S.
XXVIII.
ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD.*)I. DIE ENTTÄUSCHUNG DES KRIEGES.
Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig un-
terrichtet, ohne Distanz von den großen Veränderungen, die
sich bereits vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen,
und ohne Witterung der sich gestaltenden Zukunft, werden
wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns
aufdrängen, und an dem Werte der Urteile, die wir bilden.
Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis
so viel kostbares Gemeingut der Menschheit zerstört, so viele
der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe
erniedrigt. Selbst die Wissenschaft hat ihre leidenschafts-
lose Unparteilichkeit verloren; ihre aufs tiefste erbitterten
Diener suchen ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag
zur Bekämpfung des Feindes zu leisten. Der Anthropologe
muß den Gegner für minderwertig und degeneriert erklären,
der Psychiater die Diagnose seiner Geistes- oder Seelen-
störung verkündigen. Aber wahrscheinlich empfinden wir das
Böse dieser Zeit unmäßig stark und haben kein Recht, es
mit dem Bösen anderer Zeiten zu vergleichen, die wir nicht
erlebt haben.*) Imago, IV, 1915. (Seither ins Holländische und Englische
übersetzt.)S.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [487]
Der Einzelne, der nicht selbst ein Kämpfer und somit
ein Partikelchen der riesigen Kriegsmaschinerie geworden ist,
fühlt sich in seiner Orientierung verwirrt und in seiner
Leistungsfähigkeit gehemmt. Ich meine, ihm wird jeder
kleine Wink willkommen sein, der es ihm erleichtert, sich
wenigstens in seinem eigenen Innern zurechtzufinden. Unter
den Momenten, welche das seelische Elend der Daheimgeblie-
benen verschuldet haben, und deren Bewältigung ihnen so
schwierige Aufgaben stellt, möchte ich zwei hervorheben und
an dieser Stelle behandeln: Die Enttäuschung, die dieser
Krieg hervorgerufenhat, und die veränderte Einstellung zum
Tode, zu der er uns — wie alle anderen Kriege — nötigt.Wenn ich von Enttäuschung rede, weiß jedermann sofort,
was damit gemeint ist. Man braucht kein Mitleidsschwärmer
zu sein, man kann die biologische und psychologische Not-
wendigkeit des Leidens für die Ökonomie des Menschenlebens
einsehen und darf doch den Krieg in seinen Mitteln und
Zielen verurteilen und das Aufhören der Kriege herbeisehnen.
Man sagte sich zwar, die Kriege könnten nicht aufhören,
solange die Völker unter so verschiedenartigen Existenzbe-
dingungen leben, solange die Wertungen des Einzellebens bei
ihnen weit auseinandergehen, und solange die Gehässig-
keiten, welche sie trennen, so starke seelische Triebkräfte
repräsentieren. Man war also darauf vorbereitet, daß Kriege
zwischen den primitiven und den zivilisierten Völkern, zwi-
schen den Menschenrassen, die durch die Hautfarbe vonein-
ander geschieden werden, ja Kriege mit und unter den wenig
entwickelten oder verwilderten Völkerindividuen Europas die
Menschheit noch durch geraume Zeit in Anspruch nehmen
werden. Aber man getraute sich etwas anderes zu hoffen.
Von den großen weltbeherrschenden Nationen weißer Rasse,S.
[488] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
denen die Führung des Menschengeschlechtes zugefallen ist,
die man mit der Pflege weltumspannender Interessen be-
schäftigt wußte, deren Schöpfungen die technischen Fort-
schritte in der Beherrschung der Natur wie die künstlerischen
und wissenschaftlichen Kulturwerte sind, von diesen Völkern
hatte man erwartet, daß sie es verstehen würden, Mißhellig-
keiten und Interessenkonflikte auf anderem Wege zum Aus-
trage zu bringen. Innerhalb jeder dieser Nationen waren hohe
sittliche Normen für den einzelnen aufgestellt werden, nach
denen er seine Lebensführung einzurichten hatte, wenn er
an der Kulturgemeinschaft, teilnehmen wollte. Diese oft über-
strengen Vorschriften forderten viel von ihm, eine ausgiebige
Selbstbeschränkung, einen weitgehenden Verzicht auf Trieb-
befriedigung. Es war ihm vor allem versagt, sich der außer-
ordentlichen Vorteile zu bedienen, die der Gebrauch von Lüge
und Betrug im Wettkampfe mit den Nebenmenschen schafft.
Der Kulturstaat hielt diese sittlichen Normen für die Grund-
lage seines Bestandes, er schritt ernsthaft ein, wenn man
sie anzutasten wagte, erklärte es oft für untunlich, sie auch
nur einer Prüfung durch den kritischen Verstand zu unter-
ziehen. Es war also anzunehmen, daß er sie selbst respek-
tieren wolle und nichts gegen sie zu unternehmen gedenke,
wodurch er der Begründung seiner eigenen Existenz wider-
sprochen hätte. Endlich konnte man zwar die Wahrnehmung
machen, daß es innerhalb dieser Kulturnationen gewisse ein-
gesprengte Völkerreste gäbe, die ganz allgemein unliebsam
wären und darum nur widerwillig, auch nicht im vollen Um-
fange, zur Teilnahme an der gemeinsamen Kulturarbeit zu-
gelassen würden, für die sie sich als genug geeignet erwiesen
hatten. Aber die großen Völker selbst, konnte man meinen,
hätten so viel Verständnis für ihre Gemeinsamkeiten und soS.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [489]
viel Toleranz für ihre Verschiedenheiten erworben, daß „fremd“
und „feindlich“ nicht mehr wie noch im klassischen Alter-
tume für sie zu einem Begriffe verschmelzen durften.Vertrauend auf diese Einigung der Kulturvölker haben
ungezählte Menschen ihren Wohnort in der Heimat gegen
den Aufenthalt in der Fremde eingetauscht und ihre Existenz
an die Verkehrsbeziehungen zwischen den befreundeten Völ-
kern geknüpft. Wen aber die Not des Lebens nicht ständig
an die nämliche Stelle bannte, der konnte sich aus allen
Vorzügen und Reizen der Kulturländer ein neues größeres
Vaterland zusammensetzen, in dem er sich ungehemmt und
unverdächtigt erging. Er genoß so das blaue und das graue
Meer, die Schönheit der Schneeberge und die der grünen
Wiesenflächen, den Zauber des nordischen Waldes und die
Pracht der südlichen Vegetation, die Stimmung der Land-
schaften, auf denen große historische Erinnerungen ruhen,
und die Stille der unberührten Natur. Dies neue Vaterland
war für ihn auch ein Museum, erfüllt mit allen Schätzen,
welche die Künstler der Kulturmenschheit seit vielen Jahr-
hunderten geschaffen und hinterlassen hatten. Während er
von einem Saale dieses Museums in einen anderen wanderte,
konnte er in parteiloser Anerkennung feststellen, was für ver-
schiedene Typen von Vollkommenheit Blutmischung, Ge-
schichte und die Eigenart der Mutter Erde an seinen wei-
teren Kompatrioten ausgebildet hatten. Hier war die kühle
unbeugsame Energie aufs höchste entwickelt, dort die gra-
ziöse Kunst, das Leben zu verschönern, anderswo der Sinn
für Ordnung und Gesetz oder andere der Eigenschaften, die
den Menschen zum Herrn der Erde gemacht haben.Vergessen wir auch nicht daran, daß jeder Kulturwelt-
bürger sich einen besonderen „Parnaß“ und eine „Schule vonS.
[490] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
Athen“ geschaffen hatte. Unter den großen Denkern, Dich-
tern, Künstlern aller Nationen, hatte er die ausgewählt, denen
er das Beste zu schulden vermeinte, was ihm an Lebensgenuß
und Lebensverständnis zugänglich geworden war, und sie den
unsterblichen Alten in seiner Verehrung zugesellt wie den
vertrauten Meistern seiner eigenen Zunge. Keiner von diesen
Großen war ihm darum fremd erschienen, weil er in anderer
Sprache geredet hatte, weder der unvergleichliche Ergründer
der menschlichen Leidenschaften, noch der schönheitstrun-
kene Schwärmer oder der gewaltig drohende Prophet, der
feinsinnige Spötter, und niemals warf er sich dabei vor, ab-
trünnig geworden zu sein der eigenen Nation und der ge-
liebten Muttersprache.Der Genuß der Kulturgemeinschaft wurde gelegentlich
durch Stimmen gestört, welche warnten, daß infolge altüber-
kommener Differenzen Kriege auch unter den Mitgliedern
derselben unvermeidlich wären. Man wollte nicht daran glau-
ben, aber wie stellte man sich einen solchen Krieg vor, wenn
es dazu kommen sollte? Als eine Gelegenheit die Fortschritte
im Gemeingefühle der Menschen aufzuzeigen seit jener Zeit,
da die griechischen Amphiktyonien verboten hatten, eine dem
Bündnisse angehörige Stadt zu zerstören, ihre Ölbäume um-
zuhauen und ihr das Wasser abzuschneiden. Als einen ritter-
lichen Waffengang, der sich darauf beschränken wollte, die
Überlegenheit des einen Teiles festzustellen, unter möglich-
ster Vermeidung schwerer Leiden, die zu dieser Entscheidung
nichts beitragen könnten, mit voller Schonung für den Ver-
wundeten, der aus dem Kampfe ausscheiden muß, und für
den Arzt und Pfleger, der sich seiner Herstellung widmet.
Natürlich mit allen Rücksichten für den nicht kriegführen-
den Teil der Bevölkerung, für die Frauen, die dem Kriegs-S.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [491]
handwerk ferne bleiben, und fiir die Kinder, die, herange-
wachsen, einander von beiden Seiten Freunde und Mithelfer
werden sollen. Auch mit Erhaltung all der internationalen
Unternehmungen und Institutionen, in denen sich die Kultur-
gemeinschaft der Friedenszeit verkörpert hatte.Ein solcher Krieg hätte immer noch genug des Schreck-
lichen und schwer zu Ertragenden enthalten, aber er hätte
die Entwicklung ethischer Beziehungen zwischen den Groß-
individuen der Menschheit, den Völkern und Staaten, nicht
unterbrochen.Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun
aus und er brachte die — Enttäuschung. Er ist nicht nur
blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, in-
folge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes
und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam,
erbittert, schonungslos wie irgend ein früherer. Er setzt sich
über alle Einschränkungen hinaus, zu denen man sich in
friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht ge-
nannt hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des Verwundeten
und des Arztes, die Unterscheidung des friedlichen und des
kämpfenden Teiles der Bevölkerung, die Ansprüche des Privat-
eigentumes. Er wirft nieder, was ihm im Wege steht, in
blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden
unter den Menschen nach ihm geben. Er zerreißt alle Bande
der Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern
und droht eine Erbitterung zu hinterlassen, welche eine Wie-
deranknüpfung derselben für lange Zeit unmöglich machen
wird.Er brachte auch das kaum begreifliche Phänomen zum
Vorscheine, daß die Kulturvölker einander so wenig kennen
und verstehen, daß sich das eine mit Haß und AbscheuS.
[492] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
gegen das andere wenden kann. Ja, daß eine der großen
Kulturnationen so allgemein mißliebig ist, daß der Versuch
gewagt werden kann, sie als „barbarisch“ von der Kultur-
gemeinsehaft auszuschließen, obwohl sie ihre Eignung durch
die großartigsten Beitragsleistungen längst erwiesen hat. Wir
leben der Hoffnung, eine unparteiische Geschichtsschreibung
werde den Nachweis erbringen, daß gerade diese Nation, die,
in deren Sprache wir schreiben, für deren Sieg unsere Lieben
kämpfen, sich am wenigsten gegen die Gesetze der mensch-
lichen Gesittung vergangen habe, aber wer darf in solcher
Zeit als Richter auftreten in eigener Sache?Völker werden ungefähr durch die Staaten, die sie bil-
den, repräsentiert; diese Staaten durch die Regierungen, die
sie leiten. Der einzelne Volksangehörige kann in diesem
Kriege mit Schrecken feststellen, was sich ihm gelegentlich
schon in Friedenszeiten aufdrängen wollte, daß der Staat
dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechtes untersagt hat,
nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopoli-
sieren will wie Salz und Tabak. Der kriegführende Staat
gibt sich jedes Unrecht, jede Gewalttätigkeit frei, die den
Einzelnen entehren würde. Er bedient sich nicht nur der
erlaubten List, sondern auch der bewußten Lüge und des
absichtlichen Betruges gegen den Feind, und dies zwar in
einem Maße, welches das in früheren Kriegen Gebräuchliche
zu übersteigen scheint. Der Staat fordert das Äußerste an
Gehorsam und Aufopferung von seinen Bürgern, entmündigt
sie aber dabei durch ein Übermaß von Verheimlichung und
eine Zensur der Mitteilung und Meinungsäußerung, welche
die Stimmung der so intellektuell Unterdrückten wehrlos
macht gegen jede ungünstige Situation und jedes wüste Ge-
rücht. Er löst sich los von Zusicherungen und Verträgen,S.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [493]
durch die er sich gegen andere Staaten gebunden hatte, be-
kennt sich ungescheut zu seiner Habgier und seinem Macht-
streben, die dann der Einzelne aus Patriotismus gutheißen soll.Man wende nicht ein, daß der Staat auf den Gebrauch
des Unrechtes nicht verzichten kann, weil er sich dadurch
in Nachteil setzte. Auch für den Einzelnen ist die Befolgung
der sittlichen Normen, der Verzicht auf brutale Machtbe-
tätigung in der Regel sehr unvorteilhaft, und der Staat zeigt
sich nur selten dazu fähig, den Einzelnen für das Opfer zu
entschädigen, das er von ihm gefordert hat. Man darf sich
auch nicht darüber verwundern, daß die Lockerung aller sitt-
lichen Beziehungen zwischen den Großindividuen der Mensch-
heit eine Rückwirkung auf die Sittlichkeit der Einzelnen ge-
äußert hat, denn unser Gewissen ist nicht der unbeugsame
Richter, für den die Ethiker es ausgeben, es ist in seinem
Ursprunge "soziale Angst" und nichts anderes. Wo die
Gemeinchaft den Vorwurf aufhebt, hört auch die Unter-
drückung der bösen Gelüste auf, und die Menschen begehen
Taten von Grausamkeit, Tücke, Verrat und Roheit, deren
Möglichkeit man in ihrem kulturellen Niveau für unvereinbar
gehalten hätte.So mag der Kulturweltbürger, den ich vorhin eingeführt
habe, ratlos dastehen in der ihm fremd gewordenen Welt,
sein großes Vaterland zerfallen, die gemeinsamen Besitztümer
verwüstet, die Mitbürger entzweit und erniedrigt!Zur Kritik seiner Enttäuschung wäre einiges zu bemer-
ken. Sie ist, strenge genommen, nicht berechtigt, denn sie
besteht in der Zerstörung einer Illusion. Illusionen emp-
fehlen sich uns dadurch, daß sie Unlustgefühle ersparen und
uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müs
sen es dannn ohne Kluge hinnehmen, daß sie irgend einmalS.
[494] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
mit einem Stücke der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem
sie zerschellen.Zweierlei in diesem Kriege hat unsere Enttäuschung rege
gemacht: die geringe Sittlichkeit der Staaten nach außen,
die sich nach innen als die Wächter der sittlichen Normen
gebärden, und die Brutalität im Benehmen der Einzelnen,
denen man als Teilnehmer an der höchsten menschlichen
Kultur ähnliches nicht zugetraut hat.Beginnen wir mit dem zweiten Punkte und versuchen
wir es, die Anschauung, die wir kritisieren wollen, in einen
einzigen knappen Satz zu fassen. Wie stellt man sich denn
eigentlich den Vorgang vor, durch welchen ein einzelner Mensch
zu einer höheren Stufe von Sittlichkeit gelangt? Die erste
Antwort wird wohl lauten: Er ist eben von Geburt und von
Anfang an gut und edel. Sie soll hier weiter nicht berück-
sichtigt werden. Eine zweite Antwort wird auf die Anregung
eingehen, daß hier ein Entwicklungsvorgang vorliegen müsse,
und wird wohl annehmen, diese Entwicklung bestehe darin,
daß die bösen Neigungen des Menschen in ihm ausgerottet
und unter dem Einflusse von Erziehung und Kulturumgebung
durch Neigungen zum Guten ersetzt werden. Dann darf man
sich allerdings verwundern, daß bei dem so Erzogenen das
Böse wieder so tatkräftig zum Vorschein kommt.Aber diese Antwort enthält auch den Satz, dem wir
widersprechen wollen. In Wirklichkeit gibt es keine „Aus-
rottung“ des Bösen. Die psychologische — im strengeren
Sinne die psychoanalytische — Untersuchung zeigt vielmehr,
daß das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen be-
steht, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig
sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Be-
dürfnisse zielen. Diese Triebregungen sind an sich wederS.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [495]
gut noch böse. Wir klassifizieren sie und ihre Äußerungen
in solcher Weise, je nach ihrer Beziehung zu den Bedürf-
nissen und Anforderungen der menschlichen Gemeinschaft.
Zugegeben ist, daß alle die Regungen, welche von der Ge-
sellschaft als böse verpönt werden — nehmen wir als Ver-
tretung derselben die eigensüchtigen und die grausamen —
sich unter diesen primitiven befinden.Diese primitiven Regungen legen einen langen Entwick-
lungsweg zurück, bis sie zur Betätigung beim Erwachsenen
zugelassen werden. Sie werden gehemmt, auf andere Ziele
und Gebiete gelenkt, gehen Verschmelzungen miteinander
ein, wechseln ihre Objekte, wenden sich zum Teile gegen die
eigene Person. Reaktionsbildungen gegen gewisse Triebe täu-
schen die inhaltliche Verwandlung derselben vor, als ob aus
Egoismus — Altruismus, aus Grausamkeit — Mitleid gewor-
den wäre. Diesen Reaktionsbildungen kommt zugute, daß
manche Triebregungen fast von Anfang an in Gegensatz-
paaren auftreten, ein sehr merkwürdiges und der populären
Kenntnis fremdes Verhältnis, das man die „Gefühlsambivalenz“
benannt hat. Am leichtesten zu beobachten und vom Verständ-
nis zu bewältigen ist die Tatsache, daß starkes Lieben und
starkes Hassen so häufig miteinander bei derselben Person
vereint vorkommen. Die Psychoanalyse fügt dem zu, daß
die beiden entgegengesetzten Gefühlsregungen nicht selten
auch die nämliche Person zum Objekte nehmen.Erst nach Überwindung all solcher „Triebschicksale“
stellt sich das heraus, was man den Charakter eines Men-
schen nennt, und was mit „gut“ oder „böse“ bekanntlich nur
sehr unzureichend klassifiziert werden kann. Der Mensch ist
selten im ganzen gut oder böse, meist „gut“ in dieser Rela-
tion, böse in einer anderen oder „gut“ unter solchen äußerenS.
[495] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
Bedingungen, unter anderen entschieden „böse“. Interessant
ist die Erfahrung, daß die kindliche Präexistenz starker
„böser“ Regungen oft geradezu die Bedingung wird für eine
besonders deutliche Wendung des Erwachsenen zum „Gu-
ten“. Die stärksten kindlichen Egoisten können die hilfreich-
sten und aufopferungsfähigsten Bürger werden; die meisten
Mitleidsschwärmer, Menschenfreunde, Tierschützer haben sich
aus kleinen Sadisten und Tierquälern entwickelt.Die Umbildung der „bösen“ Triebe ist das Werk zweier
im gleichen Sinne wirkenden Faktoren, eines inneren und
eines äußeren. Der innere Faktor besteht in der Beeinflussung
der bösen — sagen wir: eigensüchtigen — Triebe durch die
Erotik, das Liebesbedürfnis des Menschen im weitesten Sinne
genommen. Durch die Zumischung der erotischen Kom-
ponenten werden die eigensüchtigen Triebe in soziale um-
gewandelt. Man lernt das Geliebtwerden als einen Vorteil
schätzen, wegen dessen man auf andere Vorteile verzichten
darf. Der äußere Faktor ist der Zwang der Erziehung, welche
die Ansprüche der kulturellen Umgebung vertritt, und die
dann durch die direkte Einwirkung des Kulturmilieus fort-
gesetzt wird. Kultur ist durch Verzicht auf Triebbefriedigung
gewonnen werden und fordert von jedem neu Ankommenden,
daß er denselben Triebverzieht leiste. Während des indivi-
duellen Lebens findet eine beständige Umsetzung von äußerem
Zwange in inneren Zwang statt. Die Kultureinflüsse leiten
dazu an, daß immer mehr von den eigensüchtigen Strebungen
durch erotische Zusätze in altruistische, soziale verwandelt
werden. Man darf endlich annehmen, daß aller innere Zwang,
der sich in der Entwicklung des Menschen geltend macht,
ursprünglich, d. h. in der Menschheitsgeschichte nur
äußerer Zwang war. Die Menschen, die heute geboren werden,S.
XXVIII‚ ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [497]
bringen ein Stück Neigung (Disposition) zur Umwandlung
der egoistischen in soziale Triebe als ererbte Organisation
mit, die auf leichte Anstöße hin diese Umwandlung durch-
führt. Ein anderes Stück dieser Triebumwandlung muß im
Leben selbst geleistet werden. In solcher Art steht der ein-
zelne Mensch nicht nur unter der Einwirkung seines gegen-
wärtigen Kulturmilieus, sondern unterliegt auch dem Einflusse
der Kulturgeschichte seiner Vorfahren.Heißen wir die einem Menschen zukommende Fähigkeit
zur Umbildung der egoistischen Triebe unter dem Einflusse
der Erotik seine Kultureignung, so können wir aus-
sagen, daß dieselbe aus zwei Anteilen besteht, einem ange-
borenen und einem im Leben erworbenen, und daß das Ver-
hältnis der beiden zueinander und zu dem unverwandelt ge-
bliebenen Anteile des Trieblebens ein sehr variables ist.Im allgemeinen sind wir geneigt, den angeborenen Anteil
zu hoch zu veranschlagen, und überdies laufen wir Gefahr,
die gesamte Kultureignung in ihrem Verhältnisse zum pri-
mitiv gebliebenen Triebleben zu überschätzen, d. h. wir wer-
den dazu verleitet, die Menschen „besser“ zu beurteilen, als
sie in Wirklichkeit sind. Es besteht nämlich noch ein an-
deres Moment, welches unser Urteil trübt und das Ergebnis
im günstigen Sinne verfälscht.Die Triebregungen eines anderen Menschen sind unserer
Wahrnehmung natürlich entrückt. Wir schließen auf sie aus
seinen Handlungen und seinem Benehmen, welche wir auf
Motive aus seinem Triebleben zurückführen. Ein solcher
Schluß geht notwendigerweise in einer Anzahl von Fällen
irre. Die nämlichen, kulturell „guten“ Handlungen können
das einemal von „edlen“ Motiven herstammen, das andere-
mal nicht. Die theoretischen Ethiker heißen nur solcheS.
[498] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
Handlungen „gut“, welche der Ausdruck guter Triebregungen
sind, dem anderen versagen sie ihre Anerkennung. Die von
praktischen Absichten geleitete Gesellschaft kümmert sich
aber im ganzen um diese Unterscheidung nicht; sie begnügt
sich damit, daß ein Mensch sein Benehmen und seine Hand-
lungen nach den kulturellen Vorschriften richte, und fragt
wenig nach seinen Motiven.Wir haben gehört, daß der äußere Zwang, den Er-
ziehung und Umgebung auf den Menschen üben, eine weitere
Umbildung seines Trieblebens zum Guten, eine Wendung vom
Egoismus zum Altruismus herbeiführt. Aber dies ist nicht
die notwendige oder regelmäßige Wirkung des äußeren Zwan-
ges. Erziehung und Umgebung haben nicht nur Liebesprä-
mien anzubieten, sondern arbeiten auch mit Vorteilsprämien
anderer Art, mit Lohn und Strafen. Sie können also die Wir-
kung äußern, daß der ihrem Einflusse Unterliegende sich
zum guten Handeln im kulturellen Sinne entschließt, ohne
daß sich eine Triebveredlung, eine Umsetzung egoistischer
in soziale Neigungen, in ihm vollzogen hat. Der Erfolg wird
im groben derselbe sein; erst unter besonderen Verhältnissen
wird es sich zeigen, daß der eine immer gut handelt, weil
ihn seine Triebneigungen dazu nötigen, der andere nur gut
ist, weil, insolange und insoweit dies kulturelle Verhalten
seinen eigensüchtigen Absichten Vorteile bringt. Wir aber
werden bei oberflächlicher Bekanntschaft mit den Einzelnen
kein Mittel haben, die beiden Fälle zu unterscheiden, und
gewiß durch unseren Optimismus verführt werden, die
Anzahl der kulturell veränderten Menschen arg zu über-
schätzen.Die Kulturgesellschaft, die die gute Handlung fordert
und sich um die Triebbegründung derselben nicht kümmert,S.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [499]
hat also eine große Zahl von Menschen zum Kulturgehorsam
gewonnen, die dabei nicht ihrer Natur folgen. Durch diesen
Erfolg ermutigt, hat sie sich verleiten lassen, die sittlichen
Anforderungen möglichst hoch zu spannen und so ihre Teil-
nehmer zu noch weiterer Entfernung von ihrer Triebveran-
lagung gezwungen. Diesen ist nun eine fortgesetzte Trieb-
unterdrückung auferlegt, deren Spannung sich in den merk-
würdigsten Reaktions- und Kompensationserscheinungen kund-
gibt. Auf dem Gebiete der Sexualität, wo solche Unter-
drückung am wenigsten durchzuführen ist, kommt es so zu
den Reaktionserscheinungen der neurotischen Erkrankungen.
Der sonstige Druck der Kultur zeitigt zwar keine pathologi-
sche Folgen, äußert sich aber in Charakterverbildungen und
in der steten Bereitschaft der gehemmten Triebe, bei passen-
der Gelegenheit zur Befriedigung durchzubrechen. Wer so
genötigt wird, dauernd im Sinne von Vorschriften zu reagieren,
die nicht der Ausdruck seiner Triebneigungen sind, der lebt,
psychologisch verstanden über seine Mittel und darf objek-
tiv als Heuchler bezeichnet werden, gleichgiltig ob ihm diese
Differenz klar bewußt worden ist oder nicht. Es ist unleug-
bar, daß unsere gegenwärtige Kultur die Ausbildung dieser
Art von Heuchelei in außerordentlichem Umfange begünstigt.
Man könnte die Behauptung wagen, sie sei auf solcher Heu-
chelei aufgebaut und müßte sich tiefgreifende Abänderungen
gefallen lassen, wenn es die Menschen unternehmen würden,
der psychologischen Wahrheit nachzuleben. Es gibt also un-
gleich mehr Kulturheuchler als wirklich kulturelle Menschen,
ja man kann den Standpunkt diskutieren, ob ein gewisses
Maß von Kulturheuchelei nicht zur Aufrechterhaltung der
Kultur unerläßlich sei, weil die bereits organisierte Kultur-
eignung der heute lebenden Menschen vielleicht für dieseS.
[500] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
Leistung nicht zureichen würde. Anderseits bietet die Auf-
rechterhaltung der Kultur auch auf so bedenklicher Grund-
lage die Aussicht, bei jeder neuen Generation eine weiter-
gehende Triebumbildung als Trägerin einer besseren Kultur
anzubahnen.Den bisherigen Erörterungen entnehmen wir bereits den
einen Trost, daß unsere Kränkung und schmerzliche Ent-
täuschung wegen des unkulturellen Benehmens unserer Welt-
mitbürger in diesem Kriege unberechtigt waren. Sie beruhten
auf einer Illusion, der wir uns gefangen geben. In Wirklich-
keit sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil
sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wirs von ihnen
glaubten. Daß die menschlichen Großindividuen, die Völker
und Staaten, die sittlichen Beschränkungen gegeneinander
fallen ließen, wurde ihnen zur begreiflichen Anregung, sich
für eine Weile dem bestehenden Drucke der Kultur zu ent-
ziehen und ihren zurückgehaltenen Trieben vorübergehend
Befriedigung zu gönnen. Dabei geschah ihrer relativen Sitt-
lichkeit innerhalb des eigenen Volkstumes wahrscheinlich kein
Abbruch.Wir können uns aber das Verständnis der Veränderung,
die der Krieg an unseren früheren Kompatrioten zeigt, noch
vertiefen und empfangen dabei eine Warnung, kein Unrecht
an ihnen zu begehen. Seelische Entwicklungen besitzen näm-
lich eine Eigentümlichkeit, welche sich bei keinem anderen
Entwicklungsvorgang mehr vorfindet. Wenn ein Dorf zur
Stadt, ein Kind zum Manne heranwächst, so gehen dabei
Dorf und Kind in Stadt und Mann unter. Nur die Erinnerung
kann die alten Züge in das neue Bild einzeichnen; in Wirk-
lichkeit sind die alten Materialien oder Formen beseitigt und
durch neue ersetzt werden. Anders geht es bei einer seelischenS.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [501]
Entwicklung zu. Man kann den nicht zu vergleichenden Sach-
verhalt nicht anders beschreiben als durch die Behauptung,
daß jede frühere Entwicklungsstufe neben der späteren, die
aus ihr geworden ist, erhalten bleibt; die Sukzession bedingt
eine Koexistenz mit, obwohl es doch dieselben Materialien
sind, an denen die ganze Reihenfolge von Veränderungen ab-
gelaufen ist. Der frühere seelische Zustand mag sich jahre-
lang nicht geäußert haben, er bleibt doch soweit bestehen,
daß er eines Tages wiederum die Äußerungsform der seeli-
schen Kräfte werden kann, und zwar die einzige, als ob alle
späteren Entwicklungen annulliert, rückgängig gemacht wor-
den wären. Diese außerordentliche Plastizität der seelischen
Entwicklungen ist in ihrer Richtung nicht unbeschränkt;
man kann sie als eine besondere Fähigkeit zur Rückbildung
— Regression — bezeichnen, denn es kommt wohl vor, daß
eine spätere und höhere Entwicklungsstufe, die verlassen
wurde, nicht wieder erreicht werden kann. Aber die pri-
mitiven Zustände können immer wieder hergestellt wer-
den; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne un-
vergänglich.Die sogenannten Geisteskrankheiten müssen beim Laien
den Eindruck hervorrufen, daß das Geistes- und Seelenleben
der Zerstörung anheimgefallen sei. In Wirklichkeit betrifft
die Zerstörung nur spätere Erwerbungen und Entwicklungen.
Das Wesen der Geisteskrankheit besteht in der Rückkehr
zu früheren Zuständen des Affektlebens und der Funktion.
Ein ausgezeichnetes Beispiel für die Plastizität des Seelen-
lebens gibt der Schlafzustand, den wir allnächtlich anstreben.
Seitdem wir auch tolle und verworrene Träume zu übersetzen
verstehen, wissen wir, daß wir mit jedem Einschlafen unsere
mühsam erworbene Sittlichkeit wie ein Gewand von unsS.
[502] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
werfen — um es am Morgen wieder anzutun. Diese Ent-
blößung ist natürlich ungefährlich, weil wir durch den Schlaf-
zustand gelähmt, zur Inaktivität verurteilt sind. Nur der
Traum kann von der Regression unseres Gefühllebens auf
eine der frühesten Entwicklungsstufen Kunde geben. So ist
es z. B. bemerkenswert, daß alle unsere Träume von rein
egoistischen Motiven beherrscht werden. Einer meiner eng-
lischen Freunde vertrat einmal diesen Satz vor einer wissen-
schaftlichen Versammlung in Amerika, worauf ihm eine an-
wesende Dame die Bemerkung machte, das möge vielleicht
für Österreich richtig sein, aber sie dürfe von sich und ihren
Freunden behaupten, daß sie auch noch im Traume altruistisch
fühlen. Mein Freund, obwohl selbst ein Angehöriger der eng-
lischen Rasse, müßte auf Grund seiner eigenen Erfahrungen
in der Traumanalyse der Dame energisch widersprechen: Im
Traume sei auch die edle Amerikanerin ebenso egoistisch wie
der Österreicher.Es kann also auch die Triebumbildung, auf welcher un-
sere Kultureignung beruht, durch Einwirkungen des Lebens
— dauern oder zeitweilig — rückgängig gemacht werden.
Ohne Zweifel gehören die Einflüsse des Krieges zu den Mäch-
ten, welche solche Rückbildung erzeugen können, und darum
brauchen wir nicht allen jenen, die sich gegenwärtig un-
kulturell benehmen, die Kultureignung abzusprechen, und dür-
fen erwarten, daß sich ihre Triebveredlung in ruhigeren Zeiten
wieder herstellen wird.Vielleicht hat uns aber ein anderes Symptom bei un-
seren Weltmitbürgern nicht weniger überrascht und geschreckt
als das so schmerzlich empfundene Herabsinken von ihrer
ethischen Höhe. Ich meine die Einsichtslosigkeit, die sich
bei den besten Köpfen zeigt, ihre Verstocktheit, Unzugäng-S.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [503]
lichkeit gegen die eindringlichsten Argumente, ihre kritiklose
Leichtgläubigkeit für die anfechtbarsten Behauptungen. Dies
ergibt freilich ein trauriges Bild, und ich will ausdrücklich
betonen, daß ich keineswegs als verblendeter Parteigänger
alle intellektuellen Verfehlungen nur auf einer der beiden
Seiten finde. Allein diese Erscheinung ist noch leichter zu
erklären und weit weniger bedenklich als die vorhin gewür-
digte. Menschenkenner und Philosophen haben uns längst
belehrt, daß wir Unrecht daran tun, unsere Intelligenz als
selbständige Macht zu schätzen und ihre Abhängigkeit vom
Gefühlsleben zu übersehen. Unser Intellekt könne nur ver-
läßlich arbeiten, wenn er den Einwirkungen starker Gefühls-
regungen entrückt sei; im gegenteiligen Falle benehme er
sich einfach wie ein Instrument zu Handen eines Willens
und liefere das Resultat, das ihm von diesem aufgetragen
sei. Logische Argumente seien also ohnmächtig gegen affek-
tive Interessen, und darum sei das Streiten mit Gründen,
die nach Falstaffs Wort so gemein sind wie Brombeeren,
in der Welt der Interessen so unfruchtbar. Die psychoana-
lytische Erfahrung hat diese Behauptung womöglich noch
unterstrichen. Sie kann alle Tage zeigen, daß sich die scharf-
sinnigsten Menschen plötzlich einsichtslos wie Schwachsin-
nige benehmen, sobald die verlangte Einsicht einem Gefühls-
widerstand bei ihnen begegnet, aber auch alles Verständnis
wieder erlangen, wenn dieser Widerstand überwunden ist.
Die logische Verblendung, die dieser Krieg oft gerade bei
den besten unserer Mitbürger hervorgezaubert hat, ist
also ein sekundäres Phänomen, eine Folge der Gefühls-
erregung, und hoffentlich dazu bestimmt, mit ihr zu ver-
schwinden.Wenn wir solcher Art unsere uns entfremdeten Mitbürger
S.
[504] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
wieder verstehen, werden wir die Enttäuschung, die uns die
Großindividuen der Menschheit, die Völker, bereitet haben,
um vieles leichter ertragen, denn an diese dürfen wir nur
weit bescheidenere Ansprüche stellen. Dieselben wiederholen
vielleicht die Entwicklung der Individuen und treten uns
heute noch auf sehr primitiven Stufen der Organisation, der
Bildung höherer Einheiten, entgegen. Dementsprechend ist
das erziehliche Moment des äußeren Zwanges zur Sittlichkeit,
welches wir beim Einzelnen so wirksam fanden, bei ihnen
noch kaum nachweisbar. Wir hatten zwar gehofft, daß die
großartige, durch Verkehr und Produktion hergestellte In-
teressengemeinschaft den Anfang eines solchen Zwanges er-
geben werde, allein es scheint, die Völker gehorchen ihren
Leidenschaften derzeit weit mehr als ihren Interessen. Sie
bedienen sich höchstens der Interessen, um die Leidenschaften
zu rationalisieren; sie schieben ihre Interessen vor, um
die Befriedigung ihrer Leidenschaften begründen zu können.
Warum die Völkerindividuen einander eigentlich geringschät-
zen, hassen, verabscheuen, und zwar auch in Friedenszeiten,
und jede Nation die andere, das ist freilich rätselhaft. Ich
weiß es nicht zu sagen. Es ist in diesem Falle gerade so,
als ob sich alle sittlichen Erwerbungen der Einzelnen aus-
löschten, wenn man eine Mehrheit oder gar Millionen Men-
schen zusammennimmt, und nur die primitivsten, ältesten
und rohesten, seelischen Einstellungen übrig blieben. An
diesen bedauerlichen Verhältnissen werden vielleicht erst
späte Entwicklungen etwas ändern können. Aber etwas mehr
Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit allerseits, in den Bezie-
hungen der Menschen zueinander und zwischen ihnen und
den sie Regierenden, dürfte auch für diese Umwandlung die
Wege ebnen.S.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [505]
II. UNSER VERHÄLTNIS ZUM TODE.
Das zweite Moment, von dem ich es ableite, daß wir uns
so befremdet fühlen in dieser einst so schönen und trauten
Welt, ist die Störung des bisher von uns festgehaltenen Ver-
hältnisses zum Tode.Dies Verhältnis war kein aufrichtiges. Wenn man uns
anhörte, so waren wir natürlich bereit zu vertreten, daß der
Tod der notwendige Ausgang alles Lebens sei, daß jeder von
uns der Natur einen Tod schulde und vorbereitet sein müsse,
die Schuld zu bezahlen, kurz, daß der Tod natürlich sei, un-
ableugbar und unvermeidlich. In Wirklichkeit pflegten wir
uns aber zu benehmen, als ob es anders wäre. Wir haben
die unverkennbare Tendenz gezeigt, den Tod beiseite zu schie-
ben, ihn aus dem Leben zu eliminieren. Wir haben versucht,
ihn totzuschweigen; wir besitzen ja auch das Sprichwort:
man denke an etwas wie an den Tod. Wie an den eigenen
natürlich. Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar, und so
oft wir den Versuch dazu machen, können wir bemerken,
daß wir eigentlich als Zuschauer weiter dabei bleiben. So
konnte in der psychoanalytischen Schule der Ausspruch ge-
wagt werden: Im Grunde glaube niemand an seinen eigenen
Tod oder, was dasselbe ist: Im Unbewußten sei jeder von
uns seiner Unsterblichkeit überzeugt.Was den Tod eines anderen betrifft, so wird der Kultur-
mensch es sorgfältig vermeiden, von dieser Möglichkeit zu
sprechen, wenn der zum Tode Bestimmte es hören kann. Nur
Kinder setzen sich über diese Beschränkung hinweg; sie dro-
hen einander ungescheut mit den Chancen des Sterbens und
bringen es auch zustande, einer geliebten Person dergleichen
ins Gesicht zu sagen, wie z. B.: Liebe Mama, wenn du leider
gestorben sein wirst, werde ich dies oder jenes. Der erwach-S.
[506] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
sene Kultivierte wird den Tod eines anderen auch nicht gern
in seine Gedanken einsetzen, ohne sich hart oder böse zu
erscheinen; es sei denn, daß er berufsmäßig als Arzt, Ad-
vokat u. dgl. mit dem Tode zu tun habe. Am wenigsten wird
er sich gestatten, an den Tod des anderen zu denken, wenn
mit diesem Ereignis ein Gewinn an Freiheit, Besitz, Stellung
verbunden ist. Natürlich lassen sich Todesfälle durch dies
unser Zartgefühl nicht zurückhalten; wenn sie sich ereignet
haben, sind wir jedesmal tief ergriffen und wie in unseren
Erwartungen erschüttert. Wir betonen regelmäßig die zufäl-
lige Veranlassung des Todes, den Unfall, die Erkrankung,
die Infektion, das hohe Alter, und verraten so unser Bestreben,
den Tod von einer Notwendigkeit zu einer Zufälligkeit herab-
zudrücken. Eine Häufung von Todesfällen erscheint uns als
etwas überaus Schreckliches. Dem Verstorbenen selbst brin-
gen wir ein besonderes Verhalten entgegen, fast wie eine
Bewunderung für einen, der etwas sehr schwieriges zu stunde
gebracht hat. Wir stellen die Kritik gegen ihn ein, sehen
ihm sein etwaiges Unrecht nach, geben den Befehl aus: De
mortuis nil nisi bene, und finden es gerechtfertigt, daß man
ihm in der Leichenrede und auf dem Grabsteine das Vor-
teilhafteste nachrühmt. Die Rücksicht auf den Toten, deren
er doch nicht mehr bedarf, steht uns über der Wahrheit, den
meisten von uns gewiß auch über der Rücksicht für den Le-
benden.Diese kulturell-konventionelle Einstellung gegen den Tod
ergänzt sich nun durch unseren völligen Zusammenbruch,
wenn das Sterben eine der uns nahestehenden Personen, einen
Eltern- oder Gattenteil, ein Geschwister, Kind oder teuren
Freund getroffen hat. Wir begraben mit ihm unsere Hoff-
nungen, Ansprüche, Genüsse, lassen uns nicht trösten undS.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [507]
weigern uns, den Verlorenen zu ersetzen. Wir benehmen uns
dann wie eine Art von Asra,welche mitsterben, wenn
die sterben, die sie lieben.Dies unser Verhältnis zum Tode hat aber eine starke
Wirkung auf unser Leben. Das Leben verarmt, es verliert
an Interesse, wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen,
eben das Leben selbst, nicht gewagt werden darf. Es wird
so schaal, gehaltlos wie etwa ein amerikanischer Flirt, bei
dem es von vornherein feststeht, daß nichts vorfallen darf,
zum Unterschied von einer kontinentalen Liebesbeziehung, bei
welcher beide Partner stets der ernsten Konsequenzen ein-
gedenk bleiben müssen. Unsere Gefühlsbindungen, die un-
erträgliche Intensität unserer Trauer, machen uns abgeneigt,
für uns und die unserigen Gefahren aufzusuchen. Wir ge-
trauen uns nicht, eine Anzahl von Unternehmungen in Be-
tracht zu ziehen, die gefährlich, aber eigentlich unerläßlich
sind wie Flugversuche, Expeditionen in ferne Länder, Ex-
perimente mit explodierbaren Substanzen. Uns lähmt dabei
das Bedenken, wer der Mutter den Sohn, der Gattin den
Mann, den Kindern den Vater ersetzen soll, wenn ein Un-
glück geschieht. Die Neigung, den Tod aus der Lebensrech-
nung auszuschließen, hat so viele andere Verzichte und Aus-
schließungen im Gefolge. Und doch hat der Wahlspruch der
Hansa gelautet: Navigare necesse est, vivere non necesse!
(Seefahren muß man, leben muß man nicht.)Es kann dann nicht anders kommen, als daß wir in der
Welt der Fiktion, in der Literatur, im Theater Ersatz suchen
für die Einbuße des Lebens. Dort finden wir noch Menschen,
die zu sterben verstehen, ja, die es auch zu stande bringen,
einen anderen zu töten. Dort allein erfüllt sich uns auch
die Bedingung, unter welcher wir uns mit dem Tode ver-S.
[508] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
söhnen könnten, wenn wir nämlich hinter allen Wechselfällen
des Lebens noch ein unantastbares Leben übrig behielten.
Es ist doch zu traurig, daß es im Leben zugehen kann wie
im Schachspiel, wo ein falscher Zug uns zwingen kann, die
Partie verloren zu geben, mit dem Unterschiede aber, daß
wir keine zweite, keine Revanchepartie beginnen können. Auf
dem Gebiete der Fiktion finden wir jene Mehrheit von Leben,
deren wir bedürfen. Wir sterben in der Identifizierung mit
dem einen Helden, überleben ihn aber doch und sind bereit,
ebenso ungeschädigt ein zweites Mal mit einem anderen Hel-
den zu sterben.Es ist evident, daß der Krieg diese konventionelle Be-
handlung des Todes hinwegfegen muß. Der Tod läßt sich
jetzt nicht mehr verleugnen; man muß an ihn glauben. Die
Menschen sterben wirklich, auch nicht mehr einzeln, sondern
viele, oft Zehntausende an einem Tage. Er ist auch kein
Zufall mehr. Es scheint freilich noch zufällig, ob diese Kugel
den einen trifft oder den anderen; aber diesen anderen mag
leicht eine zweite Kugel treffen, die Häufung macht dem
Eindruck des Zufälligen ein Ende. Das Leben ist freilich
wieder interessant geworden, es hat seinen vollen Inhalt wie-
der bekommen.Man müßte hier eine Scheidung in zwei Gruppen vor-
nehmen, diejenigen, die selbst im Kampfe ihr Leben preis-
geben, trennen von den anderen, die zu Hause geblieben sind
und nur zu erwarten haben, einen ihrer Lieben an den Tod
durch Verletzung, Krankheit oder Infektion zu verlieren. Es
wäre gewiß sehr interessant, die Veränderungen in der Psy-
chologie der Kämpfer zu studieren, aber ich weiß zu wenig
darüber. Wir müssen uns an die zweite Gruppe halten, zu
der wir selbst gehören. Ich sagte schon, daß ich meine, dieS.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [509]
Verwirrung und die Lähmung unserer Leistungsfähigkeit, un-
ter denen wir leiden, seien wesentlich mitbestimmt durch den
Umstand, daß wir unser bisheriges Verhältnis zum Tode nicht
aufrecht halten können und ein neues noch nicht gefunden
haben. Vielleicht hilft es uns dazu, wenn wir unsere psycho-
logische Untersuchung auf zwei andere Beziehungen zum Tode
richten, auf jene, die wir dem Urmenschen, dem Menschen der
Vorzeit, zuschreiben dürfen, und jene andere, die in jedem
von uns noch erhalten ist, aber sich unsichtbar für unser Be-
wußtsein in tieferen Schichten unseres Seelenlebens verbirgt.Wie sich der Mensch der Vorzeit gegen den Tod ver-
halten, wissen wir natürlich nur durch Rückschlüsse und
Konstruktionen, aber ich meine, daß diese Mittel uns ziem-
lich vertrauenswürdige Auskünfte ergeben haben.Der Urmensch hat sich in sehr merkwürdiger Weise zum
Tode eingestellt. Gar nicht einheitlich, vielmehr recht wider-
spruchsvoll. Er hat einerseits den Tod ernst genommen, ihn
als Aufhebung des Lebens anerkannt und sich seiner in die-
sem Sinne bedient, anderseits aber auch den Tod geleugnet,
ihn zu nichts herabgedrückt. Dieser Widerspruch wurde durch
den Umstand ermöglicht, daß er zum Tode des anderen, des
Fremden, des Feindes, eine radikal andere Stellung einnahm
als zu seinem eigenen. Der Tod des anderen war ihm recht,
galt ihm als Vernichtung des Verhaßten, und der Urmensch
kannte kein Bedenken, ihn herbeizuführen. Er war gewiß ein
sehr leidenschaftliches Wesen, grausamer und bösartiger als
andere Tiere. Er mordete gerne und wie selbstverständlich.
Den Instinkt, der andere Tiere davon abhalten soll, Wesen
der gleichen Art zu töten und zu verzehren, brauchen wir
ihm nicht zuzuschreiben.Die Urgeschichte der Menschheit ist denn auch vom
S.
[510] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
Morde erfüllt. Noch heute ist das, was unsere Kinder in der
Schule als Weltgeschichte lernen, im wesentlichen eine Rei-
henfolge von Völkermorden. Das dunkle Schuldgefühl, unter
dem die Menschheit seit Urzeiten steht, das sich in manchen
Religionen zur Annahme einer Urschuld, einer Erbsünde,
verdichtet hat, ist wahrscheinlich der Ausdruck einer Blut-
schuld, mit welcher sich die urzeitliche Menschheit beladen
hat. Ich habe in meinem Buche „Totem und Tabu“ (1913),
den Winken von W. Robertson Smith, Atkinson und Ch.
Darwin folgend, die Natur dieser alten Schuld erraten
wollen, und meine, daß noch die heutige christliche Lehre
uns den Rückschluß auf sie ermöglicht. Wenn Gottes Sohn
sein Leben opfern mußte, um die Menschheit von der Erb-
sünde zu erlösen, so muß nach der Regel der Talion, der
Vergeltung durch Gleiches, diese Sünde eine Tötung, ein
Mord gewesen sein. Nur dies konnte zu seiner Sühne das
Opfer eines Lebens erfordern. Und wenn die Erbsünde ein
Verschulden gegen Gott-Vater war, so muß das älteste Ver-
brechen der Menschheit ein Vatermord gewesen sein, die
Tötung des Urvaters der primitiven Menschenhorde, dessen
Erinnerungsbild später zur Gottheit verklärt wurde.*)Der eigene Tod war dem Urmensehen gewiß ebenso un-
vorstellbar und unwirklich, wie heute noch jedem von uns.
Es ergab sich aber für ihn ein Fall, in dem die beiden gegen-
setzlichen Einstellungen zum Tode zusammenstießen und in
Konflikt miteinander gerieten, und dieser Fall wurde sehr
bedeutsam und reich an fernwirkenden Folgen. Er ereignete
sich, wenn der Urmensch einen seiner Angehörigen sterben
sah, sein Weib, sein Kind, seinen Freund, die er sicherlich*) Vgl. Imago, Bd. II., 1913. (Die infantile Wiederkehr des
Totemismus.)S.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [511]
ähnlich liebte wie wir die unseren, denn die Liebe kann nicht
um vieles jünger sein als die Mordlust. Da mußte er in
seinem Schmerz die Erfahrung machen, daß man auch selbst
sterben könne, und sein ganzes Wesen empörte sich gegen
dieses Zugeständnis; jeder dieser Lieben war ja doch ein
Stück seines eigenen geliebten Ichs. Anderseits war ihm ein
solcher Tod doch auch recht, denn in jeder der geliebten
Personen stak auch ein Stück Fremdheit. Das Gesetz der
Gefühlsambivalenz, das heute noch unsere Gefühlsbeziehun-
gen zu den von uns geliebtesten Personen beherrscht, galt
in Urzeiten gewiß noch uneingeschränkter. Somit waren diese
geliebten Verstorbenen doch auch Fremde und Feinde ge-
wesen, die einen Anteil von feindseligen Gefühlen bei ihm
hervorgerufen hatten.*)Die Philosophen haben behauptet, das intellektuelle Rät-
sel, welches das Bild des Todes dem Urmensehen aufgab,
habe sein Nachdenken erzwungen und sei der Ausgang jeder
Spekulation geworden. Ich glaube, die Philosophen denken
da zu — philosophisch, nehmen zu wenig Rücksicht auf die
primär wirksamen Motive. Ich möchte darum die obige Be-
hauptung einschränken und korrigieren: an der Leiche des
erschlagenen Feindes wird der Urmensch triumphiert haben,
ohne einen Anlaß zu finden, sich den Kopf über die Rätsel
des Lebens und Todes zu zerbrechen. Nicht das intellek-
tuelle Rätsel und nicht jeder Todesfall, sondern der Ge-
fühlskonflikt beim Tode geliebter und dabei doch auch frem-
der und gehaßter Personen hat die Forschung der Menschen
entbunden. Aus diesem Gefühlskonflikt wurde zunächst die
Psychologie geboren. Der Mensch konnte den Tod nicht mehr*) Siehe Imago, Bd. I., 1912, Tabu und Ambivalenz. Und „Totem
und Tabu".S.
[512] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
von sich ferne halten, da er ihn in dem Schmerz um den
Verstorbenen verkostet hatte, aber er wollte ihn doch nicht
zugestehen, da er sich selbst nicht tot vorstellen konnte.
So ließ er sich auf Kompromisse ein, gab den Tod auch für
sich zu, bestritt ihm aber die Bedeutung der Lebensver-
nichtung, wofür ihm beim Tode des Feindes jedes Motiv
gefehlt hatte. An der Leiche der geliebten Person ersann
er die Geister, und sein Schuldbewußtsein ob der Befriedi-
gung, die der Trauer beigemengt war, bewirkte, daß diese
erstgeschaffenen Geister böse Dämonen wurden, vor denen
man sich ängstigen mußte. Die Veränderungen des Todes
legten ihm die Zerlegung des Individuums in einen Leib und
in eine — ursprünglich mehrere — Seelen nahe; in solcher
Weise ging sein Gedankengang dem Zersetzungsprozeß, den
der Tod einleitet, parallel. Die fortdauernde Erinnerung an
den Verstorbenen wurde die Grundlage der Annahme anderer
Existenzformen, gab ihm die Idee eines Fortlebens nach dem
anscheinenden Tode.Diese späteren Existenzen waren anfänglich nur Anhängsel
an die durch den Tod abgeschlossene, schattenhaft, inhalts-
leer und bis in späte Zeiten hinauf geringgeschätzt; sie trugen
noch den Charakter kümmerlicher Auskünfte. Wir erinnern,
was die Seele des Achilleus dem Odysseus erwidert:„Denn dich Lebenden einst verehrten wir, gleich den Göttern,
Argos Söhn’; und jetzo gebietest du mächtig den Geistern,
Wohnend allhier. Drum laß dich den Tod nicht reuen, Achilleus.
Also ich selbst; und sogleich antwortet’ er, solches erwidernd:
Nicht mir rede vom Tod ein Trostwort, edler Odysseus!
Lieber ja wollt’ ich das Feld als Tagelöhner bestellen
Einem dürftigen Mann, ohn' Erb' und eigenen Wohlstand,
Als die sämtliche Schar der geschwundenen Toten beherrschen.“(Odyssee XI v. 484—491.)
S.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [513]
Oder in der kraftvollen, bitter-parodistischen Fassung von
H. Heine:„Der kleinste lebendige Philister
Zu Stuckert am Neckar
Viel glücklicher ist er
Als ich, der Pelide, der tote Held,
Der Schattenfürst in der Unterwelt.“Erst später brachten es die Religionen zu stande, diese
Nachexistenz für die wertvollere, vollgültige auszugeben und
das durch den Tod abgeschlossene Leben zu einer bloßen
Vorbereitung herabzudrücken. Es war dann nur konsequent,
wenn man auch das Leben in die Vergangenheit verlängerte,
die früheren Existenzen, die Seelenwanderung und Wieder-
geburt ersann, alles in der Absicht, dem Tode seine Bedeu-
tung als Aufhebung des Lebens zu rauben. So frühzeitig hat
die Verleugnung des Todes, die wir als konventionell-kulturell
bezeichnet haben, ihren Anfang genommen.An der Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur
die Seelenlehre, der Unsterblichkeitsglaube und eine mächtige
Wurzel des menschlichen Schuldbewußtseins, sondern auch
die ersten ethischen Gebote. Das erste und bedeutsamste
Verbot des erwachenden Gewissens lautete: Du sollst
nicht töten. Es war als die Reaktion gegen die hinter
der Trauer versteckte Haßbefriedigung am geliebten Toten
gewonnen worden, und wurde allmählich auf den ungeliebten
Fremden und endlich auch auf den Feind ausgedehnt.An letzterer Stelle wird es vom Kulturmenschen nicht
mehr verspürt. Wenn das wilde Ringen dieses Krieges seine
Entscheidung gefunden hat, wird jeder der siegreichen Kämp-
fer froh in sein Heim zurückkehren, zu seinem Weibe und
Kindern, unverweilt und ungestört durch Gedanken an die
Feinde, die er im Nahkampfe oder durch die fernwirkendeS.
[514] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
Waffe getötet hat. Es ist bemerkenswert, daß sich die primi-
tiven Völker, die noch auf der Erde leben und dem Ur-
menschen gewiß näher stehen als wir, in diesem Punkte an-
ders verhalten — oder verhalten haben, solange sie noch
nicht den Einfluß unserer Kultur erfahren hatten. Der Wilde
— Australier, Buschmann, Feuerländer — ist keineswegs ein
raueloser Mörder; wenn er als Sieger vom Kriegspfade heim-
kehrt, darf er sein Dorf nicht betreten und sein Weib nicht
berühren, ehe er seine kriegerischen Mordtaten durch oft lang-
wierige und mühselige Bußen gesühnt hat. Natürlich liegt
die Erklärung aus seinem Aberglauben nahe; der Wilde fürch-
tet noch die Geisterrache der Erschlagenen. Aber die Geister
der erschlagenen Feinde sind nichts anderes als der Aus-
druck seines bösen Gewissens ob seiner Blutschuld; hinter
diesem Aberglauben verbirgt sich ein Stück ethischer Fein-
fühligkeit, welches uns Kulturmenschen verloren gegangen
ist. *)Fromme Seelen, welche unser Wesen gerne von der Be-
rührung mit Bösem und Gemeinem ferne wissen möchten,
werden gewiß nicht versäumen, aus der Frühzeitigkeit und
Eindringlichkeit des Mordverbotes befriedigende Schlüsse zu
zu ziehen auf die Stärke ethischer Regungen, welche uns ein-
gepflanzt sein müssen. Leider beweist dieses Argument noch
mehr für das Gegenteil. Ein so starkes Verbot kann sich
nur gegen einen ebenso starken Impuls richten. Was keines
Menschen Seele begehrt, braucht man nicht zu verbieten**),
es schließt sich von selbst aus. Gerade die Betonung des
Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir*) S. Imago, Bd. II l. c.
**) Vgl. die glänzende Argumentation von Frazer in Imago l. c. und
"Totem und Tabu".S.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [515]
von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern ab-
stammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst,
im Blute lag. Die ethischen Strebungen der Menschheit, an
deren Stärke und Bedeutsamkeit man nicht zu nörgelil braucht,
sind ein Erwerb der Menschengeschichte; in leider sehr wech-
selndem Ausmaße sind sie dann zum ererbten Besitze der
heute lebende Menschheit geworden.Verlassen wir nun den Urmenschen und wenden wir uns
dem Unbewnßten im eigenen Seelenleben zu. Wir fußen hier
ganz auf der Unterenchungsmethode der Psychoanalyse, der
einzigen, die in solche Tiefen reicht. Wir fragen: wie verhält
sich unser Unbewußtes zum Problem des Todes? Die Ant-
wort muß lauten: fast genau so wie der Urmensch. In dieser
wie in vielen anderen Hinsichten lebt der Mensch der Vor-
zeit ungeändert in unserem Unbewußten fort. Also unser
Unbewußtes glaubt nicht an den eigenen Tod, es gebärdet
sich wie unsterblich. Was wir unser „Unbewußtes“ heißen,
die tiefsten, aus Triebregungen bestehenden Schichten un-
serer Seele, kennt überhaupt nichts Negativws, keine Ver-
neinung — Gegensätze fallen in ihm zusammen — und kennt
darum auch nicht den eigenen Tod, dem wir nur einen nega-
tiven Inhalt gehen können. Dem Todesglauben kommt also
nichts Triebhaftes in uns entgegen. Vielleicht ist dies sogar
das Geheimnis des Heldentums. Die rationelle Begründung
des Heldenturns ruht auf dem Urteile, daß das eigene Leben
nicht so wertvoll sein kann wie gewisse abstrakte und all-
gemeine Güter. Aber ich meine, häufiger dürfte das instink-
tive und impulsive Heldentum sein, welches von solcher Moti-
vierung absieht und einfach nach der Zusicherung des An-
zengruberschen Steinklopferhanns Es kann dir nix
g’scheh’n, den Gefahren trotzt. Oder jene Motivierung dient
33*S.
[516] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
nur dazu, die Bedenken wegzuräumen, welche die dem Un-
bewußten entsprechende heldenhafte Reaktion hintanhalten
können. Die Todesangst, unter deren Herrschaft wir häufiger
stehen, als wir selbst wissen, ist dagegen etwas Sekundäres,
und meist aus Schuldbewußtsein hervorgegangen.Anderseits anerkennen wir den Tod für Fremde und Feinde
und verhängen ihn über sie ebenso bereitwillig und unbe-
denklich wie der Urmensch. Hier zeigt sich freilich ein Un-
terschied, den man in der Wirklichkeit für entscheidend er-
klären wird. Unser Unbewußtes führt die Tötung nicht aus,
es denkt und wünscht sie bloß. Aber es wäre unrecht, diese
psychische Realität im Vergleiche zur faktischen so
ganz zu unterschätzen. Sie ist bedeutsam und folgenschwer
genug. Wir beseitigen in unseren unbewußten Regungen täg-
lich und stündlich alle, die uns im Wege stehen, die uns
beleidigt und geschädigt haben. Das „Hol' ihn der Teufel",
das sich so häufig in scherzendem Unmute über unsere Lippen
drängt, und das eigentlich sagen will: Hol' ihn der Tod, in
unserem Unbewußten ist es ernsthafter, kraftvoller Todes-
wunsch. Ja, unser Unbewußtes mordet selbst für Kleinig-
keiten; wie die alte athenische Gesetzgebung des Drakon
kennt es für Verbrechen keine andere Strafe als den Tod,
und dies mit einer gewissen Konsequenz, denn jede Schädi-
gung unseres allmächtigen und selbstherrlichen Ichs ist im
Grunde ein crimen laesae majestatis.So sind wir auch selbst, wenn man uns nach unseren
unbewußten Wunschregungen beurteilt, wie die Urmenschen
eine Rotte von Mördern. Es ist ein Glück, daß alle diese
Wünsche nicht die Kraft besitzen, die ihnen die Menschen
in Urzeiten noch zutrauten*); in dem Kreuzfeuer der gegen-*) Vgl. über „Allmacht der Gedanken" in Imago und „Totem u. Tabu".
S.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [517]
seitigen Verwünschungen wäre die Menschheit längst zugrunde
gegangen, die besten und weisesten der Männer darunter wie
die schönsten und holdesten der Frauen.Mit Aufstellungen wie diesen findet die Psychoanalyse
bei den Laien meist keinen Glauben. Man weist sie als Ver-
leumdungen zurück, welche gegen die Versicherungen des
Bewußtseins nicht in Betracht kommen, und übersieht ge-
schickt die geringen Anzeichen, durch welche sich auch das
Unbewußte dem Bewußtsein zu verraten pflegt. Es ist darum
am Platze darauf hinzuweisen, daß viele Denker, die nicht
von der Psychoanalyse beeinflußt sein konnten, die Bereit-
schaft unserer stillen Gedanken, mit Hinwegsetzung über das
Mordverbot zu beseitigen, was uns im Wege steht, deutlich
genug angeklagt haben. Ich wähle hiefür ein einziges berühmt
gewerdenes Beispiel an Stelle vieler anderer:Im „Père Goriot“ spielt Balzac auf eine Stelle in den
Werken J. J. Rousseaus an, in welcher dieser Autor den
Leser fragt‚ was er wohl tun würde, wenn er — ohne Paris
zu verlassen und natürlich ohne entdeckt zu werden — einen
alten Mandarin in Peking durch einen bloßen Willensakt
töten könnte, dessen Ableben ihm einen großen Vorteil ein-
bringen müßte. Er läßt erraten, daß er das Leben dieses
Würdenträgers für nicht sehr gesichert hält. „Tuer son man-
darin“, ist dann sprichwörtlich worden für diese geheime Be-
reitschaft auch der heutigen Menschen.Es gibt auch eine ganze Anzahl von zynischen Witzen
und Anekdoten, welche nach derselben Richtung Zeugnis ab-
legen, wie z. B. die dem Ehemanne zugeschriebene Äußerung:
Wenn einer von uns beiden stirbt, übersiedle ich nach Paris.
Solche zynische Witze wären nicht möglich, wenn sie nicht
eine verleugnete Wahrheit mitzuteilen hätten, zu der manS.
[518] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
sich nicht bekennen darf, wenn sie ernsthaft und unverhüllt
ausgesprochen wird. Im Scherz darf man bekanntlich sogar
die Wahrheit sagen.Wie für den Urmenschen, so ergibt sich auch für unser
Unbewußtes ein Fall, in dem die beiden entgegengesetzten
Einstellungen gegen den Tod, die eine, welche ihn als Le-
bensvernichtung anerkennt, und die andere, die ihn als un-
wirklich verleugnet, zusammenstoßen und in Konflikt ge-
raten. Und dieser Fall ist der nämliche wie in der Urzeit,
der Tod oder die Todesgefahr eines unserer Lieben, eines
Eltern- oder Gattenteils, eines Geschwisters, Kindes oder lie-
ben Freundes. Diese Lieben sind uns einerseits ein innerer
Besitz, Bestandteile unseres eigenen Ichs, anderseits aber
auch teilweise Fremde, ja Feinde. Den zärtlichsten und in-
nigsten unserer Liebesbeziehungen hängt mit Ausnahme ganz
weniger Situationen ein Stückchen Feindseligkeit an, welches
den unbewußten Todeswunsch anregen kann. Aus diesem Am-
bivalenzkonflikt geht aber nicht wie dereinst die Seelenlehre
und die Ethik hervor, sondern die Neurose, die uns tiefe
Einblicke auch in das normale Seelenleben gestattet. Wie
häufig haben die psychoanalytisch behandelnden Ärzte mit
dem Symptom der überzärtlichen Sorge um das Wohl der
Angehörigen oder mit völlig unbegründeten Selbstvorwürfen
nach dem Tode einer geliebten Person zu tun gehabt. Das
Studium dieser Vorfälle hat ihnen über die Verbreitung und
Bedeutung der unbewußten Todeswünsche keinen Zweifel ge-
lassen.Der Laie empfindet ein außerordentliches Grauen vor
dieser Gefühlsmöglichkeit und nimmt diese Abneigung als
legitimen Grund zum Unglauben gegen die Behauptungen der
Psychoanalyse. Ich meine mit Unrecht. Es wird keine Herab-S.
XXVIII. ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD. [519]
setzung unseres Liebeslebens beabsichtigt, und es liegt auch
keine solche vor. Unserem Verständnis wie unserer Empfin-
dung liegt es freilich ferne, Liebe und Heß in solcher Weise
miteinander zu verkoppeln, aber indem die Natur mit diesem
Gegensatzpaar arbeitet, bringt sie es zu stande, die Liebe
immer wach und frisch zu erhalten, um sie gegen den hinter
ihr lauernden Haß zu versichern. Man darf sagen, die schön-
sten Entfaltungen unseres Liebeslebens danken wir der Re-
aktion gegen den feindseligen Impuls, den wir in unserer
Brust verspüren.Resümieren wir nun: unser Unbewußtes ist gegen die
Vorstellung des eigenen Todes ebenso unzugänglich, gegen
den Fremden ebenso mordlustig, gegen die geliebte Person
ebenso zwiespältig (ambivelent) wie der Mensch der Urzeit.
Wie weit haben wir uns aber in der konventionell-kulturellen
Einstellung gegen den Tod von diesem Urzustande entfernt!Es ist leicht zu sagen, wie der Krieg in diese Entzwei-
ung eingreift. Er streift uns die späteren Kulturauflagerun-
gen ab und läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein
kommen. Er zwingt uns wieder, Helden zu sein, die an den
eigenen Tod nicht glauben können; er bezeichnet uns die
Fremden als Feinde, deren Tod man herbeiführen oder her-
beiwünschen soll; er rät uns, uns über den Tod geliebter
Personen hinwegzusetzen Der Krieg ist aber nicht abzu-
schaffen; solange die Existenzbedingungen der Völker so ver-
schieden und die Abstoßungen unter ihnen so heftig sind,
wird es Kriege geben müssen. Da erhebt sich denn die Frage:
Sollen wir nicht diejenigen sein, die nachgeben und sich ihm
anpassen? Sollen wir nicht zugestehen, daß wir mit unserer
kulturellen Einstellung zum Tode psychologisch wieder ein-
mal über unseren Stand gelebt haben, und vielmehr umkehrenS.
[520] SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
und die Wahrheit fatieren? Wäre es nicht besser, dem Tode
den Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken ein-
zuräumen, der ihm gebührt, und unsere unbewußte Einstel-
lung zum Tode, die wir bisher so sorgfältig unterdrückt haben,
ein wenig mehr hervorzukehren? Es scheint das keine Höher-
leistung zu sein, eher ein Rückschritt in manchen Stücken,
eine Regression, aber es hat den Vorteil, der Wahrhaftigkeit
mehr Rechnung zu tragen und uns das Leben wieder erträg-
licher zu machen. Das Leben zu ertragen, bleibt ja doch die
erste Pflicht aller Lebenden. Die Illusion wird wertlos, wenn
sie uns darin stört.Wir erinnern uns des alten Spruches:
Si vis pacem, para bellum.
(Wenn du den Frieden erhalten willst, so rüste zum Kriege.)
Es wäre zeitgemäß, ihn abzuändern:
Si vis vitam, para mortem.
(Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den
Tod ein.)
sksn42
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