„Über den Gegensinn der Urworte“ 1910-003/1913
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    DU CD, 6.4.2023

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    VI.

    „Über den Gegensinn der Urworte.“1)

    Referat über die gleichnamige Broschüre von Karl Abel, 1884.

    In meiner „Traumdeutung“ habe ich als unverstandenes
    Ergebnis der analytischen Bemühung eine Behauptung auf-
    gestellt, die ich nun zu Eingang dieses Referates wiederholen
    werde2):

    „Höchst auffällig ist das Verhalten des Traumes gegen
    die Kategorie von Gegensatz und Widerspruch. Dieser
    wird schlechtweg vernachlässigt. Das „Nein“ scheint für den
    Traum nicht zu existieren. Gegensätze werden mit besonderer
    Vorliebe zu einer Einheit zusammengezogen oder in einem
    dargestellt. Der Traum nimmt sich ja auch die Freiheit, ein
    beliebiges Element durch seinen Wunschgegensatz darzustellen,
    so daß man zunächst von keinem eines Gegenteils fähigen
    Elemente weiß, ob es in den Traumgedanken positiv oder negativ
    enthalten ist.“

    Die Traumdeuter des Altertums scheinen von der Vor-
    aussetzung, daß ein Ding im Traume sein Gegenteil bedeuten
    könne, den ausgiebigsten Gebrauch gemacht zu haben. Ge-
    legentlich ist diese Möglichkeit auch von modernen Traum-
    forschern, insofern sie dem Traume überhaupt Sinn und Deut- 

    1) Jahrbuch für psychoanalyt. und psychopathol. Forschungen. 
    Bd. II, 1910.

    2) Zweite Auflage, pag. 232, im Abschnitte VI: Die Traumarbeit.

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    barkeit zugestanden haben, erkannt1). Ich glaube auch keinen
    Widerspruch hervorzurufen, wenn ich annehme, daß alle die-
    jenigen die oben zitierte Behauptung bestätigt gefunden haben,
    welche mir auf den Weg einer wissenschaftlichen Traumdeutung
    gefolgt sind.

    Zum Verständnisse der sonderbaren Neigung der Traum-
    arbeit, von der Verneinung abzusehen und durch dasselbe Dar-
    stellungsmittel Gegensätzliches zum Ausdrucke zu bringen, bin
    ich erst durch die zufällige Lektüre einer Arbeit des Sprach-
    forschers K. Abel gelangt, welche, 1884 als selbständige
    Broschüre veröffentlicht, im nächsten Jahre auch unter die 
    „Sprachwissenschaftlichen Abhandlungen“ des Verfassers auf-
    genommen worden ist. Das Interesse des Gegenstandes wird es
    rechtfertigen, wenn ich die entscheidenden Stellen der Abelschen
    Abhandlung nach ihrem vollen Wortlaute (wenn auch mit Weg-
    lassung der meisten Beispiele) hier anführe. Wir erhalten nämlich
    die erstaunliche Aufklärung, daß die angegebene Praxis der
    Traumarbeit sich mit einer Eigentümlichkeit der ältesten uns
    bekannten Sprachen deckt. 

    Nachdem Abel das Alter der ägyptischen Sprache
    hervorgehoben, die lange Zeiten vor den ersten hierogly-
    phischen Inschriften entwickelt worden sein muß, fährt er fort
    (pag. 4):

    „In der ägyptischen Sprache nun, dieser einzigen Reliquie
    einer primitiven Welt, findet sich eine ziemliche Anzahl von
    Worten mit zwei Bedeutungen, deren eine das gerade Gegen-
    teil der andern besagt. Man denke sich, wenn man solch augen-
    scheinlichen Unsinn zu denken vermag, daß das Wort ‚stark’
    in der deutschen Sprache sowohl ‚stark’ als ‚schwach’ bedeute;
    daß das Nomen ‚Licht’ in Berlin gebraucht werde, um sowohl
    ‚Licht’ als ‚Dunkelheit’ zu bezeichnen; daß ein Münchener Bürger
    das Bier ‚Bier’ nännte, während ein anderer dasselbe Wort
    anwendete, wenn er vom Wasser spräche, und man hat die er-
    staunliche Praxis, welcher sich die alten Ägypter in ihrer Sprache
    gewohnheitsmäßig hinzugeben pflegten. Wem kann man es verargen,

    1) Siehe z. B. G. H. v. Schubert: Die Symbolik des Traumes, vierte 
    Auflage, 1862, Kap. 2. Die Sprache des Traumes.

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    wenn er dazu ungläubig den Kopf schüttelt? …“
    (Beispiele.)

    (S. 7): „Angesichts dieser und vieler ähnlicher Fälle
    antithetischer Bedeutung (siehe Anhang) kann es keinem
    Zweifel unterliegen, daß es in einer Sprache wenigstens eine
    Fülle von Worten gegeben hat, welche ein Ding und das
    Gegenteil dieses Dinges gleichzeitig bezeichneten. Wie er-
    staunlich es sei, wir stehen vor der Tatsache und haben damit
    zu rechnen.“

    Der Autor weist nun die Erklärung dieses Sachverhaltes
    durch zufälligen Gleichlaut ab und verwahrt sich mit gleicher
    Entschiedenheit gegen die Zurückführung desselben auf den
    Tiefstand der ägyptischen Geistesentwicklung:

    (S. 9): „Nun war aber Ägypten nichts weniger als eine
    Heimat des Unsinnes. Es war im Gegenteil eine der frühesten
    Entwicklungsstätten der menschlichen Vernunft … Es kannte
    eine reine und würdevolle Moral und hatte einen großen Teil
    der zehn Gebote formuliert, als diejenigen Völker, welchen die
    heutige Zivilisation gehört, blutdürstigen Idolen Menschenopfer
    zu schlachten pflegten. Ein Volk, welches die Fackel der Ge-
    rechtigkeit und Kultur in so dunklen Zeiten entzündete, kann
    doch in seinem alltäglichen Reden und Denken nicht geradezu
    stupid gewesen sein … Wer Glas machen und ungeheure Blöcke
    maschinenmäßig zu heben und zu bewegen vermochte, muß
    doch mindestens Vernunft genug gehabt haben, um ein Ding
    nicht für sich selbst und gleichzeitig für sein Gegenteil anzu-
    sehen. Wie vereinen wir es nun damit, daß die Ägypter sich
    eine so sonderbare kontradiktorische Sprache gestatteten? …
    daß sie überhaupt den feindlichsten Gedanken ein und denselben
    lautlichen Träger zu geben und das, was sich gegenseitig am
    stärksten opponierte, in einer Art unlöslicher Union zu verbinden
    pflegten?“

    Vor jedem Versuche einer Erklärung muß noch einer
    Steigerung dieses unbegreiflichen Verfahrens der ägyptischen
    Sprache gedacht werden. „Von allen Exzentrizitäten des ägypti-
    schen Lexikons ist es vielleicht die außerordentlichste, daß es,
    außer den Worten, die entgegengesetzte Bedeutungen in sich
     

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    vereinen, andere zusammengesetzte Worte besitzt, in denen zwei
    Vokabeln von entgegengesetzter Bedeutung zu einem Kompositum
    vereint werden, welches die Bedeutung nur eines von seinen
    beiden konstituierenden Gliedern besitzt. Es gibt also in
    dieser außerordentlichen Sprache nicht allein Worte, die sowohl
    ‚stark’ als ‚schwach’ oder sowohl ‚befehlen’ als ‚gehorchen’
    besagen; es gibt auch Komposita wie „altjung“, „fernnah“,
    „bindentrennen“, „außeninnen“ (…), die trotz ihrer, das
    Verschiedenste einschließenden Zusammensetzung das erste nur
    „jung“, das zweite nur „nah“, das dritte nur „verbinden“, das
    vierte nur „innen“ bedeuten … Man hat also bei diesen zu-
    sammengesetzten Worten begriffliche Widersprüche geradezu
    absichtlich vereint, nicht um einen dritten Begriff zu schaffen,
    wie im Chinesischen mitunter geschieht, sondern nur, um durch
    das Kompositum die Bedeutung eines seiner kontradiktori-
    schen Glieder, das allein dasselbe bedeutet haben würde, aus-
    zudrücken …

    Indes ist das Rätsel leichter gelöst, als es scheinen will.
    Unsere Begriffe entstehen durch Vergleichung. „Wäre es immer
    hell, so würden wir zwischen hell und dunkel nicht unterschei-
    den und demgemäß weder den Begriff noch das Wort der
    Helligkeit haben können …
    “ „Es ist offenbar, alles auf
    diesem Planeten ist relativ und hat unabhängige Existenz, nur
    insofern es in seinen Beziehungen zu und von anderen Dingen
    unterschieden wird …
    “ „Da jeder Begriff somit der
    Zwilling seines Gegensatzes ist, wie konnte er zuerst gedacht,
    wie konnte er anderen, die ihn zu denken versuchten, mitgeteilt
    werden, wenn nicht durch die Messung an seinem Gegen-
    satz? …
    “ (pag. 15): „Da man den Begriff der Stärke
    nicht konzipieren konnte, außer im Gegensatze zur Schwäche,
    so enthielt das Wort, welches „stark“ besagte, eine gleichzeitige
    Erinnerung an „schwach“, als durch welche es erst zum Dasein
    gelangte. Dieses Wort bezeichnete in Wahrheit weder „stark“ 
    noch „schwach“, sondern das Verhältnis zwischen beiden und
    den Unterschied beider, welcher beide gleichmäßig erschuf …

    Der Mensch hat eben seine ältesten und einfachsten Begriffe
    nicht anders erringen können als im Gegensatze zu ihrem
    Gegensatz, und erst allmählich die beiden Seiten der Antithese 

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    sondern und die eine ohne bewußte Messung an der andern
    denken gelernt.

    Da die Sprache nicht nur zum Ausdruck der eigenen Ge-
    danken, sondern wesentlich zur Mitteilung derselben an andere
    dient, kann man die Frage aufwerfen, auf welche Weise hat
    der „Urägypter“ dem Nebenmenschen zu erkennen gegeben,
    welche Seite des Zwitterbegriffes er jedesmal meinte“? In der
    Schrift geschah dies mit Hilfe der sogenannten „determinativen“
    Bilder, welche, hinter die Buchstabenzeichen gesetzt, den Sinn
    derselben angeben und selbst nicht zur Aussprache bestimmt
    sind. (pag. 18): „Wenn das ägyptische Wort ken „stark“ be-
    deuten soll, steht hinter seinem alphabetisch geschriebenen Laut
    das Bild eines aufrechten, bewaffneten Mannes; wenn dasselbe
    Wort „schwach“ auszudrücken hat, folgt den Buchstaben, die
    den Laut darstellen, das Bild eines hockenden, lässigen Men-
    schen. In ähnlicher Weise werden die meisten anderen zweideu-
    tigen Worte von erklärenden Bildern begleitet.
    “ In der Sprache
    diente nach Abels Meinung die Geste dazu, dem gesprochenen
    Worte das gewünschte Vorzeichen zu geben.

    Die „ältesten Wurzeln“ sind es, nach Abel, an denen die
    Erscheinung des antithetischen Doppelsinnes beobachtet wird.
    Im weiteren Verlaufe der Sprachentwicklung schwand nun diese
    Zweideutigkeit, und im Altägyptischen wenigstens lassen sich
    alle Übergänge bis zur Eindeutigkeit des modernen Sprach-
    schatzes verfolgen. „Die ursprünglich doppelsinnigen Worte
    legen sich in der späteren Sprache in je zwei einsinnige aus-
    einander, indem jeder der beiden entgegengesetzten Sinne je
    eine lautliche „Ermäßigung“ (Modifikation) derselben Wurzel
    für sich allein okkupiert.
    “ So z. B. spaltet sich schon im
    Hieroglyphischen selbst ken („starkschwach“) in ken „stark“
    und kan „schwach“. „Mit anderen Worten, die Begriffe, die
    nur antithetisch gefunden werden konnten, werden dem mensch-
    lichen Geiste im Laufe der Zeit genügend angeübt, um jedem
    ihrer beiden Teile eine selbständige Existenz zu ermöglichen
    und jedem somit seinen separaten lautlichen Vertreter zu ver-
    schaffen.

    Der fürs Ägyptische leicht zu führende Nachweis kontra-
    diktorischer Urbedeutungen läßt sich nach Abel auch auf die 

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    semitischen und indoeuropäischen Sprachen ausdehnen. „Wie
    weit dieses in anderen Sprachfamilien geschehen kann, bleibt
    abzuwarten; denn obschon der Gegensinn ursprünglich den
    Denkenden jeder Rasse gegenwärtig gewesen sein muß, so
    braucht derselbe nicht überall in den Bedeutungen erkennbar
    geworden oder erhalten zu sein.

    Abel hebt ferner hervor, daß der Philosoph Bain diesen
    Doppelsinn der Worte, wie es scheint, ohne Kenntnis der tat-
    sächlichen Phänomene aus rein theoretischen Gründen als eine
    logische Notwendigkeit gefordert hat. Die betreffende Stelle
    (Logic I, 54) beginnt mit den Sätzen:

    „The essential Relativity of all knowledge, thought or
    consciousness cannot but show itself in language. If everything
    that we can know is viewed as a transition from something
    else, every experience must have two sides; and either every
    name must have a double meaning, or else for every meaning
    there must be two names.“

    Aus dem „Anhang von Beispielen des ägyptischen, indo-
    germanischen und arabischen Gegensinnes
    “ hebe ich einige
    Fälle hervor, die auch uns Sprachunkundigen Eindruck
    machen können: Im Lateinischen heißt altus hoch und tief, 
    sacer heilig und verflucht, wo also noch der volle Gegensinn
    ohne Modifikation des Wortlautes besteht. Die phonetische Ab-
    änderung zur Sonderung der Gegensätze wird belegt durch
    Beispiele wie clamare schreien – clam leise, still; siccus 
    trocken – succus Saft. Im Deutschen bedeutet „Boden
    heute noch das Oberste wie das Unterste im Haus. Unserem 
    bös (schlecht) entspricht ein bass (gut), im Altsächsischen bat 
    (gut) gegen englisch bad (schlecht); im Englischen to lock 
    (schließen) gegen deutsch LückeLoch. Deutsch kleben –
    englisch to cleave (spalten); deutsch Stumm – Stimme usw.
    So käme vielleicht noch die vielbelachte Ableitung lucus a
    non lucendo
     zu einem guten Sinn.

    In seiner Abhandlung über den „Ursprung der Sprache“
    (l. c., pag. 305) macht Abel noch auf andere Spuren alter
    Denkmühen aufmerksam. Der Engländer sagt noch heute, um
    ohne“ auszudrücken, „without“, also „mitohne“ und ebenso
    der Ostpreuße. „With“ selbst, das heute unserem „mit“ entspricht, 

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    hat ursprünglich sowohl „mit“ als auch „ohne“ geheißen,
    wie noch aus „withdraw“ (fortgehen), „withhold“ (entziehen)
    zu erkennen ist. Dieselbe Wandlung erkennen wir im deut-
    schen „wider“ (gegen) und „wieder“ (zusammen mit).

    Für den Vergleich mit der Traumarbeit hat noch eine
    andere, höchst sonderbare Eigentümlichkeit der altägyptischen
    Sprache Bedeutung. „Im Ägyptischen können die Worte – wir
    wollen zunächst sagen, scheinbar – sowohl Laut wie Sinn
    umdrehen
    . Angenommen, das deutsche Wort gut wäre ägyp-
    tisch, so könnte es neben gut auch schlecht bedeuten, neben
    gut auch tug lauten. Von solchen Lautumdrehungen, die zu
    zahlreich sind, um durch Zufälligkeit erklärt zu werden, kann
    man auch reichliche Beispiele aus den arischen und semitischen
    Sprachen beibringen. Wenn man sich zunächst aufs Germani-
    sche beschränkt, merke man: Topf – pot, boat – tub, wait – 
    täuwen, hurry – Ruhe, care – reck, Balken – klobe, club.
     
    Zieht man die anderen indogermanischen Sprachen mit in Be-
    tracht, so wächst die Zahl der dazugehörigen Fälle entspre-
    chend, z. B.: capere – packen, ren – Niere, the leaf 
    (Blatt) – folium, dum‑a
     ϑυμος – Sansc. mêdh, mûdha, 
    Mut, Rauchen –
    Russ. Kur‑íti, kreischen – to shriek usw.

    Das Phänomen der Lautumdrehung sucht Abel aus
    einer Doppelung, Reduplikation der Wurzel zu erklären. Hier
    würden wir eine Schwierigkeit empfinden, dem Sprachforscher
    zu folgen. Wir erinnern uns daran, wie gerne die Kinder mit
    der Umkehrung des Wortlautes spielen, und wie häufig sich die
    Traumarbeit der Umkehrung ihres Darstellungsmaterials zu ver-
    schiedenen Zwecken bedient. (Hier sind es nicht mehr Buch-
    staben, sondern Bilder, deren Reihenfolge verkehrt wird.) Wir
    würden also eher geneigt sein, die Lautumdrehung auf ein tiefer
    greifendes Moment zurückzuführen1).

    In der Übereinstimmung zwischen der eingangs hervor-
    gehobenen Eigentümlichkeit der Traumarbeit und der von dem 

    1) Über das Phänomen der Lautumdrehung (Metathesis), welches zur
    Traumarbeit vielleicht noch innigere Beziehungen hat als der Gegensinn
    (Antithese), vgl. noch W. Meyer‑Rinteln in: Kölnische Zeitung vom
    7. März 1909.

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    Sprachforscher aufgedeckten Praxis der ältesten Sprachen dürfen
    wir eine Bestätigung unserer Auffassung vom regressiven, archai-
    schen Charakter des Gedankenausdruckes im Traume erblicken.
    Und als unabweisbare Vermutung drängt sich uns Psychiatern
    auf, daß wir die Sprache des Traumes besser verstehen und
    leichter übersetzen würden, wenn wir von der Entwicklung der
    Sprache mehr wüßten1).

    1) Es liegt auch nahe anzunehmen, daß der ursprüngliche Gegensinn
    der Worte den vorgebildeten Mechanismus darstellt, der von dem Verspre-
    chen zum Gegenteile im Dienste mannigfacher Tendenzen ausgenützt wird.