Zeitgemäßes über Krieg und Tod 1915-002/1918
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    XXVIII.
    ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD.”

    I. DIE ENTTÄUSCHUNG DES KRIEGES.

    Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig un-
    terrichtet, ohne Distanz von den großen Veränderungen, die
    sich bereits vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen,
    und ohne Witterung der sich gestaltenden Zukunft, werden
    wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns
    aufdrängen, und an dem Werte der Urteile, die wir bilden.
    Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis
    so viel kostbares Gemeingut der Menschheit zerstört, so viele
    der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe
    erniedrigt. Selbst die Wissenschaft hat ihre leidenschafts-
    lose Unparteilichkeit verloren; ihre aufs tiefste erbitterten
    Diener suchen ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag
    zur Bekämpfung des Feindes zu leisten, Der Anthropologe
    muß den Gegner für minderwertig und degeneriert erklären,
    der Psychiater die Diagnose seiner Geistes- oder Seelen-
    störung verkünden. Aber wahrscheinlich empfinden wir das
    Böse dieser Zeit unmäßig stark und haben kein Recht, es
    mit dem Bösen anderer Zeiten zu vergleichen, die wir nicht
    erlebt haben.

    *) Imago, IV, 1915. (Seither ins Holländische und Englische
    übersetzt.) ー

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    XXVIII. ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD. 487

    Der Einzelne, der nicht selbst ein Kämpfer und somit
    ein Partikelchen der riesigen Kriegsmaschinerie geworden ist,
    fühlt sich in seiner Orientierung verwirrt und in seiner
    Leistungsfähigkeit gehemmt. Ich meine, ihm wird jeder
    kleine Wink willkommen sein, der es ihm erleichtert, sich
    wenigstens in seinem eigenen Innern zurechtzufinden. Unter
    den Momenten, welche das seelische Elend der Daheimgeblie-
    benen verschuldet haben, und deren Bewältigung ihnen so
    schwierige Aufgaben stellt, möchte ich zwei hervorheben und
    an dieser Stelle behandeln: Die Enttäuschung, die dieser
    Krieg hervorgerufen hat, und die veränderte Einstellung zum
    Tode, zu der er uns — wie alle anderen Kriege — nótigt.

    Wenn ich von Enttäuschung rede, weiß jedermann sofort,
    was damit gemeint ist. Man braucht kein Mitleidsschwärmer
    zu sein, man kann die biologische und psychologische Not-
    wendigkeit des Leidens für die Ökonomie des Menschenlebens
    einsehen und darf doch den Krieg in seinen Mitteln und
    Zielen verurteilen und das Aufhören der Kriege herbeisehnen.
    Man sagte sich zwar, die Kriege könnten nicht aufhören,
    solange die Völker unter so verschiedenartigen Existenzbe-
    dingungen leben, solange die Wertungen des Einzellebens bei
    ihnen weit auseinandergehen, und solange die Gehässig-
    keiten, welche sie trennen, so starke seelische Triebkråfte
    repräsentieren, Man war also darauf vorbereitet, daß Kriege
    zwischen den primitiven und den zivilisierten Völkern, zwi-
    schen den Menschenrassen, die durch die Hautfarbe vonein-
    ander geschieden werden, ja Kriege mit und unter den wenig
    entwickelten oder verwilderten Völkerindividuen Europas die
    Menschheit noch durch geraume Zeit in Anspruch nehmen
    werden. Aber man getraute sich etwas anderes zu hoffen.
    Von den großen weltbeherrschenden Nationen weißer Rasse,

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    488 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.

    denen die Führung des Menschengeschlechtes zugefallen ist,
    die man mit der Pflege weltumspannender Interessen be-
    schåftigt wußte, deren Schópfungen die technischen Fort-
    schritte in der Beherrschung der Natur wie die kiinstlerischen
    und wissenschaftlichen Kulturwerte sind, von diesen Völkern
    hatte man erwartet, daß sie es verstehen würden, MiBhellig-
    keiten und Interessenkonflikte auf anderem Wege zum Aus-
    trage zu bringen. Innerhalb jeder dieser Nationen waren hohe
    sittliche Normen fiir den einzelnen aufgestellt worden, nach
    denen er seine Lebensführung einzurichten hatte, wenn er
    an der Kulturgemeinschaft teilnehmen wollte. Diese oft über-
    strengen Vorschriften forderten viel von ihm, eine ausgiebige
    Selbstbeschrånkung, einen weitgehenden Verzicht auf Trieb-
    befriedigung. Es war ihm vor allem versagt, sich der auBer-
    ordentlichen Vorteile zu bedienen, die der Gebrauch von Liige
    und Betrug im Wettkampfe mit den Nebenmenschen schafft.
    Der Kulturstaat hielt diese sittlichen Normen fiir die Grund-
    lage seines Bestandes, er schritt ernsthaft ein, wenn man
    sie anzutasten wagte, erklirte es oft fiir untunlich, sie auch
    nur einer Prüfung durch den kritischen Verstand zu unter-
    ziehen. Es war also anzunehmen, daß er sie selbst respek-
    tieren wolle und nichts gegen sie zu unternehmen gedenke,
    wodurch er der Begründung seiner eigenen Existenz wider-
    sprochen hätte, Endlich konnte man zwar die Wahrnehmung
    machen, daß es innerhalb dieser Kulturnationen gewisse ein-
    gesprengte Vólkerreste gäbe, die ganz allgemein unliebsam
    wären und darum nur widerwillig, auch nicht im vollen Um-
    fange, zur Teilnahme an der gemeinsamen Kulturarbeit zu-
    gelassen würden, fiir die sie sich als genug geeignet erwiesen
    hatten. Aber die großen Volker selbst, konnte man meinen,
    hätten so viel Verständnis fiir ihre Gemeinsamkeiten und so

    ペ ー

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    XXVIII. ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD. 489

    viel Toleranz für ihre Verschiedenheiten erworben, daß ,,fremd“
    und ,feindlich* nicht mehr wie noch im klassischen Alter-
    tume für sie zu einem Begriffe verschmelzen durften.
    Vertrauend auf diese Einigung der Kulturvôlker haben
    ungezáhlte Menschen ihren Wohnort in der Heimat gegen
    den Aufenthalt in der Fremde eingetauscht und ihre Existenz
    an die Verkehrsbeziehungen zwischen den befreundeten Vol-
    kern geknüpft. Wen aber die Not des Lebens nicht ständig
    an die námliche Stelle bannte, der konnte sich aus allen
    Vorzügen und Reizen der Kulturlånder ein neues größeres
    Vaterland zusammensetzen, in dem er sich ungehemmt und
    unverdåchtigt erging. Er genoB so das blaue und das graue
    Meer, die Schónheit der Schneeberge und die der grünen
    Wiesenflåchen, den Zauber des nordischen Waldes und die
    Pracht der südlichen Vegetation, die Stimmung der Land-
    schaften, auf denen große historische Erinnerungen ruhen,
    und die Stille der unberührten Natur. Dies neue Vaterland
    war für ihn auch ein Museum, erfüllt mit allen Schätzen,
    welehe die Künstler der Kulturmenschheit seit vielen Jahr-
    hunderten geschaffen und hinterlassen hatten. Während er
    von einem Saale dieses Museums in einen anderen wanderte,
    konnte er in parteiloser Anerkennung feststellen, was für ver-
    schiedene Typen von Vollkommenheit Blutmischung, Ge-
    schichte und die Eigenart der Mutter Erde an seinen wei-
    teren Kompatrioten ausgebildet hatten. Hier war die kühle
    unbeugsame Energie aufs hóchste entwickelt, dort die gra-
    zióse Kunst, das Leben zu verschónern, anderswo der Sinn
    für Ordnung und Gesetz oder andere der Eigenschaften, die
    den Menschen zum Herrn der Erde gemacht haben.
    Vergessen wir auch nicht daran, daf jeder Kulturwelt-
    büvger sich einen besonderen „Parnaß“ und eine „Schule von

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    490 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.

    Athen" geschaffen hatte. Unter den großen Denkern, Dich-
    tern, Künstlern aller Nationen, hatte er die ausgewählt, denen
    er das Beste zu schulden vermeinte, was ihm an LebensgenuB
    und Lebensverståndnis zugånglich geworden war, und sie den
    unsterblichen Alten in seiner Verehrung zugesellt wie den
    vertrauten Meistern seiner eigenen Zunge. Keiner von diesen
    Großen war ihm darum fremd erschienen, weil er in anderer
    Sprache geredet hatte, weder der unvergleichliche Ergriinder
    der menschlichen Leidenschaften, noch der schônheitstrun-
    kene Schwårmer oder der gewaltig drohende Prophet, der
    feinsinnige Spôtter, und niemals warf er sich dabei vor, ab-
    trünnig geworden zu sein der eigenen Nation und der ge-
    liebten Muttersprache.

    Der Genuß der Kulturgemeinschaft wurde gelegentlich
    durch Stimmen gestort, welche warnten, daB infolge altiiber-
    kommener Differenzen Kriege auch unter den Mitgliedern
    derselben unvermeidlich wären. Man wollte nicht daran glau-
    ben, aber wie stellte man sich einen solchen Krieg vor, wenn
    es dazu kommen sollte? Als eine Gelegenheit die Fortschritte
    im Gemeingefühle der Menschen aufzuzeigen seit jener Zeit,
    da die griechischen Amphiktyonien verboten hatten, eine dem
    Bündnisse angehórige Stadt zu zerstören, ihre Olbåume um-
    zuhauen und ihr das Wasser abzuschneiden. Als einen ritter-
    lichen Waffengang, der sich darauf beschrånken wollte, die
    Überlegenheit des einen Teiles festzustellen, unter môglich-
    ster Vermeidung schwerer Leiden, die zu dieser Entscheidung
    nichts beitragen könnten, mit voller Schonung fiir den Ver-
    wundeten, der aus dem Kampfc ausscheiden muß, und für
    den Arzt und Pfleger, der sich seiner Herstellung widmet.
    Natürlich mit allen Riicksichten für den nicht kriegführen-
    den Teil der Bevölkerung, fiir die Frauen, die dem Kriegs-

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    XXVIH. ZEITGEMÅSSES UBER KRIEG UND TOD, 491

    handwerk ferne bleiben, und für die Kinder, die, herange-
    wachsen, cinander von beiden Seiten Freunde und Mithelfer
    werden sollen. Auch mit Erhaltung all der internationalen
    Unternehmungen und Institutionen, in denen sich die Kul-
    turgemeinschaft der Friedenszeit verkorpert hatte.

    Ein solcher Krieg hätte immer noch genug des Schreck-
    lichen und schwer zu Ertragenden enthalten, aber er håtte
    die Entwicklung ethischer Beziehungen zwischen den Grof-
    individuen der Menschheit, den Völkern und Staaten, nicht
    unterbrochen.

    Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun
    aus und er brachte die — Enttäuschung. Er ist nicht nur
    blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, in-
    folge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes
    und dez Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam,
    erbittert, schonungslos wie irgend ein früherer. Er setzt sich
    über alle Einschránkungen hinaus, zu denen man sich in
    friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht ge-
    nannt hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des Verwundeten
    und des Arztes, die Unterscheidung des friedlichen und des
    kümpfenden "Teiles der Bevölkerung, die Ansprüche des Pri-
    vateigentumes. Er wirft nieder, was ihm im Wege steht, in
    blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden
    unter den Menschen nach ihm geben. Er zerreiüt alle Bande
    der Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern
    und droht eine Erbitterung zu hinterlassen, welche eine Wie-
    deranknüpfung derselben für lange Zeit unmóglich machen
    wird.

    Er brachte auch das kaum begreifliche Phänomen zum
    Vorscheine, daß die Kulturvólker einander so wenig kennen
    und verstehen, daB sich das eine mit Haß und Abscheu

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    492 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    gegen das andere wenden kann. Ja, daß eine der großen
    Kulturnationen so allgemein miBliebig ist, daß der Versuch
    gewagt werden kann, sie als „barbarisch* von der Kultur-
    gemeinschaft auszuschließen, obwohl sie ihre Eignung durch
    die großartigsten Beitragsleistungen längst erwiesen hat. Wir
    leben der Hoffnung, eine unparteiische Geschichtsschreibung
    werde den Nachweis erbringen, daß gerade diese Nation, die.
    in deren Sprache wir schreiben, für deren Sieg unsere Lieben
    kämpfen, sich am wenigsten gegen die Gesetze der mensch-
    lichen Gesittung vergangen habe, aber wer darf in solcher
    Zeit als Richter auftreten in eigener Sache?

    Völker werden ungefähr durch die Staaten, die sie bil-
    den, repräsentiert; diese Staaten durch die Regierungen, die
    sie leiten. Der einzelne Volksangehörige kann in diesem
    Kriege mit Schrecken feststellen, was sich ihm gelegentlich
    schon in Friedenszeiten aufdrängen wollte, daB der Staat
    dem Einzcinen den Gebrauch des Unrechtes untersagt hat,
    nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopoli-
    sieren will wie Salz und Tabak. Der kriegfihrende Staat
    gibt sich jedes Unrecht, jede Gewalttåtigkeit frei, die den
    Linzelnen entehren würde. Er bedient sich nicht nur der
    erlaubten List, sondern auch der bewuBten Liige und des
    absichtlichen Betruges gegen den Feind, und dies zwar in
    einem Mafe, welches das in friiberen Kriegen Gebråuchliche
    zu übersteigen scheint. Der Staat fordert das AuBerste an
    Gehorsam und Aufopferung von seinen Bürgern, entmiindigt
    sie aber dabei durch ein Ubermaf von Verheimlichung und
    eine Zensur der Mitteilung und Meinungsäußerung, welche
    die Stimmung der so intellektuell Unterdriickten wehrlos
    macht gegen jede ungiinstige Situation und jedes wiiste Ge-
    rücht. Er låst sich los von Zusicherungen und Verträgen,

  • S.

    XXVIII. ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD. 493

    durch dic er sich gegen andere Staaten gebunden hatte, be-
    kennt sich ungescheut zu seiner Habgier und seinem Macht-
    streben, die dann der Einzelne aus Patriotismus gutheiBen soll.

    Man wende nicht ein, daß der Staat auf den Gebrauch
    des Unrechtes nicht verzichten kann, weil er sich dadurch
    in Nachteil setzte. Auch fiir den Einzelnen ist die Befolgung
    der sittlichen Normen, der Verzicht auf brutale Machtbe-
    tåtigung in der Regel sehr unvorteilhaft, und der Staat zeigt
    sich nur selten dazu fåhig, den Einzelnen fir das Opfer zu
    entschådigen, das er von ihm gefordert hat. Man darf sich
    auch nicht dariiber verwundern, daf die Lockerung aller sitt-
    lichen Beziehungen zwischen den GroBindividuen der Mensch-
    heit eine Rückwirkung auf die Sittlichkeit der Einzelnen ge-
    äußert hat, denn unser Gewissen ist nicht der unbeugsame
    Richter, für den die Ethiker es ausgeben, es ist in seinem
    Ursprunge „soziale Angst“ und nichts anderes. Wo die
    Gemeinschaft den Vorwurf aufhebt, hort auch die Unter-
    drückung der bósen Gelüste auf, und die Menschen begehen
    Taten von Grausamkeit, Tücke, Verrat und Roheit, deren
    Möglichkeit man in ihrem kulturellen Niveau für unvereinbar
    gehalten hätte.

    So mag der Kulturweltbürger, den ich vorhin eingeführt
    habe, ratlos dastehen in der ihm fremd gewordenen Welt,
    sein großes Vaterland zerfallen, die gemeinsamen Besitztümer
    verwüstet, die Mitbürger entzweit und erniedrigt!

    Zur Kritik seiner Enttäuschung wäre einiges zu bemer-
    ken. Sic ist, strenge genommen, nicht berechtigt, denn sie
    besteht in der Zerstörung einer Illusion, Illusionen emp-
    fehlen sich uns dadurch, daß sie Unlustgefühle ersparen und
    uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir miis«
    sen es dann ohne Klage hinnehmen, daß sie irgend einmal

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    494 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    mit einem Stücke der Wirklichkeit zusämmenstoßen, an dem
    sie zerschellen.

    Zweierlei in diesem Kriege hat unsere Enttäuschung rege
    gemacht: die geringe Sittlichkeit der Staaten nach außen,
    die sich nach innen als die Wåchter der sittlichen Normen
    gebården, und die Brutalität im Benehmen der Einzelnen,
    denen man als Teilnehmer an der höchsten menschlichen
    Kultur åbnliches nicht zugetraut hat. 2

    Beginnen wir mit dem zweiten Punkte und versuchen
    wir es, die Anschauung, die wir kritisieren wollen, in einen
    einzigen knappen Satz zu fassen. Wie stellt man sich denn
    eigentlich den Vorgang vor, durch welchen ein einzelner Mensch
    zu einer höheren Stufe von Sittlichkeit gelangt? Die erste
    Antwort wird wohl lauten: Er ist eben von Geburt und von
    Anfang an gut und edel. Sie soll hier weiter nicht berück-
    sichtigt werden. Eine zweite Antwort wird auf die Anregung
    eingehen, daß hier ein Entwicklungsvorgang vorliegen müsse;
    und wird wohl annehmen, diese Entwicklung bestehe darin,
    daß die bôsen Neigungen des Menschen in ihm ausgerottet
    und unter dem Einflusse von Erziehung und Kulturumgebung
    durch Neigungen zum Guten ersetzt werden. Dann darf man
    sich allerdings verwundern, daß bei dem so Erzogenen das
    Böse wieder so tatkräftig zum Vorschein kommt.

    Aber diese Antwort. enthält auch den Satz, dem wir
    widersprechen wollen, In Wirklichkeit gibt es keine „Aus-
    rottung“ des.Bösen. Die psychologische — im strengeren
    Sinne die psychoanalytische — Untersuchung zeigt vielmehr,
    daß das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen be-
    steht, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig
    sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Be-
    dürfnisse zielen. Diese Triebregungen sind an sich weder

  • S.

    XXVIII. ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD. 495

    gut noch Lose. Wir klassifizieren sie und ihre Äußerungen
    in solcher Weise, je nach ihrer Beziehung zu den Bediirf-
    nissen usd Anforderungen der menschlichen Gemeinschaft.
    Zugegeben ist, daB alle die Regungen, welche von der Ge-
    sellschaft als böse verpónt werden — nehmen wir als Ver-
    tretung derselben die eigensiichtigen: und die grausamen —
    sich unter diesen primitiven befinden.

    Diese primitiven Regungen legen einen langen Entwick-
    lungsweg zurück, bis sie zur Betätigung beim Erwachsenen
    zugelassen werden. Sie werden gehemmt, auf andere Ziele
    und Gebiete gelenkt, gehen Verschmelzungen miteinander
    ein, wechseln ihre Objekte, wenden sich zum Teile gegen die
    eigene Person. Reaktionsbildungen gegen gewisse Triebe tåu-
    schen die inhaltliche Verwandlung derselben vor, als ob aus
    Egoismus — Aitruismus, aus Grausamkeit — Mitleid gewor-
    den wäre, Diesen Reaktionsbildungen kommt zugute, daß
    manche Triebregungen fast von Anfang an in Gegensatz-
    paaren auftreten, ein sehr merkwürdiges und der populären
    Kenntnis fremdes Verhältnis, das man die ,,Gefiihlsambivalenz“
    benannt hat. Am leichtesten zu beobachten und vom Verstånd-
    mis zu bewiltigen ist die Tatsache, daf starkes Lieben und
    starkes Hassen so häufig miteinander bei derselben Person
    vereint vorkommen. Die Psychoanalyse fügt dem zu, daß
    die beiden entgegengesetzten Gefühlsregungen nicht selten
    auch die nåmliche Person zum Objekte nehmen.

    Erst nach Überwindung all solcher „Triebschicksale*
    stellt sich das heraus, was man den Charakter eines Men-
    schen nennt, und was mit „gut“ oder „böse“ bekanntlich nur
    sehr unzureichend klassifiziert werden kann. Der Mensch ist
    selten im ganzen gut oder böse, meist „gut“ in dieser Rela-
    tion, böse in einer anderen oder „gut“ unter solchen äußeren

  • S.

    496 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Bedingungen, unter anderen entschieden „böse“. Interessant
    ist die Erfahrung, daß die kindliche Pråexistenz starker
    „böser“ Regungen oft geradezu die Bedingung wird fir eine
    besonders deutliche Wendung des Erwachsenen zum ,,Gu-
    ten“. Die stärksten kindlichen Egoisten können die hilfreich-
    sten und aufopferungsfähigsten Bürger werden; die meisten
    Mitleidsschwärmer, Menschenfreunde, Tierschützer haben sich
    aus kleinen Sadisten und Tierquälern entwickelt.

    Die Umbildung der „bösen“ Triebe ist das Werk zweier
    im. gleichen Sinne wirkenden Faktoren, eines inneren pnd
    eines äußeren. Der innere Faktor besteht in der Beeinflussung
    der bösen — sagen wir: eigensüchtigen — Triebe durch die
    Erotik, das Liebesbedürfnis des Menschen im weitesten Sinne
    genommen, Durch die Zumischung der erotischen Kom-
    ponenten werden die eigensüchtigen Triebe in soziale um-
    gewandelt. Man lernt das Geliebtwerden als einen Vorteil
    schätzen, wegen dessen man auf andere Vorteile verzichten
    darf. Der äußere Faktor ist der Zwang der Erziehung, welche
    die Ansprüche der kulturellen Umgebung vertritt, und die
    dann durch die direkte Einwirkung des Kulturmilieus fort-
    gesetzt wird. Kultur ist durch Verzicht auf Triebbefriedigung
    gewonnen worden und fordert von jedem neu Ankommenden,
    daß er denselben Triebverzicht leiste. Während des indivi-
    duellen Lebens findet cine beständige Umsetzung von äußerem
    Zwange in inneren Zwang statt. Die Kultureinflüsse leiten
    dazu an, daß immer mehr von den eigensüchtigen Strebungen
    durch erotische Zusätze in altruistische, soziale verwandelt
    werden. Man darf endlich annehmen, daß aller innere Zwang,
    der sich in der Entwicklung des Menschen geltend macht,
    ursprünglich, d. h. in der Menschheitsgeschichte nur
    äußerer Zwang war. Dic Menschen, die heute geboren werden,

  • S.

    XXVIII. ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD. 497

    bringen ein Stück Neigung (Disposition) zur Umwandlung
    der egoistischen in soziale Triebe als ererbte Organisation
    mit, die auf leichte Anstöße hin diese Umwandlung durch-
    führt. Ein anderes Stück dieser Triebumwandlung muß im
    Leben selbst geleistet werden. In solcher Art steht der ein-
    zelne Mensch nicht nur unter der Einwirkung seines gegen-
    würtigen Kulturmilieus, sondern unterliegt auch dem Einflusse
    der Kulturgeschichte seiner Vorfahren.

    Heifen wir die einem Menschen zukommende Fähigkeit
    zur Umbildung der egoistischen Triebe unter dem Einflusse
    der Erotik seine Kultureignung, so können wir aus-
    sagen, daß dieselbe aus zwei Anteilen besteht, einem ange-
    borenen und einem im Leben erworbenen, und daß das Ver-
    hältnis der beiden zueinander und zu dem unverwandelt ge-
    bliebenen Anteile des Trieblebens ein sehr variables ist.

    Im allgemeinen sind wir geneigt, den angeborenen Anteil
    zu hoch zu veranschlagen, und überdies laufen wir Gefahr,
    die gesamte Kultureignung in ihrem Verhältnisse zum pri-
    mitiv gebliebenen Triebleben zu überschätzen, d. h. wir wer-
    den dazu verleitet, die Menschen „besser“ zu beurteilen, als
    sie in Wirklichkeit sind. Es besteht nämlich noch ein an-
    deres Moment, welches unser Urteil trübt und das Ergebnis
    im günstigen Sinne verfälscht.

    Die Triebregungen eines anderen Menschen sind unserer
    Wahrnehmung natürlich entrückt. Wir schließen auf sie aus
    seinen Handlungen und seinem Benehmen, welche wir auf
    Motive aus seinem Triebleben zurückführen. Ein solcher
    Schluß geht notwendigerweise in einer Anzahl von Fällen
    irre. Die nämlichen, kulturell „guten“ Handlungen können
    das einemal von „edlen“ Motiven herstammen, das andere-
    mal nicht. Die theoretischen Ethiker heißen nur solche

    Freud, Neurosenlehre. IV. 32

  • S.

    498 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. 1V.

    Handlungen „gut“, welche der Ausdruck guter Triebregungen
    sind, dem anderen versagen sie ihre Anerkennung, Die von
    praktischen Absichten geleitete Gesellschaft kümmert sich
    aber im ganzen um diese Unterscheidung nicht; sie begnügt
    sich damit, daß ein Mensch sein Benehmen und seine Hand-
    lungen nach den kulturellen Vorschriften richte, und fragt
    wenig nach seinen Motiven.

    Wir haben gehört, daß der äußere Zwang, den Er-
    ziehung und Umgebung auf den Menschen üben, eine weitere
    Umbildung seines Trieblebens zum Guten, eine Wendung vom
    Egoismus zum Altruismus herbeiführt. Aber dies ist nicht
    die notwendige oder regelmäßige Wirkung des äußeren Zwan-
    ges. Erziehung und Umgebung haben nicht nur Liebesprå-
    mien anzubieten, sondern arbeiten auch mit Vorteilspråmien
    anderer Art, mit Lohn und Strafen. Sie kénnen also die Wir-
    kung äußern, daß der ihrem Einflusse Unterliegende sich
    zum guten Handeln im kulturellen Sinne entschlieBt, ohne
    daß sich eine Triebveredlung, eine Umsetzung egoistischer
    in soziale Neigungen, in ihm vollzogen hat. Der Erfolg wird
    im groben derselbe sein; erst unter besonderen Verhältnissen
    wird es sich zeigen, daß der eine immer gut handelt, weil
    ihn seine Triebneigungen dazu nötigen, der andere nur gut
    ist, weil, insolange und insoweit dies kulturelle Verhalten
    seinen eigensüchtigen Absichten Vorteile bringt. Wir aber
    werden bei oberflåchlicher Bekanntschaft mit den Einzelnen
    kein Mittel haben, die beiden Fälle zu unterscheiden, und
    gewiß durch unseren Optimismus verführt werden, die
    Anzahl der kulturell veränderten Menschen arg zu über-
    schätzen. :

    Die Kulturgesellschaft, die die gute Handlung fordert
    und sich um die Triebbegriindung derselben nicht kiimmert;

  • S.

    XXVIII. ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD. 499

    hat also eine große Zahl von Menschen zum Kulturgehorsam
    gewonnen, die dabei nicht ihrer Natur folgen. Durch diesen
    Erfolg ermutigt, hat sie sich verleiten lassen, die sittlichen
    Anforderungen möglichst hoch zu spannen und so ihre Teil:
    nehmer zu noch weiterer Entfernung von ihrer Triebveran-
    lagung gezwungen. Diesen ist nun eine fortgesetzte Trieb-
    unterdrückung auferlegt, deren Spannung sich in den merk-
    würdigsten Reaktions- und Kompensationserschcinungen kund-
    gibt. Auf dem Gebiete der Sexualität, wo solche Unter:
    drückung am wenigsten durchzuführen ist, kommt es so zu
    den Reaktionserscheinungen der neurotischen "Erkrankungen.
    Der sonstige Druck der Kultur zeitigt zwar keine pathologi-
    sche Folgen, äußert sich aber in Charakterverbildungen und
    in der steten Bereitschaft der gehemmten Triebe, bei passen-
    der Gelegenheit zur Befriedigung durchzubrechen. "Wer so
    genótigt wird, dauernd im Sinne von Vorschriften zu reagieren,
    die nicht der Ausdruck seiner Triebneigungen sind, der lebt,
    psychologisch verstanden, über seine Mittel und darf objek-
    tiv als Heuchler bezeichnet werden, gleichgültig ob ihm diese
    Differenz klar bewußt worden ist oder nicht. Es ist unleug-
    bar, daf unsere gegenwirtige Kultur die Ausbildung dieser
    Art von Heuchelei in auBerordentlichem Umfange begünstigt.
    Man könnte die Behauptung wagen, sie sei auf solcher Heu-
    chelei aufgebaut und müßte sich tiefgreifende Abünderungen
    gefallen lassen, wenn es die Menschen unternehmen würden,
    der psychologischen Wahrheit nachzuleben. Es gibt also un-
    gleich mehr Kulturheuchler als wirklich kulturelle Menschen,
    ja man kann den Standpunkt diskutieren, ob ein gewisses
    Maß von Kulturheuchelei nicht zur Aufrechterhaltung der
    Kultur unerliBlich sei, weil die bereits organisierte Kultur-
    eignung der heute lebenden Menschen vielleicht für diese
    52e

  • S.

    500 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV,

    Leistung nicht zureichen würde. Anderseits bietet die Auf-
    rechterhaltung der Kultur auch auf so bedenklicher Grund-
    lage die Aussicht, bei jeder neuen Generation eine weiter-
    gehende Triebumbildung als Trågerin einer besseren Kultur
    anzubahnen.

    Den bisherigen Erôrterungen entnehmen wir bereits den
    einen Trost, daß unsere Krånkung und schmerzliche Ent-
    tåuschung wegen des unkulturellen Benehmens unserer Welt-
    mitbiirger in diesem Kriege unberechtigt waren. Sie beruhten
    auf einer Illusion, der wir uns gefangen gaben. In Wirklich-
    keit sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil
    sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wirs von ihnen
    glaubten. Daß die menschlichen GroBindividuen, die Völker
    und Staaten, die sittlichen Beschränkungen gegeneinander
    fallen ließen, wurde ihnen zur begreiflichen Anregung, sich
    für eine Weile dem bestehenden Drucke der Kultur zu ent-
    ziehen und ihren zurückgehaltenen Trieben vorübergehend
    Befriedigung zu gönnen. Dabei geschah ihrer relativen Sitt-
    lichkeit innerhalb des eigenen Volkstumes wahrscheinlich kein
    Abbruch.

    Wir können uns aber das Verständnis der Veränderung,
    die der Krieg an unseren früheren Kompatrioten zeigt, noch
    vertiefen und empfangen dabei eine Warnung, kein Unrecht
    an ihnen zu begehen. Seelische Entwicklungen besitzen näm-
    lich eine Eigentümlichkeit, welche sich bei keinem anderen
    Entwicklungsvorgang mehr vorfindet. Wenn ein Dorf zur
    Stadt, ein Kind zum Manne heranwächst, so gehen dabei
    Dorf und Kind in Stadt und Mann unter. Nur die Erinnerung.
    kann die alten Züge in das neue Bild einzeichnen; in Wirk-
    lichkeit sind die alten Materialien oder Formen beseitigt und
    durch neue ersetzt worden. Anders geht es bei einer seelischen

  • S.

    XXVIII. ZEITGEMÁSSES UBER KRIEG UND TOD. 501

    Entwicklung zu. Man kann den nicht zu vergleichenden Sach-
    verhalt nicht anders beschreiben als durch die Behauptung,
    daß jede frühere Entwicklungsstufe neben der späteren, die
    aus ihr geworden ist, erhalten bleibt; die Sukzession bedingt
    eine Koexistenz mit, obwohl es doch dieselben Materialien.
    sind, an denen die ganze Reihenfolge von Veränderungen ab-
    gelaufen. ist. Der frühere seelische Zustand mag sich jahre-
    lang nicht geäußert haben, er bleibt doch soweit bestehen,
    daß er eines Tages wiederum die Äußerungsform der seeli-
    schen Kräfte werden kann, und zwar die einzige, als ob alle
    späteren Entwicklungen annulliert, rückgängig gemacht wor-
    den wären, Diese außerordentliche Plastizität der seelischen
    Entwicklungen ist in ihrer Richtung nicht unbeschränkt;
    man kann sie als eine besondere Fähigkeit zur Rückbildung
    — Regression — bezeichnen, denn es kommt wohl vor, daß
    eine spätere und höhere Entwicklungsstufe, die verlassen
    wurde, nicht wieder erreicht werden kann. Aber die pri-
    mitiven Zustände können immer wieder hergestellt wer-
    den; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne un-
    verganglich.

    Die sogenannten Geisteskrankheiten müssen beim Laien
    den Eindruck hervorrufen, daß das Geistes- und Seelenleben
    der Zerstorung anheimgefallen sei. In Wirklichkeit betrifft
    die Zerstörung nur spätere Erwerbungen und Entwicklungen,
    Das Wesen der Geisteskrankheit besteht in der Riickkehr
    zu früheren Zuständen des Affektlebens und der Funktion.
    Ein ausgezeichnetes Beispiel fiir die Plastizität des Seelen-
    lebens gibt der Schlafzustand, den wir allnåchtlich anstreben.
    Seitdem wir auch tolle und verworrene Träume zu übersetzen
    verstehen, wissen wir, daß wir mit jedem Einschlafen unsere
    mithsam erworbene Sittlichkeit wie ein Gewand von uns

  • S.

    502 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    werfen — um es am Morgen wieder anzutun. Diese Ent-
    blößung ist natürlich ungefährlich, weil wir durch den Schlaf-
    zustand gelåhmt, zur Inaktivität verurteilt sind. Nur der
    Traum kann von der Regression unseres Gefiihllebens auf
    eine der frühesten Entwicklungsstufen Kunde geben. So ist
    es z. B. bemerkenswert, daß alle unsere Träume von rein
    egoistischen Motiven beherrscht werden. Finer meiner eng-
    lischen Freunde vertrat einmal diesen Satz vor einer wissen-
    schaftlichen‘ Versammlung in Amerika, worauf ihm eine an-
    wesende Dame die Bemerkung machte, das móge vielleicht
    für Osterreich richtig scin, aber sie dürfe von sich und ihren
    Freunden behaupten, daß sie auch noch im Traume altruistisch
    fühlen. Mein Freund, obwohl selbst ein Angehöriger der eng-
    lischen Rasse, müßte auf Grund seiner eigenen Erfahrungen
    in der Traumanalyse der Dame energisch widersprechen: Im
    Traume sei auch die edle Amerikanerin ebenso egoistisch wie
    der Osterreicher.

    Es kann also auch die Triebumbildung, auf welcher un-
    sere Kultureignung beruht, durch Einwirkungen des Lebens
    | dauernd oder zeitweilig 一 rückgängig gemacht werden.
    Ohne Zweifel gehóren die Einflüsse des Krieges zu den Mách-
    ten, welche solehe Rückbildung erzeugen kónnen, und darum
    brauchen wir nicht allen jenen, die sich gegenwärtig un-
    kulturell benchmen, die Kultureignung abzusprechen, und dür-
    fen erwarten, daß sich ihre Triebveredlung in ruhigeren Zeiten
    wieder herstellen wird.

    Vielleicht hat uns aber ein anderes Symptom bei un-
    seren Weltmitbürgern nicht weniger überrascht und geschreckt
    als das so schmerzlich empfundene Herabsinken von ihrer
    ‚ethischen Höhe. Ich meine die Einsichtslosigkeit, die sich
    bei den besten Köpfen zeigt, ihre Verstocktheit, Unzugång-

  • S.

    XXVIIL.ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD. 508

    lichkeit gegen die eindringlichsten Argumente, ihre kritiklose
    Leichtglåubigkeit für die anfechtbarsten Behauptungen. Dies
    ergibt freilich ein trauriges Bild, und ich will ausdrücklich
    betonen, daß ich keineswegs als verblendeter Parteigánger
    alle intellektuellen Verfehlungen nur auf einer der beiden
    Seiten finde. Allein diese Erscheinung ist noch leichter zu
    erklàren und weit weniger bedenklich als die vorhin gewür-
    digte. Menschenkenner und Philosophen haben uns làngst
    belehrt, daB wir Unrecht daran tun, unsere Intelligenz als
    selbständige Macht zu schätzen und ihre Abhängigkeit vom
    Gefühlsleben zu übersehen. Unser Intellekt kónne nur ver-
    làflich arbeiten, wenn er den Einwirkungen starker Gefühls-
    regungen entrückt sei; im gegenteiligen Falle benehme er
    sich einfach wie ein Instrument zu Handen eines Willens
    und liefere das Resultat, das ihm von diesem aufgetragen
    sei Logische Argumente seien also ohnmåchtig gegen affek-
    tive Interessen, und darum sei das Streiten mit Gründen;
    die nach Falstaffs Wort so gemein sind wie Brombeeren,
    in der Welt der Interessen so unfruchtbar. Die psychoana-
    lytische Erfahrung hat diese Behauptung womöglich noch
    unterstrichen, Sie kann alle Tage zeigen, daß sich die scharf-
    sinnigsten Menschen plötzlich einsichtslos wie Schwachsin-
    nige benehmen, sobald die verlangte Einsicht einem Gefühls-
    widerstand bei ihnen begegnet, aber auch alles Verständnis
    wieder erlangen, wenn dieser Widerstand überwunden ist.
    Die logische Verblendung, die dieser Krieg oft gerade bei
    den besten unserer Mitbürger hervorgezaubert hat, ist
    also ein sekundäres Phänomen, eine Folge der Gefühls-
    erregung, und hoffentlich dazu bestimmt, mit ihr zu ver-
    schwinden.

    Wenn wir solcher Art unsere uns entfremdeten Mitbiirger

  • S.

    504 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.

    wieder verstehen, werden wir die Enttäuschung, die uns die
    GroBindividuen der Menschheit, die Völker, bereitet haben,
    um vieles leichter ertragen, denn an diese dürfen wir nur
    weit bescheidenere Ansprüche stellen. Dieselben wiederholen
    vielleicht die Entwicklung der Individuen und treten uns
    heute noch auf sehr primitiven Stufen der Organisation, der
    Bildung höherer Einheiten, entgegen. Dementsprechend ist
    das erziehliche Moment des äußeren Zwanges zur Sittlichkeit,
    welches wir beim Einzelnen so wirksam fanden, bei ihnen
    noch kaum nachweisbar. Wir hatten zwar gehofft, daß die
    großartige, durch Verkehr und Produktion hergestellte In-
    teressengemeinschaft den Anfang eines solchen Zwanges er-
    geben werde, allein es scheint, die Volker gehorchen ihren
    Leidenschaften derzeit weit mehr als ihren Interessen. Sie
    bedienen sich hóchstens der Interessen, um die Leidenschaften
    zu rationalisieren; sie schieben ihre Interessen vor, um
    die Befriedigung ihrer Leidenschaften begründen zu kónnen.
    Warum die Volkerindividuen einander eigentlich geringschiit-
    zen, hassen, verabscheuen, und zwar auch in Friedenszeiten,
    und jede Nation die andere, das ist freilich rátselhaft. Ich
    weiß es nicht zu sagen. Es ist in diesem Falle gerade so,

    als ob sich alle sittlichen Erwerbungen der Einzelnen aus- `

    lóschten, wenn man eine Mehrheit oder gar Millionen Men-
    schen zusammennimmt, und nur die primitivsten, áltesten
    und rohesten, seelischen Einstellungen übrig blieben. An
    diesen bedauerlichen Verháltnissen werden vielleicht erst
    spáte Entwicklungen etwas ándern kónnen. Aber etwas mehr
    Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit allerseits, in den Bezie-
    hungen der Menschen zueinander und zwischen ihnen und
    den sie Regierendon, dürfte auch für diese Umwandlung dic

    Wege ebnen.

  • S.

    XXVIII. ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD. 505

    II. UNSER VERHÄLTNIS ZUM TODE.

    Das zweite Moment, von dem ich es ableite, daß wir uns
    so befremdet fühlen in dieser einst so schönen und trauten
    Welt, ist die Störung des bisher von uns festgehaltenen Ver-
    hältnisses zum Tode,

    Dies Verhältnis war kein aufrichtiges. Wenn man uns
    anhörte, so waren wir natürlich bereit zu vertreten, daß der
    Tod der notwendige Ausgang alles Lebens sei, daß jeder von
    uns der Natur einen Tod schulde und vorbereitet sein müsse,
    die Schuld zu bezahlen, kurz, daß der Tod natürlich sei, un-
    ableugbar und unvermeidlich. In Wirklichkeit pflegten wir
    uns aber zu benehmen, als ob es anders wäre. Wir haben
    die unverkennbare Tendenz gezeigt, den Tod beiseite zu schie-
    ben, ihn aus dem Leben zu eliminieren. Wir haben versucht,
    ihn totzuschweigen; wir besitzen ja auch das Sprichwort:
    man denke an etwas wie an den Tod. Wie an den eigenen
    natürlich. Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar, und so
    oft wir den Versuch dazu machen, können wir bemerken,
    daß wir eigentlich als Zuschauer weiter dabei bleiben, So
    konnte in der psychoanalytischen Schule der Ausspruch ge-
    wagt werden: Im Grunde glaube niemand an scinen eigenen
    Tod oder, was dasselbe ist: Im Unbewußten sei jeder von
    uns seiner Unsterblichkeit überzeugt.

    Was den Tod eines anderen betrifft, so wird der Kultur-
    mensch es sorgfältig vermeiden, von dieser Möglichkeit zu
    sprechen, wenn der zum Tode Bestimmte es hören kann. Nur
    Kinder setzen sich über diese Beschränkung hinweg; sie dro-
    hen einander ungescheut mit den Chancen des Sterbens und
    bringen es auch zu stande, einer geliebten Person dergleichen
    ins Gesicht zu sagen, wie z. B.: Liebe Mama, wenn du leider
    gestorben sein wirst, werde ich dies oder jenes. Der erwach-

  • S.

    506 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    sene Kultivierte wird den Tod eines anderen auch nicht gern
    in seine Gedanken einsetzen, ohne sich hart oder böse zu
    erscheinen; es sei denn, daß er berufsm&⑥ig als Arzt, Ad-
    vokat u. dgl. mit dem Tode zu tun habe. Am wenigsten wird
    er sich gestatten, an den Tod des anderen zu denken, wenn
    mit diesem Ereignis ein Gewinn an Freiheit, Besitz, Stellung
    verbunden ist. Natiirlich lassen sich Todesfålle durch dies
    unser Zartgefühl nicht zurückhalten; wenn sie sich ereignet
    haben, sind wir jedesmal tief ergriffen und wie in unseren
    Erwartungen erschüttert. Wir betonen regelmäßig die zufäl-
    lige Veranlassung des Todes, den Unfall, die Erkrankung,
    die Infektion, das hohe Alter, und verraten so unser Bestreben,
    den Tod von einer Notwendigkeit zu einer Zufålligkeit herab-
    zudrücken. Eine Háufung von Todesfållen erscheint uns als
    etwas überaus Schreckliches. Dem Verstorbenen selbst brin-
    gen wir ein besonderes Verhalten entgegen, fast wie eine
    Bewunderung fiir einen, der etwas sehr Schwieriges zu stande

    gebracht hat. Wir stellen die Kritik gegen ihn ein, sehen
    ihm sein etwaiges Unrecht nach, geben den Befehl aus: De
    mortuis nil nisi bene, und finden es gerechtfertigt, daß man
    ihm in der Leichenrede und auf dem Grabsteine das Vor-
    teilhafteste nachrühmt. Die Rücksicht auf den Toten, deren
    er doch nicht mehr bedarf, steht uns über der Wahrheit, den
    meisten von uns gewiß auch über der Rücksicht fiir den Le-

    benden.

    Diese kulturell-konventionelle Einstellung gegen den Tod
    ergänzt sich nun durch unseren völligen Zusammenbruch,
    wenn das Sterben eine der uns nahestehenden Personen, einen
    Eltern- oder Gattenteil, ein Geschwister, Kind oder teuren
    Freund getroffen hat. Wir begraben mit ihm unsere Hoff-
    nungen, Ansprüche, Genüsse, lassen uns nicht trösten und

  • S.

    XXVIII. ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD. 507

    weigern uns, den Verlorenen zu ersetzen. Wir benehmen uns
    dann wie eine Art von Asra, welche mitsterben, wenn
    die sterben, die sie lieben.

    Dies unser Verhältnis zum Tode hat aber eine starke
    Wirkung auf unser Leben. Das Leben verarmt, es verliert
    an Interesse, wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen,
    eben das Leben selbst, nicht gewagt werden darf. Es wird
    so schaal, gehaltlos wie etwa ein amerikanischer Flirt, bei
    dem es von vornherein feststeht, daß nichts vorfallen darf,
    zum Unterschied von einer kontinentalen Liebesbeziehung, bei
    welcher beide Partner stets der ernsten Konsequenzen ein-
    gedenk bleiben müssen. Unsere Gefühlsbindungen, die un- |
    ertrågliche Intensität unserer Trauer, machen uns abgeneigt,
    fiir uns und die unserigen Gefahren aufzusuchen. Wir ge-
    trauen uns nicht, eine Anzahl von Unternchmungen in Be-
    tracht zu ziehen, die gefährlich, aber eigentlich unerläBlich
    sind wie Flugversuche, Expeditionen in ferne Länder, Ex-
    perimente mit explodierbaren Substanzen. Uns lähmt dabei
    das Bedenken, wer der Mutter den Sohn, der Gattin den
    Mann, den Kindern den Vater ersetzen soll wenn ein Un-
    glück geschieht. Die Neigung, den Tod aus der Lebensrech-
    nung auszuschlieBen, hat so viele andere Verzichte und Aus-
    schliebungen im Gefolge, Und doch hat der Wahlspruch der
    Hansa gelautet: Navigare necesse est, vivere non necesse!
    (Scefahren muß man, leben muß man nicht.)

    Es kann dann nicht anders kommen, als daf wir in der
    Welt der Fiktion, in der Literatur, im Theater Ersatz suchen
    für die EinbuBe des Lebens. Dort finden wir noch Menschen,
    die zu sterben verstehen, ja, die es auch zu stande bringen,
    einen anderen zu tóten. Dort allein erfüllt sich uns auch
    die Bedingung, unter welcher wir uns mit dem Tode ver-

  • S.

    508 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    söhnen könnten, wenn wir nämlich hinter allen Wechselfållen
    des Lebens noch ein unantastbares Leben übrig behielten.
    Es ist doch zu traurig, daß es im Leben zugehen kann wie
    im Schachspiel, wo ein falscher Zug uns zwingen kann, die
    Partie verloren zu geben, mit dem Unterschiede aber, daß
    wir keinc zweite, keine Revanchepartie beginnen können, Auf
    dem Gebiete der Fiktion finden wir jene Mehrheit von Leben,
    deren wir bedürfen. Wir sterben in der Identifizierung mit
    dem einen Helden, überleben ihn aber doch und sind bereit,
    ebenso ungeschådigt ein zweites Mal mit einem anderen Hel-
    den zu sterben,

    Es ist evident, daß der Krieg diese konventionelle Be-
    handlung des Todes hinwegfegen muß. Der Tod 1386 sich
    jetzt nicht mehr verleugnen; man muß an ihn glauben. Die
    Menschen sterben wirklich, auch nicht mehr einzeln, sondern
    viele, oft Zehntausende an einem Tage. Er ist auch kein
    Zufall mehr. Es scheint freilich noch zufällig, ob diese Kugel
    den einen trifft oder den anderen; aber diesen anderen mag
    leicht eine zweite Kugel treffen, die Håufung macht dem
    Eindruck des Zufilligen ein Ende. Das Leben ist freilich
    wicder interessant geworden, es hat seinen vollen Inhalt wie-
    der bekommen.

    Man müßte hier eine Scheidung in zwei Gruppen vor-
    nehmen, diejenigen, die selbst im Kampfe ihr Leben preis-
    geben, trennen von den anderen, die zu Hause geblieben sind
    und nur zu erwarten haben, einen ihrer Lieben an den Tod
    durch Verletzung, Krankheit oder Infektion zu verlieren. Es
    ‚wäre gewiß sehr interessant, die Veränderungen in der Psy-
    chologie der Kämpfer zu studieren, aber ich weiß zu wenig
    darüber. Wir müssen uns an die zweite Gruppe halten, zu
    der wir selbst gehören. Ich sagte schon, daß ich meine, die

  • S.

    XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. 509

    Verwirrung und die Lähmung unserer Leistungsfähigkeit, un-
    ter denen wir leiden, seien wesentlich mitbestimmt durch den
    Umstand, daß wir unser bisheriges Verhältnis zum Tode nicht
    aufrecht halten können und ein neues noch nicht gefunden
    haben. Vielleicht hilft es uns dazu, wenn wir unsere psycho-
    logische Untersuchung auf zwei andere Beziehungen zum Tode
    richten, auf jene, die wir dem Urmenschen, dem Menschen der
    Vorzeit, zuschreiben dürfen, und jene andere, die in jedem
    von uns noch erhalten ist, aber sich unsichtbar für unser Be-
    wuftsein in ‚tieferen Schichten unseres Seelenlebens verbirgt.

    Wie sich der Mensch der Vorzeit gegen den Tod ver-
    halten, wissen wir natürlich nur durch Rückschlüsse und
    Konstruktionen, aber ich meine, daß diese Mittel uns ziem-
    Heh vertrauenswürdige Auskünfte ergeben haben.

    Der Urmensch hat sich in sehr merkwürdiger Weise zum
    Tode eingestellt. Gar nicht einheitlich, vielmehr recht wider-
    spruchsvoll. Er hat einerseits den Tod ernst genommen, ihn
    als Aufhebung des Lebens anerkannt und sich seiner in die-
    sem Sinne bedient, anderseits aber auch den Tod geleugnet,
    ihn zu nichts herabgedrückt. Dieser Widerspruch wurde durch
    den Umstand ermöglicht, daß er zum Tode des anderen, des
    Fremden, des Feindes, eine radikal andere Stellung einnahm
    als zu seinem eigenen. Der Tod des anderen war ihm recht,
    galt ihm als Vernichtung des Verhaften, und der Urmensch
    kannte kein Bedenken, ihn herbeizuführen. Er war gewiß ein
    sehr leidenschaftliches Wesen, grausamer und bósartiger als
    andere Tiere. Er mordete gerne und wie selbstverståndlich.
    Den Instinkt, der andere Tiere davon abhalten soll, Wesen
    der gleichen Art zu tóten und zu verzehren, brauchen wir
    ihm nieht zuzuschreiben.

    Die Urgeschichte der Menschheit ist denn auch vom

  • S.

    510 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Morde erfüllt, Noch heute ist das, was unsere Kinder in der
    Schule als Weltgeschichte lernen, im wesentlichen eine Rei-
    henfolge von Völkermorden. Das dunkle Schuldgefühl, unter
    dem die Menschheit seit Urzeiten steht, das sich in manchen
    Religionen zur Annahme einer Urschuld, einer Erbsiinde,
    verdichtet hat, ist wahrscheinlich der Ausdruck einer Blut-
    schuld, mit welcher sich die urzeitliche Menschheit beladen
    hat. Ich habe in meinem Buche „Totem und Tabu“ (1913),
    den Winken von W. Robertson Smith, Atkinson und Ch:
    Darwin folgend, die Natur dieser alten Schuld erraten
    wollen, und meine, daB noch die heutige christliche Lehre
    uns den RückschluB auf sie ermöglicht. Wenn Gottes Sohn
    sein Leben opfern mußte, um die Menschheit von der Erb-
    sünde zu erlésen, so muß nach der Regel der Talion, der
    Vergeltung durch Gleiches, diese Sünde eine Tötung, cin
    Mord gewesen sein. Nur dies konnte zu seiner Sühne das
    Opfer eines Lebens erfordern. Und wenn die Erbsiinde cin
    Verschulden gegen Gott-Vater war, so muß das älteste Ver-
    brechen der Menschheit ein Vatermord gewesen sein, die
    Tötung des Urvaters der primitiven Menschenhorde, dessen
    Erinnerungsbild später zur Gottheit verklårt wurde.*)

    Der eigene Tod war dem Urmenschen gewiß ebenso un-
    vorstellbar und unwirklich, wie heute noch jedem von uns.
    Es ergab sich aber fiir ihn ein Fall, in dem die beiden gegen“
    setzlichen Einstellungen zum Tode zusammenstieBen und in
    Konflikt miteinander gerieten, und dieser Fall wurde sehr
    bedeutsam und reich an fernwirkenden Folgen. Er ereignete
    sich, wenn der Urmensch einen seiner Angehörigen sterben
    sah, sein Weib, sein Kind, seinen Freund, die er sicherlich

    *) Vgl. Imago, Bd. II, 1913. (Die infantile Wiederkehr des
    Totemismus.)

  • S.

    XXVIIL ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD. 511

    ähnlich liebte wie wir die unseren, denn die Liebe kann nicht
    um vieles jünger sein als die Mordlust. Da mußte er in
    seinem Schmerz die Erfahrung machen, daß man auch selbst
    sterben könne, und sein ganzes Wesen empörte sich gegen
    dieses Zugeständnis; jeder dieser Lieben war ja doch ein
    Stück seines eigenen geliebten Ichs. Anderseits war ihm ein
    solcher Tod doch auch recht, denn in jeder der geliebten
    Personen stak auch ein Stück Fremdheit. Das Gesetz der
    Gefühlsambivalenz, das heute noch unsere Gefühlsbeziehun-
    gen zu den von uns geliebtesten Personen beherrscht, galt
    in Urzeiten gewiß noch uneingeschränkter, Somit waren diese
    geliebten Verstorbenen doch auch Fremde und Feinde ge-
    wesen, die einen Anteil von feindseligen Gefiihlen bei ihm
    hervorgerufen hatten.*)

    Die Philosophen haben behauptet, das intellektuelle Rät-
    sel, welches das Bild des Todes dem Urmenschen aufgab,
    habe sein Nachdenken erzwungen und sei der Ausgang jeder
    Spekulation geworden, Ich glaube, die Philosophen denken
    da zu — philosophisch, nehmen zu wenig Rücksicht auf die
    primär wirksamen Motive. Ich möchte darum die obige Be-
    hauptung einschränken und korrigieren: an der Leiche des
    erschlagenen Feindes wird der Urmensch triumphiert haben,
    ohne einen Anlaß zu finden, sich den Kopf über die Rätsel
    des Lebens und Todes zu zerbrechen, Nicht das intellek-
    tuclle Rätsel und nicht jeder Todesfall, sondern der Ge-
    fühlskonflikt beim Tode geliebter und dabei doch auch frem-
    der und gehaßter Personen hat die Forschung der Menschen
    entbunden. Aus diesem Gefühlskonflikt wurde zunächst‘ die
    Psychologie geboren. Der Mensch konnte den Tod nicht mehr

    *) Siehe Imago, Bd. I, 1912, Tabu und Ambivalenz. Und ,Totem
    und Tabu”.

  • S.

    512 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    von sich ferne halten, da er ihn in dem Schmerz um den
    Verstorbenen verkostet hatte, aber er wollte ihn doch nicht
    zugestehen, da er sich selbst nicht tot vorstellen konnte.
    So lieB er sich auf Kompromisse ein, gab den Tod auch fiir
    sich zu, bestritt ihm aber die Bedeutung der Lebensver-
    nichtung, wofür ihm beim Tode des Feindes jedes Motiv
    gefehlt hatte. An der Leiche der geliebten Person ersann
    er die Geister, und sein SchuldbewuBtsein ob der Befriedi-
    gung, die der Trauer beigemengt war, bewirkte, daß diese
    erstgeschaffenen Geister bose Dämonen wurden, vor denen
    man sich ångstigen mußte. Die Veränderungen des Todes
    legten ihm die Zerlegung des Individuums in einen Leib und
    in eine — ursprünglich mehrere — Seelen nahe; in solcher
    Weise ging sein Gedankengang dem Zersetzungsprozeß, den
    der Tod einleitet, parallel. Die fortdauernde Erinnerung an
    den Verstorbenen wurde die Grundlage der Annahme anderer
    Existenzformen, gab ihm die Idee eines Fortlebens nach dem
    anscheinenden Tode,

    Diese späteren Existenzen waren anfänglich nur Anhängsel
    an die durch den Tod abgeschlossene, schattenhaft, inhalts-
    Ieer und bis in späte Zeiten hinauf geringgeschåtzt; sie trugen
    noch den Charakter kümmerlicher Auskünfte. Wir erinnern,
    was die Seele des Achilleus dem Odysseus erwidert:

    „Denn dich Lebenden einst verehrten wir, gleich den Göttern,

    Argos Sohn’; und jetzo gebietest du mächtig den Geistern,

    Wohnend allhier. Drum laß dich den Tod nicht reuen, Achilleus,

    Also ich selbst; und sogleich antwortet’ er, solches erwidernd:

    Nieht mir rede vom Tod ein Trostwort, edler Odysseus!

    Lieber ja wollt’ ich das Feld als Tagelöhner bestellen

    Einem diirftigen Mann, ohn’ Erb’ und eigenen Wohlstand,

    Als die sämtliche Schar der geschwundenen Toten beherrschen.“
    (Odyssee XI v. 484—491.)

  • S.

    XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD, 518

    Oder in der kraftvollen, bitter-parodistischen Fassung von

    Нонате T PO. PE

    Zu Stuckert am Neckar
    Viel glücklicher ist er
    Als ich, der Pelide, der tote Held,
    Der Schattenfiirst in der Unterwelt.“

    Erst später brachten es die Religionen zu stande, diese
    Nachexistenz für die wertvollere, vollgültige auszugeben und
    das durch den Tod abgeschlossene Leben zu einer bloßen
    Vorbereitung herabzudrücken. Es war dann nur konsequent,
    wenn man auch das Leben in die Vergangenheit verlängerte,
    die früheren Existenzen, die Seelenwanderung und Wieder-
    geburt ersann, alles in der Absicht, dem Tode seine Bedeu-
    tung als Aufhebung des Lebens zu rauben. So friihzeitig hat
    die Verleugnung des Todes, die wir als konventionell-kulturell
    bezeichnet haben, ihren Anfang genommen. 5

    An der Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur
    die Seclenlehre, der Unsterblichkeitsglaube und eine måchtige
    Wurzel des menschlichen SchuldbewuBtseins, sondern auch
    die ersten ethischen Gebote. Das erste und bedeutsamste
    Verbot des erwachenden Gewissens lautete: Du sollst
    nicht töten. Es war als die Reaktion gegen die hinter
    der Trauer versteckte Habbefriedigung am geliebten Toten
    gewonnen worden, und wurde allmåhlich auf den ungeliebten
    Fremden und endlich auch auf den Feind ausgedehnt,

    An letzterer Stelle wird es vom Kulturmenschen nicht
    mehr verspiirt. Wenn das wilde Ringen dieses Krieges seine
    Entscheidung gefunden håt, wird jeder der siegreichen Kåmp.
    fer froh in sein Heim zurückkehren, zu seinem Weibe und
    Kindern, unverweilt und ungestört durch Gedanken an die
    Feinde, die er im Nahkampfe oder durch die fernwirkende

    Freud, Neurosenlehre. IV, es

  • S.

    514 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.

    Waffe getötet hat. Es ist bemerkenswert, daß sich die primi-
    tiven Völker, die noch auf der Erde leben und dem .Ur-
    menschen gewiß näher stehen als wir, in diesem Punkte an-
    ders verhalten — oder verhalten haben, solange sie noch
    nicht den Einfluß unserer Kultur erfahren hatten, Der Wilde
    — Australier, Buschmann, Feuerländer — ist keineswegs ein
    reueloser Mörder; wenn er als Sieger vom Kriegspfade heim-
    kehrt, darf er sein Dorf nicht betreten und sein Weib nicht
    berühren, ehe er seine kriegerischen Mordtaten durch oft lang-
    wierige und mühselige Bußen gesühnt hat. Natürlich liegt
    die Erklärung aus seinem Aberglauben nahe; der Wilde fürch-
    tet noch die Geisterrache der Erschlagenen. Aber die Geister
    der erschlagenen Feinde sind nichts anderes als der Aus-
    druck seines bösen Gewissens ob seiner Blutschuld; hinter
    diesem Aberglauben verbirgt sich ein Stück ethischer Fein-
    fühligkeit, welches uns Kulturmenschen verloren gegangen
    ist.*)

    Fromme Seelen, welche unser Wesen gerne von der Be-
    rührung mit Bösem und Gemeinem ferne wissen möchten,
    werden gewiß nicht versäumen, aus der Frühzeitigkeit und
    Eindringlichkeit des Mordverbotes befriedigende Schlüsse zu
    ziehen auf die Stärke ethischer Regungen, welche uns ein-
    gepflanzt sein müssen, Leider beweist dieses Argument noch
    mehr für das Gegenteil. Ein so starkes Verbot kann sich
    nur gegen einen ebenso starken Impuls richten, Was keines
    Menschen Seele begehrt, braucht man nicht zu verbieten**),
    es schließt sich von selbst aus. Gerade die Betonung des
    Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir

    "( 8. Imago, Bd. II. 1. c.
    **) Vgl. die glänzende Argumentation von Frazer in Imago 1. c. und
    „Totem und Tabu“. ⑤

  • S.

    XXVIII. ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD. 515

    von einer unendlich langen Generationsreihe von Mørdern ab-
    stammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst,
    im Blute lag. Die ethischen Strebungen der Menschheit, an
    deren Stärke und Bedeutsamkeit man nicht zu nórgeln braucht,
    sind ein Erwerb der Menschengeschichte; in leider sehr wech-
    selndem Ausmafe sind sie dann zum ererbten Besitze der
    heute lebenden Menschheit geworden.

    Verlassen wir nun den Urmenschen und wenden wir uns
    dem Unbewuften im eigenen Seelenleben zu. Wir fufen hier
    ganz auf der Untersuchungsmethode der Psychoanalyse, der
    einzigen, die in solche Tiefen reicht. Wir fragen: wie verhält
    sich unser Unbewußtes zum Problem des Todes? Die Ant-
    wort muß lauten: fast genau so wie der Urmensch, In dieser
    wie in vielen anderen Hinsichten lebt der Mensch der Vor-
    zeit ungeändert in unserem Unbewußten fort. Also unser
    Unbewußtes glaubt nicht an den eigenen, Tod, es gebärdet
    sich wie unsterblich. Was wir unser „Unbewußtes“ heißen,
    die tiefsten, aus Triebregungen bestehenden Schichten un-
    serer Seele, kennt überhaupt nichts Negatives, keine Ver-
    neinung — Gegensätze fallen in ihm zusammen — und kennt
    darum auch nicht den eigenen Tod, dem wir nur einen nega-
    tiven Inhalt geben können. Dem Todesglauben kommt also
    nichts Triebhaftes in uns entgegen. Vielleicht ist dies sogar
    das Geheimnis des Heldentums, Die rationelle Begründung
    des Heldentums ruht auf dem Urteile, daß das cigene Leben
    nicht so wertvoll sein kann wie gewisse abstrakte und all-
    gemeine Güter. Aber ich meine, häufiger dürfte das instink-

    tive und impulsive Heldentum sein, welches von solcher Moti-

    vierung absieht und einfach nach der Zusicherung des An-

    zengruberschen Steinklopferhanns: Es kann dir nix

    gscheh'n, den Gefahren trotzt. Oder jene Motivierung dient
    33%

  • S.

    516 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    nur dazu, die Bedenken wegzuråumen, welche die dem Un-
    bewuBten entsprechende heldenhafte Reaktion hintanhalten
    können. Die Todesangst, unter deren Herrschaft wir häufiger
    stehen, als wir selbst wissen, ist dagegen etwas Sekundåres,
    und meist aus SchuldbewuBtsein hervorgegangen,

    Anderseits anerkennen wir den Tod fiir Fremde und Feinde
    und verhången ihn iiber sie ebenso bereitwillig und unbe-
    denklich wie der Urmensch. Hier zeigt sich freilich ein Un-
    terschied, den man in der Wirklichkeit fiir entscheidend er-
    klären wird. Unser Unbewubtes führt die Tötung nicht aus,
    es denkt und wiinscht sie bloB, Aber es wåre unrecht, diese
    psychische Realitåt im Vergleiche zur faktischen so
    ganz zu unterschåtzen. Sie ist bedeutsam und folgenschwer
    genug. Wir beseitigen in unseren unbewuBten Regungen tåg-
    lich und stündlich alle, die uns im Wege stehen, die uns
    beleidigt und geschädigt haben. Das „Hol ihn der Teufel,
    das sich so häufig in scherzendem Unmute über unsere Lippen
    drångt, und das eigentlich sagen will: Ho ihn der Tod, in
    unserem UnbewuBten ist es ernsthafter, kraftvoller 'Todes-
    wunsch. Ja, unser Unbewuftes mordet selbst fiir Kleinig-
    keiten; wie die alte athenische Gesetzgebung des Drakon
    kennt es fir Verbrechen keine andere Strafe als den Tod,
    und dies mit einer gewissen Konsequenz, denn jede Schådi-
    gung unseres allmåchtigen und selbstherrlichen Ichs ist im
    Grunde ein crimen laesae majestatis.

    So sind wir auch selbst, wenn man uns nach unseren
    unbowuBten Wunschregungen beurteilt, wie die Urmenschen
    eine Rotte von Môrdern. Es ist ein Glick, daß alle diese
    Wiinsche nicht die Kraft besitzen, die ihnen die Menschen
    in Urzeiten noch zutrauten*); in dem Kreuzfeuer der gegen-

    わ Vgl. über „Allmacht der Gedanken“ in Imago und „Totem u. Tabu“.

  • S.

    XXVIII. ZEITGEMASSES UBER KRIEG UND TOD. 517

    seitigen Verwünschungen wäre die Menschheit längst zugrunde
    gegangen, die besten und weisesten der Männer darunter wie
    die schönsten und holdesten der Frauen.

    Mit Aufstellungen wie diesen findet die Psychoanalyse
    bei den Laien meist keinen Glauben, Man weist sie als Ver-
    leumdungen zurück, welche gegen die Versicherungen des
    Bewußtseins nicht in Betracht kommen, und übersieht ge-
    schickt die geringen Anzeichen, durch welche sich auch das
    Unbewußte dem Bewußtsein zu verraten pflegt. Es ist darum
    am Platze darauf hinzuweisen, daß viele Denker, die nicht
    von der Psychoanalyse beeinflußt sein konnten, die Bereit-
    schaft unserer stillen Gedanken, mit Hinwegsetzung über das
    Mordverbot zu beseitigen, was uns im Wege steht, deutlich
    genug angeklagt haben. Ich wähle hiefür ein einziges berühmt
    gewordenes Beispiel an Stelle vieler anderer:

    Im ,,Pére Goriot“ spielt Balzac auf eine Stelle in den
    Werken J. J. Rousseaus an, in welcher dieser Autor den
    Leser fragt, was er wohl tun würde, wenn er — ohne Paris
    zu verlassen und natürlich ohne entdeckt zu werden — einen
    alten Mandarin in Peking durch einen bloßen Willensakt
    töten könnte, dessen Ableben ihm einen großen Vorteil ein-
    bringen müßte. Er läßt erraten, daß er das Leben dieses
    Würdenträgers für nicht sehr gesichert hält. , Tuer son man-
    darin“ ist dann sprichwörtlich worden für diese geheime Be-
    reitschaft auch der heutigen Menschen,

    Es gibt auch eine ganze Anzahl von zynischen Witzen
    und Anekdoten, welche nach derselben Richtung Zeugnis ab-
    legen, wie 2. B. die dem Ehemanne zugeschriebene Äußerung:
    Wenn einer von uns beiden stirbt, iibersiedle ich nach Paris.
    Solche zynische Witze wären nicht möglich, wenn sie nicht
    eine verleugnete Wahrheit mitzuteilen hätten, zu der man

  • S.

    518 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    sich nicht bekennen darf, wenn sie ernsthaft und unverhüllt
    ausgesprochen wird. Im Scherz darf man bekanntlich sogar
    die Wahrheit sagen.

    Wie für den Urmenschen, so ergibt sich auch für unser
    Unbewußtes ein Fall, in dem die beiden entgegengesetzten
    Einstellungen gegen den Tod, die eine, welche ihn als Le-
    bensvernichtung anerkennt, und die andere, die ihn als un-
    wirklich verleugnet, zusammenstoßen und in Konflikt ge-
    raten. Und dieser Fall ist der nämliche wie in der Urzeit,
    ter Tod oder die Todesgefahr eines unserer Lieben, eines
    Eltern- oder Gattenteils, eines Geschwisters, Kindes oder lie-
    ben Freundes. Diese Lieben sind uns einerseits ein innerer
    Besitz, Bestandteile unseres eigenen Ichs, anderseits aber
    auch teilweise Fremde, ja Feinde. Den zärtlichsten und in-
    nigsten unserer Liebesbeziehungen hängt mit Ausnahme ganz
    weniger Situationen ein Stückchen Feindseligkeit an, welches
    den unbewußten Todeswunsch anregen kann, Aus diesem Am-
    bivalenzkonflikt geht aber nicht wie dereinst die Seelenlehre
    und die Ethik hervor, sondern die Neurose, die uns tiefe
    Einblicke auch in das normale Seelenleben gestattet. Wie
    häufig haben die psychoanalytisch behandelnden Ärzte mit
    dem Symptom der überzärtlichen Sorge um das Wohl der
    Angehörigen oder mit völlig unbegründeten Sclbstvorwiirfen
    nach dem Tode einer geliebten Person zu tun gehabt, Das
    Studium dieser Vorfälle hat ihnen über die Verbreitung und
    Bedeutung der unbewußten Todeswünsche keinen Zweifel ge-
    lassen,

    Der Laie empfindet ein außerordentliches Grauen vor
    dieser Gefühlsmöglichkeit und nimmt diese Abneigung als
    legitimen Grund zum Unglauben gegen die Behauptungen der
    Psychoanalyse. Ich meine mit Unrecht. Es wird keine Herab-

  • S.

    XXVIII. ZEITGEMÅSSES UBER KRIEG UND TOD 519

    setzung unseres Liebeslebens beabsichtigt, und es liegt auch
    keine solche vor. Unserem Verståndnis wie unserer Empfin-
    dung liegt es freilich ferne, Liebe und Haß in solcher Weise
    miteinander zu verkoppeln, aber indem die Natur mit diesem
    Gegensatzpaar arbeitet, bringt sie es zu stande, die Liebe
    immer wach und frisch zu erhalten, um sie gegen den hinter
    ihr lauernden Haß zu versichern, Man darf sagen, die schôn-
    sten Entfaltungen unseres Liebeslebens danken wir der Re-
    aktion gegen den feindseligen Impuls, den wir in unserer
    Brust verspüren,

    Resümieren wir nun: unser Unbewubtes ist gegen die
    Vorstellung des eigenen Todes ebenso unzugånglich, gegen
    den Fremden ebenso mordlustig, gegen dic geliebte Person
    ebenso zwiespåltig (ambivalent) wie der Mensch der Urzeit.
    Wie weit haben wir uns aber in der konventionell-kulturellen
    Einstellung gegen den Tod von diesem Urzustande entfernt!

    Es ist leicht zu sagen, wie der Krieg in diese Entzwei-
    ung eingreift. Er streift uns die spåteren Kulturauflagerun-
    gen ab und läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein
    kommen. Er zwingt uns wieder, Helden zu sein, die an den
    eigenen Tod nicht glauben können; er bezeichnet uns die
    Fremden als Feinde, deren Tod man herbeifiihren oder her-
    beiwünschen soll; er råt uns, uns über den Tod geliebter
    Personen hinwegzusetzen. Der Krieg ist aber nicht abzu-
    schaffen; solange die Existenzbedingungen der Volker so ver-
    schieden und die Abstofungen unter ihnen so heftig sind,
    wird es Kriege geben miissen, Da erhebt sich denn die Frage:
    Sollen wir nicht diejenigen sein, die nachgeben und sich ihm
    anpassen? Sollen wir nicht zugestehen, daB wir mit unserer
    kulturellen Einstellung zum Tode psychologisch wieder ein-
    mal iiber unseren Stand gelebt haben, und vielmehr umkehren

  • S.

    520 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.

    und die Wahrheit fatieren? Wäre es nicht besser, dem Tode
    den Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken ein-
    zuråumen, der ihm gebührt, und unsere unbewubte Einstel-
    Jung zum Tode, die wir bisher so sorgfältig unterdrückt haben,
    ein wenig mehr hervorzukehren? Es scheint das keine Hôher-
    Teistung zu sein; eher ein Riickschritt in manchen Stücken,
    eine Regression, aber es hat den Vorteil, der Wahrhaftigkeit
    mehr Rechnung zu tragen und uns das Leben wieder ertråg-
    licher zu machen. Das Leben zu ertragen, bleibt ja doch die
    erste Pflicht aller Lebenden. Die Illusion wird wertlos, wenn
    sie uns darin stort.

    Wir erinnern uns des alten Spruches:

    Si vis pacem, para bellum;

    (Wenn du den Frieden erhalten willst, so rüste zum Kriege.)

    Es wire zeitgemäß, ihn abzuåndern:

    Si vis vitam, para mortem.

    (Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den
    : Tod ein.)