Beobachtungen einer hochgradigen Hemianästhesie bei einem hysterischen Manne. (Schluss) 1886-004/1886.2
  • S.

    1674

    [...]

    Beiträge zur Kasuistik der Hysterie.
    Von Dr. SIGM. FREUD, Dozenten für Nervenkrankheiten in Wien.

    I.

    Beobachtung einer hochgradigen Hemianästhesie bei einem
    hysterischen Manne.
    (Schluss.)

    Untersuchung des Sehorgans vom Dozenten Dr. L. Königstein.

    Es war vorauszusehen, dass, wenn Anästhesie der gan-
    zen linken Körperhältte vorhanden und diese, wie wir eben
    gesehen haben, als eine hysterische begründet werden, auch
    das Auge gewisse Erscheinungen darbieten werde, wie sie
    bei der hysterischen Hemianästhesie beobachtet werden, die
    nun ihrerseits wieder die Diagnose Hysterie bestätigen.

    Ich will nun den Befund, wie ich ihn bei zwei ver-
    schiedenen Untersuchungen erhalten, vorerst mittheilen und
    mir dann erlauben, einige Bemerkungen anzuknüpfen. Ich
    sah den Patienten zum ersten Male am 23. v. M. in der
    Wohnung des Kollegen Freud und untersuchte zuerst seine
    Sehschärte für die Ferne an den nach Snellen’schem Prinzipe
    verfertigten Zillertafeln. Das rechte Auge zeigte normale
    Sehschärfe, Sn.6/6, das linke Auge nur 6/9 und auch das
    nicht vollständig; nach kurzer Zeit schon waren, wie der
    Kranke sich ausdrückte, die Zeilen in einander verschwom-
    men. Ich hielt nun ein Planglas vor dasselbe, die Sehschärfe
    steigerte sich auf 6/6 und die Buchstaben konnten durch
    längere Zeit fixirt werden. Ich legte nun abwechselnd Kon-
    vexgläser und das Planglas vor, regelmässig wurde das Plan-
    glas bevorzugt und die Konvexgläser verworfen. Ich prüfte
    nun die Akkommodation. Mit dem rechten Auge wird Sn.
    0.5 geläufig gelesen und kann fast bis an den seinem Alter
    entsprechenden Nahepunkt gebracht werden, aber nur für
    kurze Zeit, Patient erklärt dann, er sehe gar nichts mehr.
    Mit dem linken Auge dagegen können Sn. 0.5, 06 und 0.8
    gar nicht gelesen werden, es erscheint Alles grau. Hielt
    ich jetzt das Planglas vor, so werden die oben genann-
    ten Schriftproben ganz deutlich gelesen und wird auch
    das rechte Auge durch das Vorsetzen dieses indifferenten
    Glases ausdauernder. Nahm ich anstatt des Planglases ein
    schwaches Konvexglas + 0.5 D. bis 2 D., so wurden die
    Schriftprobcn gar nicht oder doch relativ schlecht gelesen.
    Ich überzeugte mich durch öftere Kontrolluntersuchungen,
    dass stets dem Planglase der Vorzug gegeben wurde.

    Liess ich meinen Finger bei geschlossenem linken Auge
    fixiren, so wurde derselbe bis in den Bereich des Nahepunktes
    hinein einfach gesehen, übernahm dagegen das linke Auge
    die Fixation, so erschien der Finger, wenn er dem Auge
    genähert wurde, grösser und dann doppelt, dagegen kleiner
    und mehrfach (3-4fach), wenn er von demselben abgerückt
    wurde. Dies wiederholte sich regelmässig, so oft diese Pro-
    zedur vorgenommen wurde.

    Das Gesichtsfeld konnte nur durch Handbewegungen
    gemessen werden, schien an beiden Augen nicht different und
    auch nicht eingeschränkt zu sein. Der Farbensinn wurde mit
    Wollbündeln geprüft. Violett wurde für schwarz erklärt,
    dunklere Nuancirungen von blau desgleichen, gelb für braun
    mit Ausnahme seiner gesättigten hellen Nuancen, lichtes
    Grün für grün, die dunkleren Nuancen für grau oder schwarz,
    roth aber wurde richtig erkannt, nur ein dunkles Rothbraun
    für schwarz gehalten. Drei Tage später hatte ich abermals
    Gelegenheit, den Patienten zu untersuchen. Die Sehschärfe
    hatte sich nicht geändert, auch wurde diesmal die Angabe
    gemacht, dass Plangläser verbessern, dasselbe wurde aber
    auch von schwachen Konvexgläsern 0.25 und 0.5 behauptet.
    Auch bei Prüfung der Akkommodation zeigte sich ein Unter-

  • S.

    1675

    schied. Es konnten diesmal die kleinsten Schriftproben mit
    dem linken Auge gelesen werden, wenn auch nur für sehr
    kurze Zeit. Mit einem Planglase wurde besser gelesen, das
    Auge ermüdete aber ebenfalls nach kurzer Zeit; ich ging zu
    Konvexgläsern über, bei jedem wurde anfangs behauptet,
    dass mit ihm besser gesehen würde, desgleichen aber auch,
    wenn ich wieder nach abwärts ging und schwächere Konvex-
    gläser nahm oder das Planglas wieder versetzte. Eine Zeit
    lang konnte immer relativ deutlich gelesen werden, dann
    wurde immer Alles grau. Polyopie, sowie Makro- und Mikro-
    pie bestanden in gleichem Masse, wie bei der ersten Unter-
    suchung.

    Dagegen zeigte das Gesichtsield, am Perimeter geprüft,
    wie die beigedruckten Schemata zeigen, sehr bedeutende Ano-

     

    Gesichtsfeld-Bezeichnung: ..... weiß, ..... roth, ..... grün, ..... gelb, ..... blau.

     

    malien. Es ist vor Allem das Gesichtsfeld für weiss in ziem-
    lich hohem Grade konzentrisch eingeengt, und zwar auf dem
    linken Auge in höherem Grade, als rechts; es ist ferner auf
    dem Schema nur noch das Gesichtsfeld für roth von einiger
    Ausdehnung, die anderen Farben werden nur mehr im Zen-
    trum erkannt, wie z. B. blau, oder nur einige Grade um
    das Zentrum herum, wie gelb und grün.

    Diese beiden Befunde stimmen im Grossen und Ganzen
    überein, wenn sie auch gewisse Schwankungen aufweisen, die
    vielleicht der Ermüdung zuzuschreiben sind. Solche Schwan-
    kungen wurden mehrfach bei Neurasthenie beobachtet und wer-
    den als Asthenopia nervosa beschrieben. Der Zustand unseres
    Kranken ist sicher, was Akkommodation und sein Gesichts-
    feld für weiss betrifft, rnit dem eines neurasthenischen ver-
    wandt. Er hat vor einiger Zeit Konvexgläser verordnet er-
    halten, die, wie aus dem obigen Befunde, dass er das eine
    Mal ein Planglas vorgezogen, das andere Mal bald mit dem
    Planglase, bald mit einem Konvexglase besser gesehen, für
    ihn natürlich gegenwärtig ohne Nutzen sind. Zur Vervoll-
    ständigung füge ich noch hinzu, dass die Pupillarreaktion
    prompt vor sich geht und dass der Augenspiegelbefund ne-
    gativ ist.

    Die erste Kenntniss der hysterischen Amblyopie kam
    uns vor mehr als einem Jahrzehnte von Charcot und seinen
    Schülern, und hat speziell Landolt verschiedene Typen der-
    selben aufgestellt. Dann wurde auch von anderen Seiten
    kasuistisches Material geliefert und haben wir auch in Wien
    Gelegenheit gehabt, derartige, ganz besonders charakteristische
    Fälle bei Mädchen und Frauen zu sehen, ich erinnere z. B.
    nur an ein Mädchen Namens Eisler, die sicher von allen
    Okulisten Wiens untersucht wurde, und die von Mauthner
    in seinen Vorträgen aus dem Gesammtgebiete der Augen-
    heilkunde in dem Abschnitte „Gehirn und Auge“ beschrieben
    wurde. Es darf nicht geläugnet werden, dass wir seinerzeit
    sehr geneigt waren, diese Erkrankung als Simulation oder doch

    1676

    als Uebertreibung einzelner Symptome aufzufassen. Das
    Schwanken und Wechseln in den Erscheinungen liess uns
    kein rechtes Zutrauen fiir die erhaltenen Befunde fassen,
    heute aber wissen wir jedoch, dass gerade die Labilität mit
    ein charakteristisches Symptom der Hysterie ist. Aber trotz
    dieser Labilität treten gewisse funktionelle Störungen, wenn
    auch mit Wechselnder Intensität, fast ständig auf, von denen
    eines allein uns schon zur Diagnose Hysterie berechtigt
    oder den Verdacht auf dieselbe lenkt. Diese Anomalien sind:
    die konzentrische Einengung des Gesichtsieldes für weiss, aber
    insbesondere die Farbensinnstörungen, ferner die monokulare
    Polyopic‚ verbunden mit Makro- und. Mikropie.

    Die Kasuistik bringt zahlreiche Beispiele, bei welchen
    totale Amanrose, einseitige oder beiderseitige oder hochgra-

     

    Gesichtsfeld-Bezeichnung: ..... weiß, ..... roth, ..... grün, ..... gelb, ..... blau.

     

    dige Amblyopie gefunden, bei denen Hemianopie, und zwar
    zumeist temporale, beobachtet wurde; auch ich hatte Gelegen-
    heit, solche Individuen zu untersuchen, es war bei ihnen an
    der Diagnose Hysterie wohl kein Zweifel, aber die charak-
    teristischen Symptome der hysterischen Hemianästhesie waren
    nicht deutlich ausgesprochen.

     

    Die Farbensinnstörungen sind bei der Hysterie fast
    ausnahmslos derartige, wie sie in unser gewöhnliches Schema
    nicht hineinpassen. Bei Erkrankungen des nervösen Apparates
    sehen wir zuerst roth und grün verschwinden und zu aller-
    letzt blau; bei der Hysterie ist es umgekehrt, zuerst ver-
    schwindet blau und zum Schlusse erst roth, doch wird zu-
    meist, wenn auch Blindheit für blau, gelb und grün ein-
    getreten ist, roth noch erkannt.

    Die monokuläre Polyopie, verbunden mit dem charak-
    teristischen Grösser- und Kleinersehen, wurde wohl schon
    früher beschrieben, doch ist es uns wieder entgangen, zum
    Mindesten mir, und wurde ich erst durch den Vortrag von
    Kollega Freud an dieselbe erinnert. Sie muss wohl nicht
    häufig sein, oder eigentlich richtiger, es wird auf dieselbe
    nicht untersucht, denn die Literatur der letzten Jahre, so-
    weit sie mir zugänglich ist, bringt mit Ausnahme eines ein-
    zigen Falles kein Beispiel von hysterischer Polyopie‚ dage-
    gen haben wir von Kollege Freud in seinem Vortrage über
    männliche Hysterie erfahren, dass von Charcot diesem
    Symptome sehr viel Gewicht beigelegt wird, und dass stets
    auf dasselbe untersucht und dieses auch häufig gefunden wird.

    Die Gesichtsfeldeinschränkung, die Farbensinnstörung
    und die Diplopie, resp. Makro- und Mikropie, sind die Kar-
    dinalsymptome der okularen Hysterie; wir finden diese drei
    in prägnanter WVeise bei unserem Kranken ausgesprochen.