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[Nr. 20630 Wien, Freitag. Neue Freie Presse. 3. Februar 1922]
[Mitteilung aus dem Publikum]
An die Künstler und Intellektuellen Oesterreichs.
Immer entsetzlicher lauten die Nachrichten aus den Hunger-
Gebieten Rußlands. Dreißig Millionen Menschen sind, laut den
erschütternden Berichten Nansens, dem Hungertode preisgegeben.
Hunger, Kälte, Seuchen wüten unter den Opfern der europäischen
Katastrophe. Die Leichen bleiben auf den Friedhöfen umbestattet,
so viele sind ihrer. Frauen und Kinder vor allem brechen auf
den Straßen tot zusammen, vor Erschöpfung und Krankheit.
Rußland, das uns Dostojewski und Tolstoi, Gogol und
Tschechow gab, die Dichter des Mitleides und der Gut, erwartet
Von Europa einen kleinen Beweis jener Menschenliebe , die seine
Großen predigen:
Nur Brot!
Die Arbeiter haben sich schon zu mächtigen Organisationen
vereint, um den Hungernden zu helfen. Aber der Ruf ergeht an
alle, die guten Willens sind.
Auch an die Künstler! Wer hat größere Verpflichtungen
gegen die Notleidende Menschheit als der Künstler, dessen imma-
nente Mission es ist, das Leid der Menschheit am schmerzlichsten
zu empfinden und zugleich seine Geben allen mitzuteilen.
Wie in den anderen Hauptstädten Europas, in Paris,
London, Berlin, hat sich auch in Wien eine Komitee
„Künstlerhilfe“ für die Hungernden in Ruß-
land gebildet. Es fordert alle geistigen Arbeiter, Künstler
und Gelehrten Oesterreichs auf, den Hungernden in Rußland
mit Wort und Werk zu helfen.
Stiftet für die vom Komitee geplante Verkaufsausstellung
Bilder, Handzeichnungen, Graphik, Platine, kunstgewerbliche
Arbeiten, Bücher mit Autogrammen der Verfasser, handschrift-
liche Manuskripte. Stiftet Tantiemen von Aufführungen eurer
Bühnen- und Opernwerke. Jeder, der aufgefordert wird, wirke
mit bei Veranstaltungen in Theatern, Konzerten, Vorlesungen,
deren Erträgnis den Hungernden in Rußland (durch Frijoff
Nansen und die Gesellschaft der Freunde) zugeführt werden soll.
Wir erwarten, daß sich alle Künstler an dem Werk zur
Rettung der russischen Menschheit, jeder in seinem Gebiet, mit
seinen Fähigkeiten und allen Kräften beteiligen werden.
Das Komitee „Künstlerhilfe“ für die
Hungernden in Rußland
Dem Komitee gehören unter anderen an: Bürgermeister
Reumann, Hermann Bahr, Leonhard Frank, Professor
Freud, Vorstand der Delegation der bildenden Künste Wiens,
Ernst Hegenbarth, Hofrat Leitsching, Alexander
Woissi, Ida Roland, Fritz Salten, Arthur Schnitzler,
Professor Tandler, Direktor Wildgans, Eugenie
Schwarzwald.
Spenden und Anfragen: Hofburg, Michaelator, Feststiege,
Telephon 6296. Sprechstunde von 3-5 Uhr.
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