Ueber die verschiedenen Cocaïn-Präparate und deren Wirkung 1885-005/1885
  • S.

    Neue Arzneimittel und Heilmethoden.


     

    Ueber die verschiedenen Cocain-Präparate 
    und deren Wirkung.


     

          Noch ist es kein Jahr, dass Dr. Freud die Aufmerksamkeit 
    der medizinischen Welt auf die Wirkung der Cocapflanze lenkte, 
    jener „göttlichen Pflanze“ der Indianer, „welche den Hungerigen 
    sättigt, den Schwachen stärkt und sie ihr Missgeschick vergessen 
    macht“, und schon hat sich die Cocapflanze und das aus ihren Blättern 
    dargestellte Alkaloid, das **Cocain**, insbesondere letzteres, durch seine 
    Einführung in die oculistische Praxis, nach einem Triumphzuge durch 
    ganz Europa, der seinesgleichen sucht, eine Stellung in der Therapie 
    errungen, welche man kühn mit der des Morphins, Chinins und ähn- 
    licher ausgezeichneter Präparate vergleichen kann. Man kann es 
    fast nicht begreifen, dass die Cocapflanze, deren Wirkung schon vor 
    mehreren Jahrhunderten den Südamerikanern bekannt war, so lange 
    unbeachtet blieb, obwohl Reisende genug Wunderdinge davon erzählt 
    haben und vor mehr als 20 Jahren durch Lossen und Niemann das 
    Alkaloid Cocain aus Cocablättern dargestellt worden war, welche 
    unser ausgezeichneter Consul Dr. Scherzer 1859 von der Expedition 
    der österreichischen Fregatte „**Novara**“ nach Wien gebracht und 
    Prof. Wöhler zur Untersuchung gesandt hatte. Man erklärt sich 
    dies aber etwas leichter, wenn man berücksichtigt, dass die trockenen 
    Cocablätter, die allein nach Europa in den Handel kommen, können, 
    durch das Trocknen und Lagern immer mehr an Wirksamkeit ab- 
    nehmen, indem das wirksame Cocain augenscheinlich eine Zersetzung 
    erleidet, so dass ältere Cocablätter — wie auch E. **MERCK** schon 
    mittheilte — fast gar keine Ausbeute an Cocain geben. Gibt uns 
    dies also eine Erklärung dafür, dass die Cocablätter bei diesbezüg- 
    lichen Versuchen enttäuschen konnten, so wird uns andererseits auch 
    die Vernachlässigung des Cocains leichter begreiflich, wenn wir be- 
    rücksichtigen, dass ausser den zweifellos wirksamen Präparaten von 
    **MERCK** und **GEHE** verschiedene Cocainsorten in Handel kommen, 
    welche fast gar keine Wirkung äussern, und Cocain überhaupt ein

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    verhältnissmässig leicht zerstörlicher Körper ist, der sich — namentlich 
    in Lösung und beim Erwärmen — in Methylalkohol, Benzolsäure und 
    Eocain zersetzt. Man beachtet sowohl, dass auch Cocain in säuren 
    Lösungen zersetzt, als auch, dass es durch Kaliumcarbonat unter 
    Bildung von Kaliumbenzoat eine Zersetzung erleidet. Es ist unter diesen 
    Verhältnissen begreiflich, dass nur ein mit ausserordentlicher Vorsicht 
    bereitete Präparate volle Wirksamkeit besitzen können, während über- 
    sichtlich Präparate in den Handel kommen, welche wohl gar kein Cocain 
    mehr enthielten, die so vollkommen unwirksam waren. 

    Aus der Thatsache stellen sich heute nach der Einführung 
    des Cocains als grosse Hindernisse in den Weg; dazu kommt noch der 
    hohe Preis und in neuerer Zeit das vollständige Fehlen der beiden 
    Präparate. Mit welchen die gleichfalls vollständige Dr. **FRIEDR.** 
    Dr. **KÖLLER**'s, Dr. **KÖNIGSTEIN**'s erzielt worden waren, nämlich der 
    Präparate von **MERCK** und **GEHE**. Der gänzliche Mangel an halbwegs 
    brauchbarem Rohmaterial zwang diese Fabriken, die Erzeugung ein- 
    zustellen. 

    Unter solchen Verhältnissen lag es nahe, die Aufmerksamkeit 
    auf Amerika zu richten, wo die Cocapflanze zu Hause, daher für 
    Cocain-Fabrikation das Rohmaterial frisch und leicht zu beschaffen 
    ist. Es erzeugt nun die bedeutendste pharmaceutische Fabrik Amerikas, 
    die Firma **Parke, Davis** & **Co.** in Detroit, welche sich bereits um 
    die Einführung vieler neuer Drogen und deren Präparate verdient 
    gemacht hat, ein **Cocain**, das sich nicht nur in seiner Wirksamkeit den 
    **MERCK**'schen Präparate vollkommen gleichwerthig, sondern auch 
    vor dem­selben auch noch den Vorzug besitzt, dass es leichter löslich 
    und rein weiss ist (beim **Stüh** in's Gelbliche besitzen wir die 
    **MERCK**'schen beides Eigenschaften, welche auf grössere Reinheit der 
    **Parke**'schen Präparates hindeuten. Es ist auch vollkommen frei von 
    **Hygrin** und besitzt einen aromatischen Geruch. 

    Von der Wirksamkeit des **Parke**'schen Präparates haben sich 
    bereits zahlreiche Kliniker Amerikas und auch Europas überzeugt. 
    Hier in Wien hat unter Anderen Dr. **BERKOSZAY** an der Poliklinik 
    des Herrn Regierungsrathes Prof. **SCHÖN** Versuche mit dem 
    Cocainum von **Parke, Davis** & **Co.** angestellt, welche in jeder 
    Beziehung befriedigt haben. 

    Dr. **BERKOSZAY** hat das von **Parke, Davis** & **Co.** in Detroit, 
    U. S. A., fabriksmässig dargestellte salzsaure Cocain in geeigneten 
    rhino- und laryngologischen Fällen versucht, um diesen Wirkung 
    überhaupt zu erproben; andererseits auch, um die Wirksamkeit 
    dieses Präparates mit der der bekannten europäischen Fabrikate zu 
    vergleichen und gefunden, dass die Wirkung zum Mindesten die 
    gleiche ist. 

    Dr. **BERKOSZAY** verwendete Lösungen von 2, 5, 10 und 
    20 procent Konzentration. Für die Anästhesirung des Kehlkopfes nahm 
    er 10- bis 20prozentige Lösungen, während zur anästhesierenden und 
    angiospastischen Eigenschaft eine 2- bis 5prozentige Solution voll- 
    kommen ausreichte. 

    Auch Dr. **FREUD**, der Wiederentdecker der Cocapflanze, hat 
    Versuche mit **Parke**'schen Cocain angestellt, über welche er sich 
    folgendermassen äussert: 

    „Ich habe das von **Parke, Davis** & **Co.** in den Handel ge- 
    brachte Cocainum muriaticum auf seine physiologischen Wirkungen 
    und seinen therapeutischen Werth geprüft, und kann aussagen, dass 
    es völlig dasselbe leistet wie das **Merck**'sche Präparat gleichen 
    Namens. Bei interner Einnahme erzeugt dasselbe die charakteristische 
    Euphonie und die am Dynamometer nachweisbare Steigerung der 
    Leistungsfähigkeit in gleicher Dosis wie das **Merck**'sche Cocainsalz; 
    bei externer Applikation in 2prozentiger Lösung anästhesirt es die 
    Horn- und Bindehaut des Auges ebenso rasch und vollkommen, 
    endlich in subcutaner Injektion ruft es bei Thieren dieselben Krämpfe 
    und Lähmungserscheinungen hervor. Nur im Geschmacke glaube ich 
    mehrmals eine Verschiedenheit der beiden Präparate wahrzunehmen. 

    Es sind dies durchwegs zufriedenstellende Resultate, welche zeigen, 
    dass das **Cocainum** von **Parke** demselben sich in Folge der grünnen Er- 
    giebigkeit der im Lande selbst verarbeiteten Cocablätter und in Folge der 
    geringeren Transportkosten des fertigen Alkaloids gegenüber denen 
    der Blätter, nach erheblich billiger Stellt als alle europäischen Präparate, 
    die grösste Zukunft hat.

  • S.

          Wir wollen hier kurz rekapituliren, welche Indikationen 
    Dr. Freud im Juli vorigen Jahres für den Cocagebrauch aufgestellt 
    hat; es sind dies: a) Coca als Stimulans, b) Cocain in Störungen der 
    Magenverdauung, c) Coca in Kachexien, d) Cocain in der Morphin- 
    und Alkohol-Entwöhnung, e) Coca gegen Asthma, f) Coca als Aphro- 
    disiacum, und g) örtliche Anwendung des Coca. 

          Diese letztere Anwendung, die lokale Anästhesirung mittelst 
    Cocain, war es, welche ganz besonders für die Anerkennung des Cocains 
    entscheidend wurde. Die damaligen Worte Freud's: „Anwendungen, 
    die auf der anästhesirenden Eigenschaft des Cocains beruhen, dürften 
    sich wohl noch mehrere ergeben“, sind nicht nur wahr, sondern in 
    ungeahnter Weise überboten worden, indem Cocain in einer unüber- 
    sehbaren Menge der verschiedensten Fälle mit Erfolg zur lokalen 
    Anästhesie verwendet wurde. Am epochemachendsten war in dieser 
    Beziehung die schmerzstillende und sekretionseinschränkende Wirkung 
    des Cocains in krankhaften Zuständen des Auges, welche auf Ver- 
    anlassung Dr. Freud's durch Dr. Königstein und unabhängig von 
    Beiden durch Dr. Köller erkannt wurde, welch' Letzterer bekannt- 
    lich durch seine Mittheilung an den Heidelberger Kongress der 
    Augenärzte die allgemeine Anwendung des Cocains als lokales An- 
    ästhetikum veranlasste. 

          Bald darauf wurde dann auch die anästhesirende und analge- 
    sirende Wirkung des Cocains erprobt bei Krankheiten der Nase, des 
    Rachens und des Kehlkopfes; ebenso bewährte sich das Mittel auch 
    in der Gynäkologie, endlich überall, wo eine örtlich schmerzlindernde 
    Wirkung erzielt werden sollte, bei den verschiedenen Geschwüren, 
    Brandwunden; ferner hat das Cocain bei kleinen Operationen 
    mannigfachster Art und an den verschiedensten Körpertheilen, zur 
    Anästhesirung fast aller zugänglichen Schleimhäute und überhaupt in 
    einer unübersehbaren Zahl der verschiedenartigsten Fälle vorzügliche 
    Dienste geleistet. Die Literatur über Cocain ist deshalb auch

    im Laufe der letzten Monate eine so umfangreiche gewesen, wie 
    über keinen anderen Arzneistoff, und es würde eines viel um- 
    fangreicheren und eingehenderen Artikels bedürfen, um alle dies- 
    bezüglichen Erfahrungen, wenn auch nur kurz, zu resumiren. Aber die 
    Versuche mit Cocain sind noch lange nicht abgeschlossen, und dadurch, 
    dass die Firma **Parke, Davis & Co.** in Detroit nun nicht nur ein voll- 
    kommen verlässliches, wirksames und reines **Cocainum purum** und 
    **Cocainum muriaticum**, in schön weissem Pulver (zu billigerem Preise), 
    sondern auch 2prozentige und 4prozentige haltbare Lösungen, sowie 
    **Cocainum citricum** in 4prozentiger, **Cocainum salicylicum** in 4prozentiger 
    und **Cocainum oleinicum** in 5prozentiger Lösung nach Europa auf den 
    Markt bringt, ist den Versuchen ein ganz neues Feld erschlossen, 
    welches voraussichtlich noch zu bedeutenden weiteren Anwendungen der 
    Coccawirkung führen wird. Insbesondere wird sich das **Cocainum** 
    **salicylicum Parke** und das **Cocain. citr. Parke** wegen seiner guten Halt- 
    barkeit zu Instillationen bei Anwendung in wässeriger Lösung und 
    das **Cocainum oleinicum Parke** bei äusserlicher Anwendung in Sup- 
    positorien, Unguenten etc. empfehlen. 

          Der billigere Preis und die Haltbarkeit der Cocain-Lösungen 
    **Parke**'s werden hoffentlich auch zu einer grösseren Anwendung Cocains 
    in seiner wunderbaren Allgemeinwirkung, welche in einer Hebung der 
    Stimmung, der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit und Aus- 
    dauer besteht, führen; denn die Versuche und Messungen, welche 
    Dr. **Freud**, unter Assistenz Dr. **Herrig**'s, mit dem Dr. v. **Burq**'schen 
    Dynamometer (und Beihilfe des **EXNER**'schen Neuramöbimeter) an- 
    stellte, haben auch mathematisch die Gewissheit der Cocainwirkung er- 
    wiesen, indem 0·05–0·10 Grm. Cocain die motorische Kraft der 
    Arme merklich erhöhten, und es wäre schade, wenn man diese aus- 
    gezeichnete Eigenschaft des Cocains ungenützt liesse. **Gutt.**