folge das
    beobachtete Krankheitsbild ist. Der Anschluss an eine wahrschein—
    lich infektiöse Erkrankung (rheumatische Endokarditis), das Fort—
    kriechen des Prozesses, die Erstreckung desselben auf Hirn- und
    Spinalnerven sind entscheidend, um unseren Fall unter die, ins-
    besondere von Leyden (Verhandlungen des dritten Kongresses fiir
    innere Medizin 1884) aufgestellte Polyneuritis acuta zu subsumiren,
    deren Krankheitsbild nach den seit Leyden neu hinzugekommenen
    kasuistischen Beiträgen von der schleifen atrophischen Lähmung
    mit Verlust der Reflexe, mit grösseren oder geringeren sensiblen
    Störungen bis zu einem Symptomenkomplexe wie in unserem Falle
    variiren kann. Immerhin wiirde unser Fall in der Reihe dieser
    Krankheitsbilder das dem Leyden’schen Schema entgegengesetzte
    Endglied bilden. Weitere Erörterungen müssen bis nach Beendigung
    der histologischen Untersuchung aufgespart werden. Ich lasse noch
    den Sektionsbetund (Prof. Kundrat) folgen, der die gestellte
    Diagnose bis in’s Einzelne bestätigt hat.

    Sektionsbefund vom 19. Dezember 1.884: Körper mittel-
    gross, ziemlich kräftig, mager, blass. Kopfhaar dunkelbraun, Hals
    kräftig, Brustkorb ziemlich gewölbt, Unterleib gespannt. Mässig
    entwickelte Todtenstarre. Schädel lang und breit, von 52 Ctm.
    Umfang, gewöhnlicher Dicke, kompakt, mit tiefen Impressionen an
    der Basis, seichteren an den Stirnbeinschuppen versehen, entspre-
    chend grossen Pacchioni’schen Granulationen, auf der Scheitelhöhe
    verdünnt. Harte Hirnhaut mässig gespannt, normal; die inneren
    Hirnhäute ziemlich blutreich, bis in die feinsten venösen Reiser inji-
    zirt. Hirn leicht geschwellt, in Rinde wie Mark ziemlich blutreich,

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    die Gefässe anscheinend erweitert. Ventrikel normal, ebens0.Gefässe
    an der Basis. « .

    Die-?Ei:e=r=eän- an der Basis in ihren Scheiden
    leicht injizirt. Der linke Trigeminus und Va-
    gus, besonders ersterer, grau—röthlich, auf
    dem Durchschnitte wie zerfasert. Auch das
    linke Ganglion Gasseri sehr blutreich, dunk-
    ler, grau veriärbt.

    In der Luftröhre eitriger Schleim, die Luftröhrenschleimhaut
    blass. Beide Lungen in den vorderen Antheilen stark gedunsen,
    nach hinten blutreich, in den hintersten Antheilen des Unterlappens
    und im grössten Theile desselben in der Basis des Mittellappens
    schwarzroth, luftarm, stellenweise luftleer, von bis erbsengrossen,
    undeutlich gekörnten‚ blassrothen, infiltrirten Herden durchsetzt.
    Die Bronchien dieser Partien von Eiter strotzend, in ihrer Schleim-
    haut dunkel geröthet.

    Im Herzbeutel wenige Gramm Serum, das Herz mässig
    zusammengezogen, im linken Ventrikel leicht hypertrophirt. Die
    Bicuspidalklappen an ihrer Oberfläche, entlang dem freien Rande,
    mit einer schwieligen, mit zartesten Granulationen besetzten Leiste
    versehen. Auch die Aortenklappen an Noduli und Sehlusslinien
    leicht verdickt, an diesen Stellen mit einzelnen teinzottigen und
    körnigen Exkreszenzen versehen. Leber und Milz blutreieh, ebenso
    Nieren. Magen und Darm normal.

    Sämmtliche spinale Nerven in ihren Schei-
    den injizirt, namentlich jene des unteren lin-
    ken Halsgeflechtes, gran-rofl], mit durch
    schmale graue Streifen deutlich hervortreten-
    der Bündelung. Die Rückenmarkshäute blut-
    reieh, das Mark normal, in der grauen Sub-
    stanz leicht, in den Köpfen der Hinterhörner
    stark geröthet.

    Druck der k. Wiener Zeitung. —— Selbstverlag des Verfassers.