Die infantile Genitalorganisation 1923-004/1923
  • S.

    168

    Die infantile Genitalorganisation.

    (Eine Einschaltung in die Sexualtheorie.)

    Von Sigm. Freud.

    Es ist recht bezeichnend für die Schwierigkeit der Forschungs-
    arbeit in der Psychoanalyse, daß es möglich ist, allgemeine Züge
    und charakteristische Verhältnisse trotz unausgesetzter jahrzehnte-
    langer Beobachtung zu übersehen, bis sie einem endlich einmal
    unverkennbar entgegentreten; eine solche Vernachlässigung auf
    dem Gebiet der infantilen Sexualentwicklung möchte ich durch
    die nachstehenden Bemerkungen gutmachen.

    Den Lesern meiner „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“
    (1905) wird es bekannt sein, daß ich in den späteren Ausgaben
    dieser Schrift niemals eine Umarbeitung vorgenommen, sondern
    die ursprüngliche Anordnung gewahrt habe und den Fortschritten
    unserer Einsicht durch Einschaltungen und Abänderungen des
    Textes gerecht geworden bin. Dabei mag es oft vorgekommen
    sein, daß das Alte und das Neuere sich nicht gut zu einer wider-
    spruchsfreien Einheit verschmelzen ließen. Anfänglich ruhte ja
    der Akzent auf der Darstellung der fundamentalen Verschiedenheit
    im Sexualleben der Kinder und der Erwachsenen, später drängten
    sich die prägenitalen Organisationen der Libido in den
    Vordergrund und die merkwürdige und folgenschwere Tatsache
    des zweizeitigen Ansatzes der Sexualentwicklung. Endlich
    nahm die infantile Sexualforschung unser Interesse in
    Anspruch, und von ihr aus ließ sich die weitgehende Annäherung
    des Ausganges der kindlichen Sexualität
    (um das
    fünfte Lebensjahr) an die Endgestaltung beim Erwachsenen
    erkennen. Dabei bin ich in der letzten Auflage der Sexualtheorie
    (1922) stehen geblieben.

    Auf Seite 63 derselben erwähne ich, daß „häufig oder regel-
    mäßig bereits in den Kinderjahren eine Objektwahl vollzogen
    wird, wie wir sie als charakteristisch für die Entwicklungsphase
    der Pubertät hingestellt haben, in der Weise, daß sämtliche
    Sexualstrebungen die Richtung auf eine einzige Person nehmen,

  • S.

    169

    an der sie ihre Ziele erreichen wollen. Dies ist dann die größte
    Annäherung an die definitive Gestaltung des Sexuallebens nach der
    Pubertät, die in den Kinderjahren möglich ist. Der Unterschied von
    letzterer liegt nur noch darin, daß die Zusammenfassung der Partial-
    triebe und deren Unterordnung unter das Primat der Genitalien in
    der Kindheit nicht oder nur sehr unvollkommen durchgesetzt wird.
    Die Herstellung dieses Primats im Dienste der Fortpflanzung ist
    also die letzte Phase, welche die Sexualorganisation durchläuft.

    Mit dem Satz, das Primat der Genitalien sei in der früh-
    infantilen Periode nicht oder nur sehr unvollkommen durchgeführt,
    würde ich mich heute nicht mehr zufrieden geben. Die Annäherung
    des kindlichen Sexuallebens an das der Erwachsenen geht viel
    weiter und bezieht sich nicht nur auf das Zustandekommen einer
    Objektwahl. Wenn es auch nicht zu einer richtigen Zusammen-
    fassung der Partialtriebe unter das Primat der Genitalien
    kommt, so gewinnt doch auf der Höhe des Entwicklungsganges
    der infantilen Sexualität das Interesse an den Genitalien und die
    Genitalbetätigung eine dominierende Bedeutung, die hinter der
    in der Reifezeit wenig zurücksteht. Der Hauptcharakter dieser
    infantilen Genitalorganisation“ ist zugleich ihr Unter-
    schied von der endgiltigen Genitalorganisation der Erwachsenen.
    Er liegt darin, daß für beide Geschlechter nur ein Genitale,
    das männliche, eine Rolle spielt. Es besteht also nicht ein Genital-
    primat, sondern ein Primat des Phallus.

    Leider können wir diese Verhältnisse nur für das männliche
    Kind beschreiben, in die entsprechenden Vorgänge beim kleinen
    Mädchen fehlt uns die Einsicht. Der kleine Knabe nimmt sicherlich
    den Unterschied von Männern und Frauen wahr, aber er hat
    zunächst keinen Anlaß, ihn mit einer Verschiedenheit ihrer
    Genitalien zusammenzubringen. Es ist ihm natürlich, ein ähnliches
    Genitale, wie er es selbst besitzt, bei allen anderen Lebewesen,
    Menschen und Tieren, vorauszusetzen, ja wir wissen, daß er auch
    an unbelebten Dingen nach einem seinem Gliede analogen Gebilde
    forscht.1 Dieser leicht erregte, veränderliche, an Empfindungen so
    reiche Körperteil beschäftigt das Interesse des Knaben in hohem
    Grade und stellt seinem Forschertrieb unausgesetzt neue Aufgaben.
    Er möchte ihn auch bei anderen Personen sehen, um ihn mit
    seinem eigenen zu vergleichen, er benimmt sich, als ob ihm

    1 Es ist übrigens merkwürdig, ein wie geringes Maß von Aufmerk-
    samkeit der andere Teil des männlichen Genitales, das Säckchen mit seinen
    Einschlüssen, beim Kinde auf sich zieht. Aus den Analysen könnte man nicht
    erraten, daß noch etwas anderes als der Penis zum Genitale gehört.

  • S.

    170

    vorschwebte, daß dieses Glied größer sein könnte und sollte; die
    treibende Kraft, welche dieser männliche Teil später in der
    Pubertät entfalten wird, äußert sich um diese Lebenszeit wesentlich
    als Forschungsdrang, als sexuelle Neugierde. Viele der Exhibi-
    tionen und Aggressionen, welche das Kind vornimmt und die
    man im späteren Alter unbedenklich als Äußerungen von
    Lüsternheit beurteilen würde, erweisen sich der Analyse als
    Experimente im Dienste der Sexualforschung angestellt.

    Im Laufe dieser Untersuchungen gelangt das Kind zur
    Entdeckung, daß der Penis nicht ein Gemeingut aller ihm ähnlichen
    Wesen sei. Der zufällige Anblick der Genitalien einer kleinen
    Schwester oder Gespielin gibt hiezu den Anstoß; scharfsinnige
    Kinder haben schon vorher aus ihren Wahrnehmungen beim
    Urinieren der Mädchen, weil sie eine andere Stellung sehen und
    ein anderes Geräusch hören, den Verdacht geschöpft, daß hier
    etwas anders sei, und dann versucht, solche Beobachtungen in
    aufklärender Weise zu wiederholen. Es ist bekannt, wie sie auf
    die ersten Eindrücke des Penismangels reagieren. Sie leugnen
    diesen Mangel, glauben doch ein Glied zu sehen, beschönigen den
    Widerspruch zwischen Beobachtung und Vorurteil durch die
    Auskunft, es sei noch klein und werde erst wachsen, und kommen
    dann langsam zu dem affektiv bedeutsamen Schluß, es sei doch
    wenigstens vorhanden gewesen und dann weggenommen worden.
    Der Penismangel wird als Ergebnis einer Kastration erfaßt und
    das Kind steht nun vor der Aufgabe, sich mit der Beziehung der
    Kastration zu seiner eigenen Person auseinanderzusetzen. Die
    weiteren Entwicklungen sind zu sehr allgemein bekannt, als daß
    es notwendig wäre, sie hier zu wiederholen. Es scheint mir nur,
    daß man die Bedeutung des Kastrationskomplexes erst
    richtig würdigen kann, wenn man seine Entstehung
    in der Phase des Phallusprimats mitberücksichtigt
    .1

    Es ist auch bekannt, wie viel Herabwürdigung des Weibes,
    Grauen vor dem Weib, Disposition zur Homosexualität sich aus
    der endlichen Überzeugung von der Penislosigkeit des Weibes
    ableitet. Ferenczi hat kürzlich mit vollem Recht das mythologische 

    1 Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß das Kind die
    Vorstellung einer narzißtischen Schädigung durch Körperverlust aus dem
    Verlieren der Mutterbrust nach dem Saugen, aus der täglichen Abgabe der
    Fäzes, ja schon aus der Trennung vom Mutterleib bei der Geburt gewinnt.
    Von einem Kastrationskomplex sollte man aber doch erst sprechen, wenn
    sich diese Vorstellung eines Verlustes mit dem männlichen Genitale ver-
    knüpft hat.

  • S.

    171

    Symbol des Grausens, das Medusenhaupt, auf den Eindruck
    des penislosen weiblichen Genitales zurückgeführt.1

    Doch darf man nicht glauben, daß das Kind seine Beobachtung,
    manche weibliche Personen besitzen keinen Penis, so rasch und
    bereitwillig verallgemeinert; dem steht schon die Annahme, daß
    die Penislosigkeit die Folge der Kastration als einer Strafe sei,
    im Wege. Im Gegenteile, das Kind meint, nur unwürdige weibliche
    Personen, die sich wahrscheinlich ähnlicher unerlaubter Regungen
    schuldig gemacht haben wie es selbst, hätten das Genitale eingebüßt.
    Respektierte Frauen aber wie die Mutter behalten den Penis noch
    lange. Weibsein fällt eben für das Kind noch nicht mit Penis-
    mangel zusammen.2 Erst später, wenn das Kind die Probleme der
    Entstehung und Geburt der Kinder angreift und errät, daß nur
    Frauen Kinder gebären können, wird auch die Mutter des Penis
    verlustig und mitunter werden ganz komplizierte Theorien
    aufgebaut, die den Umtausch des Penis gegen ein Kind erklären
    sollen. Das weibliche Genitale scheint dabei niemals entdeckt zu
    werden. Wie wir wissen, lebt das Kind im Leib (Darm) der Mutter und
    wird durch den Darmausgang geboren. Mit diesen letzten Theorien
    greifen wir über die Zeitdauer der infantilen Sexualperiode hinaus.

    Es ist nicht unwichtig, sich vorzuhalten, welche Wandlungen
    die uns geläufige geschlechtliche Polarität während der kindlichen
    Sexualentwicklung durchmacht. Ein erster Gegensatz wird mit
    der Objektwahl, die ja Subjekt und Objekt voraussetzt, eingeführt.
    Auf der Stufe der prägenitalen sadistisch
    analen Organisation ist von
    männlich und weiblich noch nicht zu reden, der Gegensatz von
    aktiv und passiv ist der herrschende.3 Auf der nun folgenden
    Stufe der infantilen Genitalorganisation gibt es zwar ein
    männlich, aber kein weiblich; der Gegensatz lautet hier:
    männliches Genitale oder kastriert. Erst mit der Vollendung
    der Entwicklung zur Zeit der Pubertät fällt die sexuelle Polarität
    mit männlich und weiblich zusammen. Das Männliche faßt das
    Subjekt, die Aktivität und den Besitz des Penis zusammen, das Weib-
    liche setzt das Objekt und die Passivität fort. Die Vagina wird nun als
    Herberge des Penis geschätzt, sie tritt das Erbe des Mutterleibes an.

    1 Diese Zeitschrift 1923, Heft 1. Ich möchte hinzufügen, daß im Mythos
    das Genitale der Mutter gemeint ist. Athene, die das Medusenhaupt an
    ihrem Panzer trägt, wird eben dadurch das unnahbare Weib, dessen Anblick
    jeden Gedanken an sexuelle Annäherung erstickt.

    2 Aus der Analyse einer jungen Frau erfuhr ich, daß sie, die keinen
    Vater und mehrere Tanten hatte, bis weit in die Latenzzeit an dem Penis der
    Mutter und einiger Tanten festhielt. Eine schwachsinnige Tante aber hielt sie
    für kastriert, wie sie sich selbst empfand.

    3 Siehe: Drei Abh. z. Sexualtheorie. 5. Aufl., S. 62.