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Neue Arzneimittel und Heilmethoden.
Ueber die verschiedenen Cocain-Präparate
und deren Wirkung.
Noch ist es kein Jahr, dass Dr. Freud die Aufmerksamkeit
der medizinischen Welt auf die Wirkung der Cocapflanze lenkte,
jener „göttlichen Pflanze“ der Indianer, „welche den Hungerigen
sättigt, den Schwachen stärkt und sie ihr Missgeschick vergessen
macht“, und schon hat sich die Cocapflanze und das aus ihren Blättern
dargestellte Alkaloid, das **Cocain**, insbesondere letzteres, durch seine
Einführung in die oculistische Praxis, nach einem Triumphzuge durch
ganz Europa, der seinesgleichen sucht, eine Stellung in der Therapie
errungen, welche man kühn mit der des Morphins, Chinins und ähn-
licher ausgezeichneter Präparate vergleichen kann. Man kann es
fast nicht begreifen, dass die Cocapflanze, deren Wirkung schon vor
mehreren Jahrhunderten den Südamerikanern bekannt war, so lange
unbeachtet blieb, obwohl Reisende genug Wunderdinge davon erzählt
haben und vor mehr als 20 Jahren durch Lossen und Niemann das
Alkaloid Cocain aus Cocablättern dargestellt worden war, welche
unser ausgezeichneter Consul Dr. Scherzer 1859 von der Expedition
der österreichischen Fregatte „**Novara**“ nach Wien gebracht und
Prof. Wöhler zur Untersuchung gesandt hatte. Man erklärt sich
dies aber etwas leichter, wenn man berücksichtigt, dass die trockenen
Cocablätter, die allein nach Europa in den Handel kommen, können,
durch das Trocknen und Lagern immer mehr an Wirksamkeit ab-
nehmen, indem das wirksame Cocain augenscheinlich eine Zersetzung
erleidet, so dass ältere Cocablätter — wie auch E. **MERCK** schon
mittheilte — fast gar keine Ausbeute an Cocain geben. Gibt uns
dies also eine Erklärung dafür, dass die Cocablätter bei diesbezüg-
lichen Versuchen enttäuschen konnten, so wird uns andererseits auch
die Vernachlässigung des Cocains leichter begreiflich, wenn wir be-
rücksichtigen, dass ausser den zweifellos wirksamen Präparaten von
**MERCK** und **GEHE** verschiedene Cocainsorten in Handel kommen,
welche fast gar keine Wirkung äussern, und Cocain überhaupt ein548
verhältnissmässig leicht zerstörlicher Körper ist, der sich — namentlich
in Lösung und beim Erwärmen — in Methylalkohol, Benzolsäure und
Eocain zersetzt. Man beachtet sowohl, dass auch Cocain in säuren
Lösungen zersetzt, als auch, dass es durch Kaliumcarbonat unter
Bildung von Kaliumbenzoat eine Zersetzung erleidet. Es ist unter diesen
Verhältnissen begreiflich, dass nur ein mit ausserordentlicher Vorsicht
bereitete Präparate volle Wirksamkeit besitzen können, während über-
sichtlich Präparate in den Handel kommen, welche wohl gar kein Cocain
mehr enthielten, die so vollkommen unwirksam waren.
Aus der Thatsache stellen sich heute nach der Einführung
des Cocains als grosse Hindernisse in den Weg; dazu kommt noch der
hohe Preis und in neuerer Zeit das vollständige Fehlen der beiden
Präparate. Mit welchen die gleichfalls vollständige Dr. **FRIEDR.**
Dr. **KÖLLER**'s, Dr. **KÖNIGSTEIN**'s erzielt worden waren, nämlich der
Präparate von **MERCK** und **GEHE**. Der gänzliche Mangel an halbwegs
brauchbarem Rohmaterial zwang diese Fabriken, die Erzeugung ein-
zustellen.
Unter solchen Verhältnissen lag es nahe, die Aufmerksamkeit
auf Amerika zu richten, wo die Cocapflanze zu Hause, daher für
Cocain-Fabrikation das Rohmaterial frisch und leicht zu beschaffen
ist. Es erzeugt nun die bedeutendste pharmaceutische Fabrik Amerikas,
die Firma **Parke, Davis** & **Co.** in Detroit, welche sich bereits um
die Einführung vieler neuer Drogen und deren Präparate verdient
gemacht hat, ein **Cocain**, das sich nicht nur in seiner Wirksamkeit den
**MERCK**'schen Präparate vollkommen gleichwerthig, sondern auch
vor demselben auch noch den Vorzug besitzt, dass es leichter löslich
und rein weiss ist (beim **Stüh** in's Gelbliche besitzen wir die
**MERCK**'schen beides Eigenschaften, welche auf grössere Reinheit der
**Parke**'schen Präparates hindeuten. Es ist auch vollkommen frei von
**Hygrin** und besitzt einen aromatischen Geruch.
Von der Wirksamkeit des **Parke**'schen Präparates haben sich
bereits zahlreiche Kliniker Amerikas und auch Europas überzeugt.
Hier in Wien hat unter Anderen Dr. **BERKOSZAY** an der Poliklinik
des Herrn Regierungsrathes Prof. **SCHÖN** Versuche mit dem
Cocainum von **Parke, Davis** & **Co.** angestellt, welche in jeder
Beziehung befriedigt haben.
Dr. **BERKOSZAY** hat das von **Parke, Davis** & **Co.** in Detroit,
U. S. A., fabriksmässig dargestellte salzsaure Cocain in geeigneten
rhino- und laryngologischen Fällen versucht, um diesen Wirkung
überhaupt zu erproben; andererseits auch, um die Wirksamkeit
dieses Präparates mit der der bekannten europäischen Fabrikate zu
vergleichen und gefunden, dass die Wirkung zum Mindesten die
gleiche ist.
Dr. **BERKOSZAY** verwendete Lösungen von 2, 5, 10 und
20 procent Konzentration. Für die Anästhesirung des Kehlkopfes nahm
er 10- bis 20prozentige Lösungen, während zur anästhesierenden und
angiospastischen Eigenschaft eine 2- bis 5prozentige Solution voll-
kommen ausreichte.
Auch Dr. **FREUD**, der Wiederentdecker der Cocapflanze, hat
Versuche mit **Parke**'schen Cocain angestellt, über welche er sich
folgendermassen äussert:
„Ich habe das von **Parke, Davis** & **Co.** in den Handel ge-
brachte Cocainum muriaticum auf seine physiologischen Wirkungen
und seinen therapeutischen Werth geprüft, und kann aussagen, dass
es völlig dasselbe leistet wie das **Merck**'sche Präparat gleichen
Namens. Bei interner Einnahme erzeugt dasselbe die charakteristische
Euphonie und die am Dynamometer nachweisbare Steigerung der
Leistungsfähigkeit in gleicher Dosis wie das **Merck**'sche Cocainsalz;
bei externer Applikation in 2prozentiger Lösung anästhesirt es die
Horn- und Bindehaut des Auges ebenso rasch und vollkommen,
endlich in subcutaner Injektion ruft es bei Thieren dieselben Krämpfe
und Lähmungserscheinungen hervor. Nur im Geschmacke glaube ich
mehrmals eine Verschiedenheit der beiden Präparate wahrzunehmen.
Es sind dies durchwegs zufriedenstellende Resultate, welche zeigen,
dass das **Cocainum** von **Parke** demselben sich in Folge der grünnen Er-
giebigkeit der im Lande selbst verarbeiteten Cocablätter und in Folge der
geringeren Transportkosten des fertigen Alkaloids gegenüber denen
der Blätter, nach erheblich billiger Stellt als alle europäischen Präparate,
die grösste Zukunft hat.S.
Wir wollen hier kurz rekapituliren, welche Indikationen
Dr. Freud im Juli vorigen Jahres für den Cocagebrauch aufgestellt
hat; es sind dies: a) Coca als Stimulans, b) Cocain in Störungen der
Magenverdauung, c) Coca in Kachexien, d) Cocain in der Morphin-
und Alkohol-Entwöhnung, e) Coca gegen Asthma, f) Coca als Aphro-
disiacum, und g) örtliche Anwendung des Coca.
Diese letztere Anwendung, die lokale Anästhesirung mittelst
Cocain, war es, welche ganz besonders für die Anerkennung des Cocains
entscheidend wurde. Die damaligen Worte Freud's: „Anwendungen,
die auf der anästhesirenden Eigenschaft des Cocains beruhen, dürften
sich wohl noch mehrere ergeben“, sind nicht nur wahr, sondern in
ungeahnter Weise überboten worden, indem Cocain in einer unüber-
sehbaren Menge der verschiedensten Fälle mit Erfolg zur lokalen
Anästhesie verwendet wurde. Am epochemachendsten war in dieser
Beziehung die schmerzstillende und sekretionseinschränkende Wirkung
des Cocains in krankhaften Zuständen des Auges, welche auf Ver-
anlassung Dr. Freud's durch Dr. Königstein und unabhängig von
Beiden durch Dr. Köller erkannt wurde, welch' Letzterer bekannt-
lich durch seine Mittheilung an den Heidelberger Kongress der
Augenärzte die allgemeine Anwendung des Cocains als lokales An-
ästhetikum veranlasste.
Bald darauf wurde dann auch die anästhesirende und analge-
sirende Wirkung des Cocains erprobt bei Krankheiten der Nase, des
Rachens und des Kehlkopfes; ebenso bewährte sich das Mittel auch
in der Gynäkologie, endlich überall, wo eine örtlich schmerzlindernde
Wirkung erzielt werden sollte, bei den verschiedenen Geschwüren,
Brandwunden; ferner hat das Cocain bei kleinen Operationen
mannigfachster Art und an den verschiedensten Körpertheilen, zur
Anästhesirung fast aller zugänglichen Schleimhäute und überhaupt in
einer unübersehbaren Zahl der verschiedenartigsten Fälle vorzügliche
Dienste geleistet. Die Literatur über Cocain ist deshalb auchim Laufe der letzten Monate eine so umfangreiche gewesen, wie
über keinen anderen Arzneistoff, und es würde eines viel um-
fangreicheren und eingehenderen Artikels bedürfen, um alle dies-
bezüglichen Erfahrungen, wenn auch nur kurz, zu resumiren. Aber die
Versuche mit Cocain sind noch lange nicht abgeschlossen, und dadurch,
dass die Firma **Parke, Davis & Co.** in Detroit nun nicht nur ein voll-
kommen verlässliches, wirksames und reines **Cocainum purum** und
**Cocainum muriaticum**, in schön weissem Pulver (zu billigerem Preise),
sondern auch 2prozentige und 4prozentige haltbare Lösungen, sowie
**Cocainum citricum** in 4prozentiger, **Cocainum salicylicum** in 4prozentiger
und **Cocainum oleinicum** in 5prozentiger Lösung nach Europa auf den
Markt bringt, ist den Versuchen ein ganz neues Feld erschlossen,
welches voraussichtlich noch zu bedeutenden weiteren Anwendungen der
Coccawirkung führen wird. Insbesondere wird sich das **Cocainum**
**salicylicum Parke** und das **Cocain. citr. Parke** wegen seiner guten Halt-
barkeit zu Instillationen bei Anwendung in wässeriger Lösung und
das **Cocainum oleinicum Parke** bei äusserlicher Anwendung in Sup-
positorien, Unguenten etc. empfehlen.
Der billigere Preis und die Haltbarkeit der Cocain-Lösungen
**Parke**'s werden hoffentlich auch zu einer grösseren Anwendung Cocains
in seiner wunderbaren Allgemeinwirkung, welche in einer Hebung der
Stimmung, der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit und Aus-
dauer besteht, führen; denn die Versuche und Messungen, welche
Dr. **Freud**, unter Assistenz Dr. **Herrig**'s, mit dem Dr. v. **Burq**'schen
Dynamometer (und Beihilfe des **EXNER**'schen Neuramöbimeter) an-
stellte, haben auch mathematisch die Gewissheit der Cocainwirkung er-
wiesen, indem 0·05–0·10 Grm. Cocain die motorische Kraft der
Arme merklich erhöhten, und es wäre schade, wenn man diese aus-
gezeichnete Eigenschaft des Cocains ungenützt liesse. **Gutt.**
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