S.
252
XVI.
TRIEBE und TRIEBSCHICKSALE*)Wir haben oftmals die Forderung vertreten gehört, daß eine
Wissenschaft über klaren und scharf definierten Grund-
begriffen aufgebaut sein soll. In Wirklichkeit beginnt keine
Wissenschaft mit solchen Definitionen, auch die exaktesten
nicht. Der richtige Anfang der wissenschaftlichen Tätigkeit
besteht vielmehr in der Beschreibung von Erscheinungen,
die dann weiterhin gruppiert, angeordnet und in Zusammen-
hänge eingetragen werden. Schon bei der Beschreibung kann
man es nicht vermeiden, gewisse abstrakte Ideen auf das
Material anzuwenden, die man irgendwoher, gewiß nicht aus
der neuen Erfahrung allein, herbeiholt. Noch unentbehrlicher
sind solche Ideen – die späteren Grundbegriffe der Wissen-
schaft – bei der weiteren Verarbeitung des Stoffes. Sie
müssen zunächst ein gewisses Maß von Unbestimmtheit an
sich tragen; von einer klaren Umzeichnung ihres Inhaltes
kann keine Rede sein. Solange sie sich in diesem Zustande
befinden, verständigt man sich über ihre Bedeutung durch
den wiederholten Hinweis auf das Erfahrungsmaterial, dem
sie entnommen scheinen, das aber in Wirklichkeit ihnen un-
terworfen wird. Sie haben also strenge genommen den Cha-
rakter von Konventionen, wobei aber alles darauf ankommt,
daß sie doch nicht willkürlich gewählt werden, sondern durch*)Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse III, 1915.
S.
253
bedeutsame Beziehungen zum empirischen Stoffe bestimmt
sind, die man zu erraten vermeint, noch ehe man sie er-
kennen und nachweisen kann. Erst nach gründlicherer Er-
forschung des betreffenden Erscheinungsgebietes kann man
auch dessen wissenschaftliche Grundbegriffe schärfer er-
fassen und sie fortschreitend so abändern, daß sie in großem
Umfange brauchbar und dabei durchaus widerspruchsfrei wer-
den. Dann mag es auch an der Zeit sein, sie in Definitionen
zu bannen. Der Fortschritt der Erkenntnis duldet aber auch
keine Starrheit der Definitionen. Wie das Beispiel der Physik
in glänzender Weise lehrt, erfahren auch die in Definitionen
festgelegten „Grundbegriffe“ einen stetigen Inhaltswandel.Ein solcher konventioneller, vorläufig noch ziemlich
dunkler Grundbegriff, den wir aber in der Psychologie nicht
entbehren können, ist der des Triebes. Versuchen wir es,
ihn von verschiedenen Seiten her mit Inhalt zu erfüllen.Zunächst von Seiten der Physiologie. Diese hat uns den
Begriff des Reizes und das Reflexschema gegeben, dem-
zufolge ein von außen her an das lebende Gewebe (der Nerven-
substanz) gebrachter Reiz durch Aktion nach außen abge-
führt wird. Diese Aktion wird dadurch zweckmäßig, daß sie
die gereizte Substanz der Einwirkung des Reizes entzieht,
aus dem Bereich der Reizwirkung entrückt.Wie verhält sich nun der „Trieb“ zum „Reiz“? Es hin-
dert uns nichts, den Begriff des Triebes unter den des Reizes
zu subsummieren: der Trieb sei ein Reiz für das Psychische.
Aber wir werden sofort davor gewarnt, Trieb und psychischen
Reiz gleichzusetzen. Es gibt offenbar für das Psychische
noch andere Reize als die Triebreize, solche, die sich den
physiologischen Reizen weit ähnlicher benehmen. Wenn z. B.
ein starkes Licht auf das Auge fällt, so ist das kein Triebreiz;S.
254
wohl aber, wenn sich die Austrocknung der Schlund-
schleimhaut fühlbar macht oder die Anätzung der Magen-
schleimhaut.*)Wir haben nun Material für die Unterscheidung von
Triebreiz und anderem (physiologischem) Reiz, der auf das
Seelische einwirkt, gewonnen. Erstens: Der Triebreiz stammt
nicht aus der Außenwelt, sondern aus dem Innern des Orga-
nismus selbst. Er wirkt darum auch anders auf das Seelische
und erfordert zu seiner Beseitigung andere Aktionen. Ferner:
Alles für den Reiz Wesentliche ist gegeben, wenn wir an-
nehmen, er wirke wie ein einmaliger Stoß; er kann dann
auch durch eine einmalige zweckmäßige Aktion erledigt wer-
den, als deren Typus die motorische Flucht vor der Reiz-
quelle hinzustellen ist. Natürlich können sich diese Stöße
auch wiederholen und summieren, aber das ändert nichts
an der Auffassung des Vorganges und an den Bedingungen
der Reizaufhebung. Der Trieb hingegen wirkt nie wie
eine momentane Stoßkraft, sondern immer wie eine
konstante Kraft. Da er nicht von außen, sondern vom Körper-
innern her angreift, kann auch keine Flucht gegen ihn nützen.
Wir heißen den Triebreiz besser „Bedürfnis“; was dieses
Bedürfnis aufhebt, ist die „Befriedigung“. Sie kann nur
durch eine zielgerechte (adäquate) Veränderung der inneren
Reizquelle gewonnen werden.Stellen wir uns auf den Standpunkt eines fast völlig
hilflosen, in der Welt noch unorientierten Lebewesens, welches
Reize in seiner Nervensubstanz auffängt. Dies Wesen wird
sehr bald in die Lage kommen, eine erste Unterscheidung
zu machen und eine erste Orientierung zu gewinnen. Es wird*)Vorausgesetzt nämlich, daß diese inneren Vorgänge die orga-
nischen Grundlagen der Bedürfnisse Durst und Hunger sind.S.
255
einerseits Reize verspüren, denen es sich durch eine Muskel-
aktion (Flucht) entziehen kann, diese Reize rechnet es zu
einer Außenwelt; anderseits aber auch noch Reize, gegen
welche eine solche Aktion nutzlos bleibt, die trotzdem ihren
konstant drängenden Charakter behalten; diese Reize sind
das Kennzeichen einer Innenwelt, der Beweis für Trieb-
bedürfnisse. Die wahrnehmende Substanz des Lebewesens
wird so an der Wirksamkeit ihrer Muskeltätigkeit einen An-
haltspunkt gewonnen haben, um ein „außen“ von einem
„innen“ zu scheiden.Wir finden also das Wesen des Triebes zunächst in
seinen Hauptcharakteren, der Herkunft von Reizquellen im
Innern des Organismus, dem Auftreten als konstante Kraft,
und leiten davon eines seiner weiteren Merkmale, seine Un-
bezwingbarkeit durch Fluchtaktionen ab. Während dieser
Erörterungen mußte uns aber etwas auffallen, was uns ein
weiteres Eingeständnis abnötigt. Wir bringen nicht nur ge-
wisse Konventionen als Grundbegriffe an unser Erfahrungs-
material heran, sondern bedienen uns auch mancher kompli-
zierter Voraussetzungen, um uns bei der Bearbeitung
der psychologischen Erscheinungswelt leiten zu lassen. Die
wichtigste dieser Voraussetzungen haben wir bereits an-
geführt; es erübrigt uns nur noch, sie ausdrücklich hervorzuheben.
Sie ist biologischer Natur, arbeitet mit dem Begriff der
Tendenz (eventuell der Zweckmäßigkeit) und lautet: Das
Nervensystem ist ein Apparat, dem die Funktion erteilt ist,
die anlangenden Reize wieder zu beseitigen, auf möglichst
niedriges Niveau herabzusetzen, oder der, wenn es nur mög-
lich wäre, sich überhaupt reizlos erhalten wollte. Nehmen
wir an der Unbestimmtheit dieser Idee vorläufig keinen An-
stoß und geben wir dem Nervensystem die Aufgabe – allgemeinS.
256
gesprochen: der Reizbewältigung. Wir sehen
dann, wie sehr die Einführung der Triebe das einfache phy-
siologische Reflexschema kompliziert. Die äußeren Reize
stellen nur die eine Aufgabe, sich ihnen zu entziehen, dies
geschieht dann durch Muskelbewegungen, von denen endlich
eine das Ziel erreicht und dann als die zweckmäßige zur er-
blichen Disposition wird. Die im Innern des Organismus ent-
stehenden Triebreize sind durch diesen Mechanismus nicht
zu erledigen. Sie stellen also weit höhere Anforderungen an
das Nervensystem, veranlassen es zu verwickelten, ineinander
greifenden Tätigkeiten, welche die Außenwelt so weit ver-
ändern, daß sie der inneren Reizquelle die Befriedigung bietet,
und nötigen es vor allem, auf seine ideale Absicht der Reiz-
fernhaltung zu verzichten, da sie eine unvermeidliche konti-
nuierliche Reizzufuhr unterhalten. Wir dürfen also wohl
schließen, daß sie, die Triebe, und nicht die äußeren Reize,
die eigentlichen Motoren der Fortschritte sind, welche das
so unendlich leistungsfähige Nervensystem auf seine gegen-
wärtige Entwicklungshöhe gebracht haben. Natürlich steht
nichts der Annahme im Wege, daß die Triebe selbst, wenig-
stens zum Teil, Niederschläge äußerer Reizwirkungen sind,
welche im Laufe der Phylogenese auf die lebende Substanz
verändernd einwirkten.Wenn wir dann finden, daß die Tätigkeit auch der höchst-
entwickelten Seelenapparate dem Lustprinzip unterliegt,
d. h. durch Empfindungen der Lust‑Unlustreihe automatisch
reguliert wird, so können wir die weitere Voraussetzung
schwerlich abweisen, daß diese Empfindungen die Art, wie
die Reizbewältigung vor sich geht, wiedergeben. Sicherlich
in dem Sinne, daß die Unlustempfindung mit Steigerung, die
Lustempfindung mit Herabsetzung des Reizes zu tun hat.S.
257
Die weitgehende Unbestimmtheit dieser Annahme wollen wir
aber sorgfältig festhalten, bis es uns etwa gelingt, die Art
der Beziehung zwischen Lust‑Unlust und den Schwankungen
der auf das Seelenleben wirkenden Reizgrößen zu erraten.
Es sind gewiß sehr mannigfache und nicht sehr einfache
solcher Beziehungen möglich.Wenden wir uns nun von der biologischen Seite her der
Betrachtung des Seelenlebens zu, so erscheint uns der „Trieb“
als ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem,
als psychischer Repräsentant der aus dem Körperinnern stam-
menden, in die Seele gelangenden Reize, als ein Maß der
Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zu-
sammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist.Wir können nun einige Termini diskutieren, welche im
Zusammenhang mit dem Begriffe Trieb gebraucht werden,
wie: Drang, Ziel, Objekt, Quelle des Triebes.Unter dem Drange eines Triebes versteht man dessen
motorisches Moment, die Summe von Kraft oder das Maß
von Arbeitsanforderung, das er repräsentiert. Der Charakter
des Drängenden ist eine allgemeine Eigenschaft der Triebe,
ja das Wesen derselben. Jeder Trieb ist ein Stück Aktivität;
wenn man lässigerweise von passiven Trieben spricht, kann
man nichts anderes meinen als Triebe mit passivem Ziele.Das Ziel eines Triebes ist allemal die Befriedigung, die
nur durch Aufhebung des Reizzustandes an der Triebquelle
erreicht werden kann. Aber wenn auch dies Endziel für jeden
Trieb unveränderlich bleibt, so können doch verschiedene
Wege zum gleichen Endziel führen, so daß sich mannigfache
nähere oder intermediäre Ziele für einen Trieb ergeben können,
die miteinander kombiniert oder gegeneinander vertauscht
werden. Die Erfahrung gestattet uns auch, von „zielgehemmten“S.
258
Trieben zu sprechen bei Vorgängen, die ein
Stück weit in der Richtung der Triebbefriedigung zugelassen
werden, dann aber eine Hemmung oder Ablenkung erfahren.
Es ist anzunehmen, daß auch mit solchen Vorgängen eine
partielle Befriedigung verbunden ist.Das Objekt des Triebes ist dasjenige, an welchem oder
durch welches der Trieb sein Ziel erreichen kann. Es ist
das variabelste am Triebe, nicht ursprünglich mit ihm ver-
knüpft, sondern ihm nur infolge seiner Eignung zur Ermög-
lichung der Befriedigung zugeordnet. Es ist nicht notwendig
ein fremder Gegenstand, sondern ebensowohl ein Teil des
eigenen Körpers. Es kann im Laufe der Lebensschicksale
des Triebes beliebig oft gewechselt werden; dieser Verschie-
bung des Triebes fallen die bedeutsamsten Rollen zu. Es kann
der Fall vorkommen, daß dasselbe Objekt gleichzeitig meh-
reren Trieben zur Befriedigung dient, nach Alf. Adler der
Fall der Triebverschränkung. Eine besonders innige
Bindung des Triebes an das Objekt wird als Fixierung
desselben hervorgehoben. Sie vollzieht sich oft in sehr
frühen Perioden der Triebentwicklung und macht der Beweg-
lichkeit des Triebes ein Ende, indem sie der Lösung intensiv
widerstrebt.Unter der Quelle des Triebes versteht man jenen soma-
tischen Vorgang in einem Organ oder Körperteil, dessen Reiz
im Seelenleben durch den Trieb repräsentiert ist. Es ist un-
bekannt, ob dieser Vorgang regelmäßig chemischer Natur ist
oder auch der Entbindung anderer, z. B. mechanischer Kräfte
entsprechen kann. Das Studium der Triebquellen gehört der
Psychologie nicht mehr an; obwohl die Herkunft aus der
somatischen Quelle das schlechtweg Entscheidende für den
Trieb ist, wird er uns im Seelenleben doch nicht anders alsS.
259
durch seine Ziele bekannt. Die genauere Erkenntnis der Trieb-
quellen ist für die Zwecke der psychologischen Forschung
nicht durchwegs erforderlich. Manchmal ist der Rückschluß
aus den Zielen des Triebes auf dessen Quellen gesichert.Soll man annehmen, daß die verschiedenen aus dem
Körperlichen stammenden, auf das Seelische wirkenden
Triebe auch durch verschiedene Qualitäten ausgezeichnet
sind und darum in qualitativ verschiedener Art sich im
Seelenleben benehmen? Es scheint nicht gerechtfertigt; man
reicht vielmehr mit der einfacheren Annahme aus, daß die
Triebe alle qualitativ gleichartig sind und ihre Wirkung nur
den Erregungsgrößen, die sie führen, verdanken, vielleicht
noch gewissen Funktionen dieser Quantität. Was die psy-
chischen Leistungen der einzelnen Triebe voneinander unter-
scheidet, läßt sich auf die Verschiedenheit der Triebquellen
zurückführen. Es kann allerdings erst in einem späteren Zu-
sammenhange klargelegt werden, was das Problem der Trieb-
qualität bedeutet.Welche Triebe darf man aufstellen und wie viele? Da-
bei ist offenbar der Willkür ein weiter Spielraum gelassen.
Man kann nichts dagegen einwenden, wenn jemand den Be-
griff eines Spieltriebes, Destruktionstriebes, Geselligkeits-
triebes in Anwendung bringt, wo der Gegenstand es fordert
und die Beschränkung der psychologischen Analyse es zu-
läßt. Man sollte aber die Frage nicht außer acht lassen,
ob diese einerseits so sehr spezialisierten Triebmotive nicht
eine weitere Zerlegung in der Richtung nach den Triebquellen
gestatten, so daß nur die weiter nicht zerlegbaren Urtriebe
eine Bedeutung beanspruchen können.Ich habe vorgeschlagen, von solchen Urtrieben zwei
Gruppen zu unterscheiden, die der Ich- oder SelbsterhaltungstriebeS.
260
und die der Sexualtriebe. Dieser
Aufstellung kommt aber nicht die Bedeutung einer notwen-
digen Voraussetzung zu, wie z. B. der Annahme über die bio-
logische Tendenz des seelischen Apparates (s. o.); sie ist
eine bloße Hilfskonstruktion, die nicht länger festgehalten
werden soll, als sie sich nützlich erweist, und deren Ersetzung
durch eine andere an den Ergebnissen unserer beschreibenden
und ordnenden Arbeit wenig ändern wird. Der Anlaß zu
dieser Aufstellung hat sich aus der Entwicklungsgeschichte
der Psychoanalyse ergeben, welche die Psychoneurosen, und
zwar die als „Übertragungsneurosen“ zu bezeichnende Gruppe
derselben (Hysterie und Zwangsneurose) zum ersten Objekt
nahm und an ihnen zur Einsicht gelangte, daß ein Konflikt
zwischen den Ansprüchen der Sexualität und denen des Ichs
an der Wurzel jeder solchen Affektion zu finden sei. Es ist
immerhin möglich, daß ein eindringendes Studium der an-
deren neurotischen Affektionen (vor allem der narzißtischen
Psychoneurosen: der Schizophrenien) zu einer Abänderung
dieser Formel und somit zu einer anderen Gruppierung der
Urtriebe nötigen wird. Aber gegenwärtig kennen wir diese
neue Formel nicht und haben auch noch kein Argument ge-
funden, welches der Gegenüberstellung von Ich‑ und Sexual-
trieben ungünstig wäre.Es ist mir überhaupt zweifelhaft, ob es möglich sein
wird, auf Grund der Bearbeitung des psychologischen Ma-
terials entscheidende Winke zur Scheidung und Klassifizie-
rung der Triebe zu gewinnen. Es erscheint vielmehr notwen-
dig, zum Zwecke dieser Bearbeitung bestimmte Annahmen
über das Triebleben an das Material heranzubringen, und es
wäre wünschenswert, daß man diese Annahmen einem an-
deren Gebiete entnehmen könnte, um sie auf die PsychologieS.
261
zu übertragen. Was die Biologie hiefür leistet, läuft der
Sonderung von Ich‑ und Sexualtrieben gewiß nicht zuwider.
Die Biologie lehrt, daß die Sexualität nicht gleichzustellen
ist den anderen Funktionen des Individuums, da ihre Ten-
denzen über das Individuum hinausgehen und die Produktion
neuer Individuen, also die Erhaltung der Art, zum Inhalt
haben. Sie zeigt uns ferner, daß zwei Auffassungen des Ver-
hältnisses zwischen Ich und Sexualität wie gleichberechtigt
nebeneinanderstehen, die eine, nach welcher das Individuum
die Hauptsache ist und die Sexualität als eine seiner Be-
tätigungen, die Sexualbefriedigung als eines seiner Bedürf-
nisse wertet, und eine andere, derzufolge das Individuum ein
zeitweiliger und vergänglicher Anhang an das quasi unsterb-
liche Keimplasma ist, welches ihm von der Generation an-
vertraut wurde. Die Annahme, daß sich die Sexualfunktion
durch einen besonderen Chemismus von den anderen Körper-
vorgängen scheidet, bildet, soviel ich weiß, auch eine Voraus-
setzung der Ehrlichschen biologischen Forschung.Da das Studium des Trieblebens vom Bewußtsein her
kaum übersteigbare Schwierigkeiten bietet, bleibt die psycho-
analytische Erforschung der Seelenstörungen die Hauptquelle
unserer Kenntnis. Ihrem Entwicklungsgang entsprechend hat
uns aber die Psychoanalyse bisher nur über die Sexualtriebe
einigermaßen befriedigende Auskünfte bringen können, weil
sie gerade nur diese Triebgruppe an den Psychoneurosen wie
isoliert beobachten konnte. Mit der Ausdehnung der Psycho-
analyse auf die anderen neurotischen Affektionen wird ge-
wiß auch unsere Kenntnis der Ichtriebe begründet werden,
obwohl es vermessen erscheint, auf diesem weiteren For-
schungsgebiete ähnlich günstige Bedingungen für die Beob-
achtung zu erwarten.S.
262
Zu einer allgemeinen Charakteristik der Sexualtriebe
kann man folgendes aussagen: Sie sind zahlreich, entstam-
men vielfältigen organischen Quellen, betätigen sich zunächst
unabhängig voneinander und werden erst spät zu einer mehr
oder minder vollkommenen Synthese zusammengefaßt. Das
Ziel, das jeder von ihnen anstrebt, ist die Erreichung der
Organlust; erst nach vollzogener Synthese treten sie in
den Dienst der Fortpflanzungsfunktion, womit sie dann
als Sexualtriebe allgemein kenntlich werden. Bei ihrem er-
sten Auftreten lehnen sie sich zuerst an die Erhaltungstriebe
an, von denen sie sich erst allmählich ablösen, folgen auch
bei der Objektfindung den Wegen, die ihnen die Ichtriebe
weisen. Ein Anteil von ihnen bleibt den Ichtrieben zeitlebens
gesellt und stattet diese mit libidinösen Komponenten
aus, welche während der normalen Funktion leicht übersehen
und erst durch die Erkrankung klargelegt werden. Sie sind
dadurch ausgezeichnet, daß sie in großem Ausmaße vika-
riierend füreinander eintreten und leicht ihre Objekte wech-
seln können. Infolge der letztgenannten Eigenschaften sind
sie zu Leistungen befähigt, die weitab von ihren ursprüng-
lichen Zielhandlungen liegen. (Sublimierung.)Die Untersuchung, welche Schicksale Triebe im Laufe
der Entwicklung und des Lebens erfahren können, werden
wir auf die uns besser bekannten Sexualtriebe einschränken
müssen. Die Beobachtung lehrt uns als solche Triebschicksale
folgende kennen:Die Verkehrung ins Gegenteil.
Die Wendung gegen die eigene Person.
Die Verdrängung.
Die Sublimierung.
S.
263
Da ich die Sublimierung hier nicht zu behandeln gedenke,
die Verdrängung aber ein besonderes Kapitel beansprucht,
erübrigt uns nur Beschreibung und Diskussion der beiden
ersten Punkte. Mit Rücksicht auf Motive, welche einer
direkten Fortsetzung der Triebe entgegenwirken, kann man
die Triebschicksale auch als Arten der Abwehr gegen die
Triebe darstellen.Die Verkehrung ins Gegenteil löst sich bei näherem
Zusehen in zwei verschiedene Vorgänge auf, in die Wen-
dung eines Triebes von der Aktivität zur Passivität
und in die inhaltliche Verkehrung. Beide Vorgänge
sind, weil wesensverschieden, auch gesondert zu behandeln.Beispiele für den ersteren Vorgang ergeben die Gegen-
satzpaare Sadismus‑Masochismus und Schaulust‑Exhibition.
Die Verkehrung betrifft nur die Ziele des Triebes; für das
aktive Ziel: quälen, beschauen, wird das passive: gequält
werden, beschaut werden eingesetzt. Die inhaltliche Ver-
kehrung findet sich in dem einen Falle der Verwandlung
des Liebens in ein Hassen.Die Wendung gegen die eigene Person wird uns
durch die Erwägung nahegelegt, daß der Masochismus ja ein
gegen das eigene Ich gewendeter Sadismus ist, die Exhibition
das Beschauen des eigenen Körpers mit einschließt. Die ana-
lytische Beobachtung läßt auch keinen Zweifel daran be-
stehen, daß der Masochist das Wüten gegen seine Person,
der Exhibitionist das Entblößen derselben mitgenießt. Das
Wesentliche an dem Vorgang ist also der Wechsel des
Objektes bei ungeändertem Ziel.Es kann uns indes nicht entgehen, daß Wendung gegen
die eigene Person und Wendung von der Aktivität zur Passi-
vität in diesen Beispielen zusammentreffen oder zusammenfallen.S.
264
Zur Klarstellung der Beziehungen wird eine gründ-
lichere Untersuchung unerläßlich.Beim Gegensatzpaar Sadismus‑Masochismus kann man
den Vorgang folgendermaßen darstellen:a) Der Sadismus besteht in Gewalttätigkeit, Macht-
betätigung gegen eine andere Person als Objekt.b) Dieses Objekt wird aufgegeben und durch die eigene
Person ersetzt. Mit der Wendung gegen die eigene Person
ist auch die Verwandlung des aktiven Triebzieles in ein
passives vollzogen.c) Es wird neuerdings eine fremde Person als Objekt
gesucht, welche infolge der eingetretenen Zielverwandlung
die Rolle des Subjekts übernehmen muß.Fall c ist der des gemeinhin so genannten Masochismus.
Die Befriedigung erfolgt auch bei ihm auf dem Wege des
ursprünglichen Sadismus, indem sich das passive Ich phan-
tastisch in seine frühere Stelle versetzt, die jetzt dem frem-
den Subjekt überlassen ist. Ob es auch eine direktere maso-
chistische Befriedigung gibt, ist durchaus zweifelhaft. Ein
ursprünglicher Masochismus, der nicht auf die beschriebene
Art aus dem Sadismus entstanden wäre, scheint nicht vor-
zukommen. Daß die Annahme der Stufe b nicht überflüssig
ist, geht wohl aus dem Verhalten des sadistischen Triebes
bei der Zwangsneurose hervor. Hier findet sich die Wen-
dung gegen die eigene Person ohne die Passivität gegen eine
neue. Die Verwandlung geht nur bis zur Stufe b. Aus der
Quälsucht wird Selbstquälerei, Selbstbestrafung, nicht Maso-
chismus. Das aktive Verbum wandelt sich nicht in das Passi-
vum, sondern in ein reflexives Medium.Die Auffassung des Sadismus wird auch durch den Um-
stand beeinträchtigt, daß dieser Trieb neben seinem allgemeinenS.
265
Ziel (vielleicht besser: innerhalb desselben) eine
ganz spezielle Zielhandlung anzustreben scheint. Neben der
Demütigung, Überwältigung, die Zufügung von Schmerzen.
Nun scheint die Psychoanalyse zu zeigen, daß das Schmerz-
zufügen unter den ursprünglichen Zielhandlungen des Trie-
bes keine Rolle spielt. Das sadistische Kind zieht die Zu-
fügung von Schmerzen nicht in Betracht und beabsichtigt
sie nicht. Wenn sich aber einmal die Umwandlung in Maso-
chismus vollzogen hat, eignen sich die Schmerzen sehr
wohl, ein passives masochistisches Ziel abzugeben, denn wir
haben allen Grund anzunehmen, daß auch die Schmerz‑ wie
andere Unlustempfindungen auf die Sexualerregung über-
greifen und einen lustvollen Zustand erzeugen, um dessent-
willen man sich auch die Unlust des Schmerzes gefallen
lassen kann. Ist das Empfinden von Schmerzen einmal ein
masochistisches Ziel geworden, so kann sich rückgreifend
auch das sadistische Ziel, Schmerzen zuzufügen, ergeben, die
man, während man sie anderen erzeugt, selbst masochistisch
in der Identifizierung mit dem leidenden Objekt genießt.
Natürlich genießt man in beiden Fällen nicht den Schmerz
selbst, sondern die ihn begleitende Sexualerregung, und dies
dann als Sadist besonders bequem. Das Schmerzgenießen
wäre also ein ursprünglich masochistisches Ziel, das aber nur
beim ursprünglich Sadistischen zum Triebziele werden kann.Der Vollständigkeit zuliebe füge ich an, daß das Mitleid
nicht als ein Ergebnis der Triebverwandlung beim
Sadismus beschrieben werden kann, sondern die Auffassung
einer Reaktionsbildung gegen den Trieb (über den Un-
terschied s. später) erfordert.Etwas andere und einfachere Ergebnisse liefert die Un-
tersuchung eines anderen Gegensatzpaares, der Triebe, dieS.
266
das Schauen und Sichzeigen zum Ziele haben. (Voyeur und
Exhibitionist in der Sprache der Perversionen). Auch hier
kann man die nämlichen Stufen aufstellen wie im vorigen
Falle: a) Das Schauen als Aktivität gegen ein fremdes
Objekt gerichtet; b) das Aufgeben des Objektes, die Wen-
dung des Schautriebes gegen einen Teil des eigenen Kör-
pers, damit die Verkehrung in Passivität und die Aufstellung
des neuen Zieles: beschaut zu werden; c) die Einsetzung
eines neuen Subjektes, dem man sich zeigt, um von ihm be-
schaut zu werden. Es ist auch kaum zweifelhaft, daß das
aktive Ziel früher auftritt als das passive, das Schauen dem
Beschautwerden vorangeht. Aber eine bedeutsame Abweichung
vom Falle des Sadismus liegt darin, daß beim Schautrieb
eine noch frühere Stufe als die mit a bezeichnete zu erkennen
ist. Der Schautrieb ist nämlich zu Anfang seiner Betätigung
autoerotisch, er hat wohl ein Objekt, aber er findet es am
eigenen Körper. Erst späterhin wird er dazu geleitet (auf
dem Wege der Vergleichung), dies Objekt mit einem ana-
logen des fremden Körpers zu vertauschen (Stufe a). Diese
Vorstufe ist nun dadurch interessant, daß aus ihr die bei-
den Situationen des resultierenden Gegensatzpaares hervor-
gehen, je nachdem der Wechsel an der einen oder anderen
Stelle vorgenommen wird. Das Schema für den Schautrieb
könnte lauten:α) Selbst ein Sexualglied beschauen = Sexualglied von eigener Person
beschaut werden| | β) Selbst fremdes Objekt beschauen
(aktive Schaulust)γ) Eigenes Objekt von fremder
Person beschaut werden.
(Zeigelust, Exhibition).Eine solche Vorstufe fehlt dem Sadismus, der sich von
vornherein auf ein fremdes Objekt richtet, obwohl es nichtS.
267
gerade widersinnig wäre, sie aus den Bemühungen des Kin-
des, das seiner eigenen Glieder Herr werden will, zu kon-
struieren.Für beide hier betrachteten Triebbeispiele gilt die Be-
merkung, daß die Triebverwandlung durch Verkehrung der
Aktivität in Passivität und Wendung gegen die eigene Person
eigentlich niemals am ganzen Betrag der Triebregung vor-
genommen wird. Die ältere, aktive Triebrichtung bleibt in
gewissem Ausmaße neben der jüngeren passiven bestehen,
auch wenn der Prozeß der Triebumwandlung sehr ausgiebig
ausgefallen ist. Die einzig richtige Aussage über den Schau-
trieb müßte lauten, daß alle Entwicklungsstufen des Triebes,
die autoerotische Vorstufe wie die aktive und passive End-
gestaltung nebeneinander bestehen bleiben, und diese Be-
hauptung wird evident, wenn man anstatt der Triebhandlun-
gen den Mechanismus der Befriedigung zur Grundlage seines
Urteiles nimmt. Vielleicht ist übrigens noch eine andere
Auffassungs‑ und Darlegungsweise gerechtfertigt. Man kann
sich jedes Triebleben in einzelne zeitlich geschiedene und
innerhalb der (beliebigen) Zeiteinheit gleichartige Schübe
zerlegen, die sich etwa zueinander verhalten wie sukzessive
Lavaeruptionen. Dann kann man sich etwa vorstellen, die
erste und ursprünglichste Trieberuption setze sich ungeän-
dert fort und erfahre überhaupt keine Entwicklung. Ein
nächster Schub unterliege von Anfang an einer Veränderung,
etwa der Wendung zur Passivität, und addiere sich nun mit
diesem neuen Charakter zum früheren hinzu usw. Überblickt
man dann die Triebregung von ihrem Anfang an bis zu einem
gewissen Haltepunkt, so muß die beschriebene Sukzession der
Schübe das Bild einer bestimmten Entwicklung des Trie-
bes ergeben.S.
268
Die Tatsache, daß zu jener späteren Zeit der Ent-
wicklung neben einer Triebregung ihr (passiver) Gegensatz
zu beobachten ist, verdient die Hervorhebung durch den
trefflichen, von Bleuler eingeführten Namen: Ambivalenz.Die Triebentwicklung wäre unserem Verständnis durch
den Hinweis auf die Entwicklungsgeschichte des Triebes
und die Permanenz der Zwischenstufen nahe gerückt. Das
Ausmaß der nachweisbaren Ambivalenz wechselt erfahrungs-
gemäß in hohem Grade bei Individuen, Menschengruppen
oder Rassen. Eine ausgiebige Triebambivalenz bei einem
heute Lebenden kann als archaisches Erbteil aufgefaßt wer-
den, da wir Grund zur Annahme haben, der Anteil der un-
verwandelten aktiven Regungen am Triebleben sei in Ur-
zeiten größer gewesen als durchschnittlich heute.Wir haben uns daran gewöhnt, die frühe Entwicklungs-
phase des Ichs, während welcher dessen Sexualtriebe sich
autoerotisch befriedigen, Narzißmus zu heißen, ohne zu-
nächst die Beziehung zwischen Autoerotismus und Narziß-
mus in Diskussion zu ziehen. Dann müssen wir von der
Vorstufe des Schautriebes, auf der die Schaulust den eigenen
Körper zum Objekt hat, sagen, sie gehöre dem Narzißmus
an, sei eine narzißtische Bildung. Aus ihr entwickel sich
der aktive Schautrieb, indem er den Narzißmus verläßt, der
passive Schautrieb halte aber das narzißtische Objekt fest.
Ebenso bedeute die Umwandlung des Sadismus in Maso-
chismus eine Rückkehr zum narzißtischen Objekt, während
in beiden Fällen das narzißtische Subjekt durch Identifizie-
rung mit einem anderen fremden Ich vertauscht wird. Mit
Rücksichtnahme auf die konstruierte narzißtische Vorstufe
des Sadismus nähern wir uns so der allgemeineren Einsicht,S.
269
daß die Triebschicksale der Wendung gegen das eigene Ich
und der Verkehrung von Aktivität in Passivität von der nar-
zißtischen Organisation des Ichs abhängig sind und den
Stempel dieser Phase an sich tragen. Sie entsprechen viel-
leicht den Abwehrversuchen, die auf höheren Stufen der
Ichentwicklung mit anderen Mitteln durchgeführt werden.Wir besinnen uns hier, daß wir bisher nur die zwei
Triebgegensatzpaare: Sadismus‑Masochismus und Schau-
lust‑Zeigelust in Erörterung gezogen haben. Es sind dies
die bestbekannten ambivalent auftretenden Sexualtriebe. Die
anderen Komponenten der späteren Sexualfunktion sind der
Analyse noch nicht genug zugänglich geworden, um sie in
ähnlicher Weise diskutieren zu können. Wir können von
ihnen allgemein aussagen, daß sie sich autoerotisch be-
tätigen, d. h., ihr Objekt verschwindet gegen das Organ, das
ihre Quelle ist, und fällt in der Regel mit diesem zusammen.
Das Objekt des Schautriebes, obwohl auch zuerst ein Teil
des eigenen Körpers, ist doch nicht das Auge selbst, und
beim Sadismus weist die Organquelle, wahrscheinlich die
aktionsfähige Muskulatur, direkt auf ein anderes Objekt, sei
es auch am eigenen Körper, hin. Bei den autoerotischen Trie-
ben ist die Rolle der Organquelle so ausschlaggebend, daß
nach einer ansprechenden Vermutung von P. Federn und
L. Jekels*) Form und Funktion des Organs über die Akti-
vität und Passivität des Triebzieles entscheiden.Die Verwandlung eines Triebes in sein (materielles) Ge-
genteil wird nur in einem Falle beobachtet, bei der Umsetzung
von Liebe und Haß. Da diese beiden besonders häufig
gleichzeitig auf dasselbe Objekt gerichtet vorkommen, ergibt*)Diese Zeitschr. I., 1913.
S.
270
diese Koexistenz auch das bedeutsamste Beispiel einer Ge-
fühlsambivalenz.Der Fall von Liebe und Haß erwirbt ein besonderes
Interesse durch den Umstand, daß er der Einreihung in
unsere Darstellung der Triebe widerstrebt. Man kann an der
innigsten Beziehung zwischen diesen beiden Gefühlsgegen-
sätzen und dem Sexualleben nicht zweifeln, muß sich aber
natürlich dagegen sträuben, das Lieben etwa als einen be-
sonderen Partialtrieb der Sexualität wie die anderen aufzu-
fassen. Man möchte eher das Lieben als den Ausdruck der
ganzen Sexualstrebung ansehen, kommt aber auch damit nicht
zurecht und weiß nicht, wie man ein materielles Gegenteil
dieser Strebung verstehen soll.Das Lieben ist nicht nur eines, sondern dreier Gegen-
sätze fähig. Außer dem Gegensatz: lieben‑hassen gibt es
den anderen: lieben‑geliebt werden, und überdies setzen
sich lieben und hassen zusammengenommen dem Zustande
der Indifferenz oder Gleichgültigkeit entgegen. Von diesen
drei Gegensätzen entspricht der zweite, der von lieben‑
geliebt werden, durchaus der Wendung von der Aktivität
zur Passivität und läßt auch die nämliche Zurückführung
auf eine Grundsituation wie beim Schautrieb zu. Diese heißt:
sich selbst lieben, was für uns die Charakteristik des
Narzißmus ist. Je nachdem nun das Objekt oder das Subjekt
gegen ein fremdes vertauscht wird, ergibt sich die aktive
Zielstrebung des Liebens oder die passive des Geliebtwerdens,
von denen die letztere dem Narzißmus nahe verbleibt.Vielleicht kommt man dem Verständnis der mehrfachen
Gegenteile des Liebens näher, wenn man sich besinnt, daß
das seelische Leben überhaupt von drei Polaritäten be-
herrscht wird, den Gegensätzen von:S.
271
Subjekt (Ich)‑Objekt (Außenwelt).
Lust‑Unlust.
Aktiv‑Passiv.
Der Gegensatz von Ich‑Nicht‑Ich (Außen), (Subjekt‑
Objekt), wird dem Einzelwesen, wie wir bereits erwähnt haben,
frühzeitig aufgedrängt durch die Erfahrung, daß es Außen-
reize durch seine Muskelaktion zum Schweigen bringen kann,
gegen Triebreize aber wehrlos ist. Er bleibt vor allem in
der intellektuellen Betätigung souverän und schafft die Grund-
situation für die Forschung, die durch kein Bemühen abge-
ändert werden kann. Die Polarität von Lust‑Unlust haftet
an einer Empfindungsreihe, deren unübertroffene Bedeutung
für die Entscheidung unserer Aktionen (Wille) bereits be-
tont worden ist. Der Gegensatz von Aktiv‑Passiv ist nicht
mit dem von Ich‑Subjekt – Außen‑Objekt zu verwechseln. Das
Ich verhält sich passiv gegen die Außenwelt, insoweit es
Reize von ihr empfängt, aktiv, wenn es auf dieselben reagiert.
Zu ganz besonderer Aktivität gegen die Außenwelt wird es
durch seine Triebe gezwungen, so daß man unter Hervor-
hebung des Wesentlichen sagen könnte: Das Ich‑Subjekt sei
passiv gegen die äußeren Reize, aktiv durch seine eigenen
Triebe. Der Gegensatz Aktiv‑Passiv verschmilzt späterhin
mit dem von Männlich‑Weiblich, der, ehe dies geschehen
ist, keine psychologische Bedeutung hat. Die Verlötung der
Aktivität mit der Männlichkeit, der Passivität mit der Weib-
lichkeit tritt uns nämlich als biologische Tatsache entgegen;
sie ist aber keineswegs so regelmäßig durchgreifend und aus-
schließlich, wie wir anzunehmen geneigt sind.Die drei seelischen Polaritäten gehen die bedeutsamsten
Verknüpfungen miteinander ein. Es gibt eine psychische Ur-
situation, in welcher zwei derselben zusammentreffen. DasS.
272
Ich findet sich ursprünglich, zu allem Anfang des Seelen-
lebens, triebbesetzt und zum Teil fähig, seine Triebe an sich
selbst zu befriedigen. Wir heißen diesen Zustand den des
Narzißmus, die Befriedigungsmöglichkeit die autoerotische.*)
Die Außenwelt ist derzeit nicht mit Interesse (allgemein ge-
sprochen) besetzt und für die Befriedigung gleichgültig. Es
fällt also um diese Zeit das Ich-Subjekt mit dem Lustvollen,
die Außenwelt mit dem Gleichgültigen (eventuell als Reiz-
quelle Unlustvollen) zusammen. Definieren wir zunächst das
Lieben als die Relation des Ichs zu seinen Lustquellen, so
erläutert die Situation, in der es nur sich selbst liebt und
gegen die Welt gleichgültig ist, die erste der Gegensatz-
beziehungen, in denen wir das „Lieben“ gefunden haben.Das Ich bedarf der Außenwelt nicht, insofern es auto-
erotisch ist, es bekommt aber Objekte aus ihr infolge der
Erlebnisse der Icherhaltungstriebe und kann doch nicht um-
hin, innere Triebreize als unlustvoll für eine Zeit zu ver-
spüren. Unter der Herrschaft des Lustprinzips vollzieht sich
nun in ihm eine weitere Entwicklung. Es nimmt die dar-
gebotenen Objekte, insofern sie Lustquellen sind, in sein Ich
auf, introjiziert sich dieselben (nach dem Ausdrucke
Ferenczis) und stößt anderseits von sich aus, was ihm im*)Ein Anteil der Sexualtriebe ist, wie wir wissen, dieser auto-
erotischen Befriedigung fähig, eignet sich also zum Träger der nach-
stehend geschilderten Entwicklung unter der Herrschaft des Lustprinzips.
Die Sexualtriebe, welche von vornherein ein Objekt fordern, und die
autoerotisch niemals zu befriedigenden Bedürfnisse der Ichtriebe stören
natürlich diesen Zustand und bereiten die Fortschritte vor. Ja, der nar-
zißtische Urzustand könnte nicht jene Entwicklung nehmen, wenn nicht
jedes Einzelwesen eine Periode von Hilflosigkeit und Pflege durch-
machte, während dessen seine drängenden Bedürfnisse durch Dazutun
von Außen befriedigt und somit von der Entwicklung abgehalten würden.S.
273
eigenen Innern Unlustanlaß wird. (Siehe später den Mecha-
nismus der Projektion.)Es wandelt sich so aus dem anfänglichen Real‑Ich, wel-
ches Innen und Außen nach einem guten objektiven Kenn-
zeichen unterschieden hat, in ein purifiziertes Lust‑Ich,
welches den Lustcharakter über jeden anderen setzt. Die
Außenwelt zerfällt ihm in einen Lustanteil, den es sich ein-
verleibt hat, und einen Rest, der ihm fremd ist. Aus dem
eigenen Ich hat es einen Bestandteil ausgesondert, den es
in die Außenwelt wirft und als feindlich empfindet. Nach
dieser Umordnung ist die Deckung der beiden PolaritätenIch‑Subjekt – mit Lust
Außenwelt – mit Unlust (von früher her Indifferenz)
wieder hergestellt.Mit dem Eintreten des Objekts in die Stufe des primären
Narzißmus erreicht auch der zweite Gegensinn des Liebens,
das Hassen, seine Ausbildung.Das Objekt wird dem Ich, wie wir gehört haben, zuerst
von den Selbsterhaltungstrieben aus der Außenwelt gebracht,
und es ist nicht abzuweisen, daß auch der ursprüngliche
Sinn des Hassens die Relation gegen die fremde und reiz-
zuführende Außenwelt bedeutet. Die Indifferenz ordnet sich
dem Haß, der Abneigung, als Spezialfall ein, nachdem sie
zuerst als dessen Vorläufer aufgetreten ist. Das Äußere, das
Objekt, das Gehaßte wären zu allem Anfang identisch. Er-
weist sich späterhin das Objekt als Lustquelle, so wird es
geliebt, aber auch dem Ich einverleibt, so daß für das pari-
fizierte Lust-Ich das Objekt doch wiederum mit dem Frem-
den und Gehaßten zusammenfällt.Wir merken aber jetzt auch, wie das Gegensatzpaar
Liebe‑Indifferenz die Polarität Ich‑Außenwelt spiegelt, soS.
274
reproduziert der zweite Gegensatz Liebe‑Haß die mit der
ersteren verknüpfte Polarität von Lust‑Unlust. Nach der
Ablösung der rein narzißtischen Stufe durch die Objektstufe
bedeuten Lust und Unlust Relationen des Ichs zum Objekt.
Wenn das Objekt die Quelle von Lustempfindungen wird, so
stellt sich eine motorische Tendenz heraus, welche dasselbe
dem Ich annähern, ins Ich einverleiben will; wir sprechen
dann auch von der „Anziehung“, die das lustspendende Ob-
jekt ausübt, und sagen, daß wir das Objekt „lieben“. Umge-
kehrt, wenn das Objekt Quelle von Unlustempfindungen ist,
bestrebt sich eine Tendenz, die Distanz zwischen ihm und
dem Ich zu vergrößern, den ursprünglichen Fluchtversuch
vor der reizausschickenden Außenwelt an ihm zu wiederholen.
Wir empfinden die „Abstoßung“ des Objekts und hassen es;
dieser Haß kann sich dann zur Aggressionsneigung gegen
das Objekt, zur Absicht, es zu vernichten, steigern.Man könnte zur Not von einem Trieb aussagen, daß er
das Objekt „liebt“, nach dem er zu seiner Befriedigung strebt.
Daß ein Trieb ein Objekt „haßt“, klingt uns aber befremdend,
so daß wir aufmerksam werden, die Beziehungen Liebe und
Haß seien nicht für die Relationen der Triebe zu ihren Ob-
jekten verwendbar, sondern für die Relation des Gesamt‑Ichs
zu den Objekten reserviert. Die Beobachtung des gewiß sinn-
vollen Sprachgebrauches zeigt uns aber eine weitere Ein-
schränkung in der Bedeutung von Liebe und Haß. Von den
Objekten, welche der Icherhaltung dienen, sagt man nicht
aus, daß man sie liebt, sondern betont, daß man ihrer bedarf,
und gibt etwa einem Zusatz von andersartiger Relation Aus-
druck, indem man Worte gebraucht, die ein sehr abgeschwäch-
tes Lieben andeuten, wie: gerne haben, gerne sehen, ange-
nehm finden.S.
275
Das Wort „lieben“ rückt also immer mehr in die Sphäre
der reinen Lustbeziehung des Ichs zum Objekt und fixiert
sich schließlich an die Sexualobjekte im engeren Sinne und
an solche Objekte, welche die Bedürfnisse sublimierter Sexual-
triebe befriedigen. Die Scheidung der Ichtriebe von den
Sexualtrieben, welche wir unserer Psychologie aufgedrängt
haben, erweist sich so als konform mit dem Geiste unserer
Sprache. Wenn wir nicht gewohnt sind zu sagen, der ein-
zelne Sexualtrieb liebe sein Objekt, aber die adäquateste Ver-
wendung des Wortes „lieben“ in der Beziehung des Ichs zu
seinem Sexualobjekt finden, so lehrt uns diese Beobachtung,
daß dessen Verwendbarkeit in dieser Relation erst mit der
Synthese aller Partialtriebe der Sexualität unter dem Primat
der Genitalien und im Dienste der Fortpflanzungsfunktion
beginnt.Es ist bemerkenswert, daß im Gebrauche des Wortes
„hassen“ keine so innige Beziehung zur Sexuallust und
Sexualfunktion zum Vorschein kommt, sondern die Unlust-
relation die einzig entscheidende scheint. Das Ich haßt, ver-
abscheut, verfolgt mit Zerstörungsabsichten alle Objekte,
die ihm zur Quelle von Unlustempfindungen werden, gleich-
gültig ob sie ihm eine Versagung sexueller Befriedigung oder
der Befriedigung von Erhaltungsbedürfnissen bedeuten. Ja,
man kann behaupten, daß die richtigen Vorbilder für die
Haßrelation nicht aus dem Sexualleben, sondern aus dem
Ringen des Ichs um seine Erhaltung und Behauptung stammen.Liebe und Haß, die sich uns als volle materielle Gegen-
sätze vorstellen, stehen also doch in keiner einfachen Be-
ziehung zueinander. Sie sind nicht aus der Spaltung eines
Urgemeinsamen hervorgegangen, sondern haben verschiedene
Ursprünge und haben ein jedes seine eigene EntwicklungS.
276
durchgemacht, bevor sie sich unter dem Einfluß der Lust‑
Unlustrelation zu Gegensätzen formiert haben. Es erwächst
uns hier die Aufgabe, zusammenzustellen, was wir von der
Genese von Liebe und Haß wissen.Die Liebe stammt von der Fähigkeit des Ichs, einen
Anteil seiner Triebregungen autoerotisch, durch die Gewin-
nung von Organlust zu befriedigen. Sie ist ursprünglich nar-
zißtisch, übergeht dann auf die Objekte, die dem erweiterten
Ich einverleibt worden sind, und drückt das motorische
Streben des Ichs nach diesen Objekten als Lustquellen aus.
Sie verknüpft sich innig mit der Betätigung der späteren
Sexualtriebe und fällt, wenn deren Synthese vollzogen ist,
mit dem Ganzen der Sexualstrebung zusammen. Vorstufen
des Liebens ergeben sich als vorläufige Sexualziele, während
die Sexualtriebe ihre komplizierte Entwicklung durchlaufen.
Als erste derselben erkennen wir das sich Einverleiben
oder Fressen, eine Art der Liebe, welche mit der Auf-
hebung der Sonderexistenz des Objekts vereinbar ist, also
als ambivalent bezeichnet werden kann. Auf der höheren
Stufe der prägenitalen sadistisch-analen Organisation tritt
das Streben nach dem Objekt in der Form des Bemächtigungs-
dranges auf, dem die Schädigung oder Vernichtung des Ob-
jekts gleichgültig ist. Diese Form und Vorstufe der Liebe
ist in ihrem Verhalten gegen das Objekt vom Haß kaum
zu unterscheiden. Erst mit der Herstellung der Genital-
organisation ist die Liebe zum Gegensatz vom Haß geworden.Der Haß ist als Relation zum Objekt älter als die Liebe,
er entspringt der uranfänglichen Ablehnung der reizspenden-
den Außenwelt von eiten des narzißtischen Ichs. Als Äuße-
rung der durch Objekte hervorgerufenen Unlustreaktion bleibt
er immer in inniger Beziehung zu den Trieben der Icherhaltung,S.
277
so daß Ichtriebe und Sexualtriebe leicht in einen Gegen-
satz geraten können, der den von Hassen und Lieben wieder-
holt. Wenn die Ichtriebe die Sexualfunktion beherrschen wie
auf der Stufe der sadistisch-analen Organisation, so leihen
sie auch dem Triebziel die Charaktere des Hasses.Die Entstehungs- und Beziehungsgeschichte der Liebe
macht es uns verständlich, daß sie so häufig „ambivalent“,
d. h. in Begleitung von Haßregungen gegen das nämliche
Objekt auftritt. Der der Liebe beigemengte Haß rührt zum
Teil von den nicht völlig überwundenen Vorstufen des Lie-
bens her, zum anderen Teil begründet er sich durch Ab-
lehnungsreaktionen der Ichtriebe, die sich bei den häufigen
Konflikten zwischen Ich‑ und Liebesinteressen auf reale und
aktuelle Motive berufen können. In beiden Fällen geht also
der beigemengte Haß auf die Quelle der Icherhaltungstriebe
zurück. Wenn die Liebesbeziehung zu einem bestimmten Ob-
jekt abgebrochen wird, so tritt nicht selten Haß an deren
Stelle, woraus wir den Eindruck einer Verwandlung der Liebe
in Haß empfangen. Über diese Deskription hinaus führt dann
die Auffassung, daß dabei der real motivierte Haß durch die
Regression des Liebens auf die sadistische Vorstufe verstärkt
wird, so daß das Hassen einen erotischen Charakter erhält
und die Kontinuität einer Liebesbeziehung gewährleistet wird.Die dritte Gegensätzlichkeit des Liebens, die Verwand-
lung des Liebens in ein Geliebtwerden entspricht der Ein-
wirkung der Polarität von Aktivität und Passivität und un-
terliegt derselben Beurteilung wie die Fälle des Schautriebes
und des Sadismus. Wir dürfen zusammenfassend hervorheben,
die Triebschicksale bestehen im wesentlichen darin, daß die
Triebregungen den Einflüssen der drei großen
das Seelenleben beherrschenden Polaritäten unterzogenS.
sksn42
252
–278