Wege der psychoanalytischen Therapie 1919-001/1919.2
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    SEPARATABDRUCK

    aus der

    INTERNATIONALEN ZEITSCHRIFT FÜR ÄRZTLICHE PSYCHOANALYSE
    herausg. von Prof. $. Freud, redig. von Dr. K. Abraham, Dr, $. Ferenezi,
    Dr. Ed, Hitschmann, Dr. E. Jones und Dr. O, Rank.
    V. Jahrgang 1919. Verlag der „Internationalen Psychoanalytischen Verlags-Ges, m. b. H,“
    Abonnementspreis ganzjährig M 97.— — K 40,—,

    Wege der psychoanalytischen Therapie:

    Von Sigm. Freud.
    (Rede gehalten auf dem V. psychoanalyt. Kongreß in Budapest, September 1918.)

    & Meine Herren Kollegen!

    Sie wissen, wir waren nie stolz auf die Vollständigkeit und Abge-
    schlossenheit unseres Wissens und Könnens; wir sind, wie früher so auch
    jetzt; immer bereit, die Unvollkommenheiten unserer Erkenntnis zuzugeben,
    Neues dazuzulernen und an unserem Vorgehen abzuändern, was sich durch
    Besseres ersetzen läßt.

    Da wir nun nach langen, schwer durchlebten Jahren der Trennung
    wieder einmal zusammengetroffen sind, reizt es mich, den Stand unserer
    Therapie zu revidieren, der wir ja unsere Stellung in der menschlichen
    Gesellschaft danken, und Ausschau zu halten, nach welchen neuen Rich-
    tungen sie sich entwickeln könnte.

    Wir haben als unsere ärztliche Aufgabe formuliert, den neurotisch
    Kranken zur Kenntnis der in ihm bestehenden unbewußten, verdrängten
    Regungen zu bringen und zu diesem Zwecke die Widerstände aufzu-
    decken, die sich in ihm gegen solche Erweiterung seines Wissens von
    der eigenen Person sträuben. Wird mit der Aufdeckung dieser Wider-
    stände auch deren Überwindung gewährleistet? Gewiß nicht immer, aber
    wir hoffen, dieses Ziel zu erreichen, indem wir seine Übertragung auf
    die Person des Arztes ausnützen, um unsere Überzeugung von der Un-
    zweckmäßigkeit der in der Kindheit vorgefallenen Verdrängungsvorgänge
    und von der Undurchführbarkeit eines Lebens nach dem Lustprinzip zu
    der seinigen werden zu lassen. Die dynamischen Verhältnisse des neuen
    Konflikts, durch den wir den Kranken führen, den wir an die Stelle des
    früheren Krankheitskonflikts bei ihm gesetzt haben, sind von mir an
    anderer Stelle klargelegt worden. Daran weiß ich derzeit nichts zu ändern.

    Die Arbeit, durch welche wir dem Kranken das verdrängte Seelische
    in ihm zum Bewußtsein bringen, haben wir Psychoanalyse genannt.

    Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse. V/2. 5

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    Warum „Analyse“, was Zerlegung, Zersetzung bedeutet und an eine
    Analogie mit der Arbeit des Chemikers an den Stoffen denken läßt, die
    er in der Natur vorfindet und in sein Laboratorium bringt? Weil eine
    solche Analogie in einem wichtigen Punkte wirklich besteht. Die Sym-
    ptome und krankhaften Äußerungen des Patienten sind wie alle seine
    seelischen Tätigkeiten hochzusammengesetzter Natur; die Elemente dieser
    Zusammensetzung sind im letzten Grunde Motive, Triebregungen. Aber
    der Kranke weiß von diesen elementaren Motiven nichts oder nur sehr
    Ungenügendes. Wir lehren ihn nun die Zusammensetzung dieser hoch-
    komplizierten seelischen Bildungen verstehen, führen die Symptome auf
    die sie motivierenden Triebregungen zurück, weisen diese dem Kranken
    bisher unbekannten Triebmotive in den Symptomen nach, wie der Che-
    miker den Grundstoff, das chemische Element, aus dem Salz ausscheidet,
    in dem es in Verbindung mit anderen Elementen unkenntlich geworden
    war. Und. ebenso zeigen. wir dem Kranken an seinen nicht für krankhaft
    gehaltenen seelischen Äußerungen, daß ihm deren Motivierung nur unvoll-
    kommen» bewußt, war, daß: :andere Triebmotive bei ihnen mitgewirkt
    haben, Se Kb nerkannt geblieben ‚sind.

    \ «ualstreben, der, Menschen, haben wir erklärt, indem
    wi es: in geihe Kompo: enten. zerlegten,. und wenn wir seinen Traum
    deuten, gehen wir so: vor, daß wir (den Traum als Ganzes vernachlässigen
    und die Assoziation an seine einzelnen Elemente anknüpfen.

    Aus diesem berechtigten Vergleich der ärztlichen psychoanalytischen
    Tätigkeit mit einer chemischen Arbeit könnte sich nun eine Anregung
    zu einer neuen Richtung unserer Therapie ergeben. Wir haben den
    Kranken analysiert, d. h. seine Seelentätigkeit in ihre elementaren
    Bestandteile zerlegt, diese Triebelemente einzeln und isoliert in ihm auf-
    gezeigt; was läge nun näher als zu fordern, daß wir ihm auch bei einer
    neuen und besseren Zusammensetzung derselben behilflich sein müssen?
    Sie wissen, diese Forderung ist auch wirklich erhoben worden. Wir haben
    gehört: Nach der Analyse des kranken Seelenlebens muß die Synthese
    desselben folgen! Und bald hat sich daran auch die Besorgnis geknüpft,
    man könnte zu viel Analyse und zu wenig Synthese geben, und das Be-
    streben, das Hauptgewicht der psychotherapeutischen Einwirkung auf
    diese Synthese, eine ‘Art Wiederherstellung des gleichsam durch die Vivi-
    sektion Zerstörten zu verlegen.

    Ich kann aber nicht glauben, meine Herren, daß uns in dieser
    Psychosynthese eine neue Aufgabe zuwächst. Wollte ich mir gestatten,
    aufrichtig und unhöflich zu sein, so würde ich sagen, es handelt sich
    da um eine gedankenlose Phrase. Ich bescheide mich zu bemerken, daß
    nur eine inhaltsleere Überdehnung eines Vergleiches, oder, wenn Sie wollen,
    eine unberechtigte Ausbeutung einer Namengebung vorliegt. Aber ein

    Name ist nur eine Etikette, zur Unterscheidung von anderem, ähnlichem, -

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    angebracht, kein Programm, keine Inhaltsangabe oder Definition. Und ein
    Vergleich braucht das Verglichene nur an einem Punkte zu tangieren
    und kann sich in allen anderen weit von ihm entfernen. Das Psychische
    ist etwas so einzig Besonderes, daß kein vereinzelter Vergleich seine
    Natur wiedergeben kann. Die psychoanalytische Arbeit bietet: Analogien
    mit der chemischen Analyse, aber eben solche mit dem Eingreifen des
    Chirurgen oder der Einwirkung des Orthopäden oder der Beinflussung des
    Erziehers. Der Vergleich mit der chemischen Analyse findet seine Be-
    grenzung darin, daß wir es im Seelenleben mit Strebungen zu tun haben,
    die einem Zwang zur Vereinheitlichung und Zusammenfassung unterliegen.
    Ist es uns gelungen, ein Symptom zu zersetzen, eine Triebregung aus
    einem Zusammenhange zu befreien, so bleibt sie nicht isoliert, sondern
    tritt sofort in einen neuen ein.!)

    Ja im Gegenteile! Der neurotisch Kranke bringt uns ein zerrissenes,
    durch Widerstände zerklüftetes Seelenleben entgegen, und während wir
    daran analysieren, die Widerstände beseitigen, wächst dieses Seelenleben
    zusammen, fügt die große Einheit, die wir sein Ich heißen, sich alle die
    Triebregungen ein, die bisher von ihm abgespalten und abseits gebunden
    waren. So vollzieht sich bei dem analytisch Behandelten die Psycho-
    synthese ohne unser Eingreifen, automatisch und unausweichlich. Durch
    die Zersetzung der Symptome und die Aufhebung der Widerstände haben
    wir die Bedingungen für sie geschaffen. Es ist nicht wahr, daß etwas in
    dem Kranken in seine Bestandteile zerlegt ist, was nun ruhig darauf
    wartet, bis wir es irgendwie zusammensetzen.

    Die Entwieklung unserer Therapie wird also wohl andere Wege
    einschlagen, vor allem jenen, den kürzlich Ferenczi in seiner Arbeit
    über „Technische Schwierigkeiten einer Hysterieanalyse“ (Nr. 1 dieses
    Jahrganges unserer Zeitschrift) als die „Aktivität“ des Analytikers
    gekennzeichnet hat. i

    Einigen wir uns rasch, was unter dieser Aktivität zu verstehen ist.
    Wir umschrieben unsere therapeutische Aufgabe durch die zwei Inhalte:
    Bewußtmachen des Verdrängten und Aufdeckung der Widerstände. Dabei
    sind wir allerdings aktiv genug. Aber sollen wir es dem Kranken über-
    lassen, allein mit den ihm aufgezeigten Widerständen fertig zu werden ?
    Können wir ihm dabei keine andere Hilfe leisten, als er durch den Antrieb
    der Übertragung erfährt? Liegt es nicht vielmehr sehr nahe, ihm auch
    dadurch zu helfen, daß wir ihn in jene psychische Situation versetzen,
    welche für die erwünschte Erledigung des Konflikts die günstigste ist.
    Seine Leistung ist doch auch abhängig von einer Anzahl von äußerlich

    }) Ereignet sich doch während der chemischen Analyse etwas ganz Ähnliches.
    Gleichzeitig mit den Isolierungen, die der Chemiker erzwingt, vollziehen sich von ihm
    ungewollte Synthesen dank der freigewordenen Affinitäten und der Wahlverwandtschaft
    der Stoffe.

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    64 Sigm. Freud.

    konstellierenden Umständen. Sollen wir uns da bedenken, diese Kon-
    stellation durch unser Eingreifen in geeigneter Weise zu verändern? Ich
    meine, eine solche Aktivität des analytisch behandelnden Arztes ist
    einwandfrei und durchaus gerechtfertigt:

    Sie bemerken, daß sich hier für uns ein neues Gebiet der analy-
    tischen Technik eröffnet, dessen Bearbeitung eingehende Bemühung
    erfordern und ganz bestimmte Vorschriften ergeben wird. Ich werde
    heute nicht versuchen, Sie in diese noch in Entwicklung begriffene
    Technik einzuführen, . sondern mich damit begnügen, einen Grundsatz
    hervorzuheben, dem wahrscheinlich die Herrschaft auf diesem Gebiete
    zufallen- wird. Er lautet: Die analytische Kur soll, soweit es
    möglich ist, in der Entbehrung — Abstinenz — durch-
    geführt werden.

    Wie weit es möglich ist, dies festzustellen, bleibe einer detaillierten
    Diskussion überlassen. Unter Abstinenz ist aber nicht die .Entbehrung
    einer jeglichen Befriedigung zu verstehen, — das wäre natürlich undurch-
    führbar —-auch nicht, was man im populären Sinne darunter versteht,

    ‚die Enthaltung- vom sexuellen: Verkehr, sondern etwas anderes, was mit

    der.Dynamik der-Erkrankung und der Herstellung weit mehr zu tun hat.

    Sie erinnern sich daran, daß es eine Versagung war, die den Pa-
    tienten krank gemacht hat, daß seine Symptome ihm den Dienst von
    Ersatzbefriedigungen leisten. Sie können während der Kur beobachten,
    daß jede Besserung seines Leidenszustandes das Tempo der Herstellung
    verzögert und die Triebkraft verringert, die zur Heilung drängt. Auf diese
    Triebkraft können wir aber nicht verzichten; eine Verringerung derselben
    ist für unsere Heilungsabsicht gefährlich, Welche Folgerung drängt sich
    uns also unabweisbar auf? Wir müssen, so grausam es klingt, dafür
    sorgen, daß das Leiden des Kranken in irgend einem wirksamen Maße
    kein vorzeitiges Ende finde. Wenn es durch die Zersetzung und Ent-
    wertung der Symptome ermäßigt worden ist, müssen wir es irgendwo
    anders als. eine empfindliche Entbehrung wieder aufrichtän, sonst laufen
    wir Gefahr, niemals mehr als bescheidene und nicht haltbare Besserungen
    zu erreichen,

    Die Gefahr droht, soviel ich sehe, besonders von zwei Seiten.
    Einerseits ist der Patient, dessen Kranksein durch die Analyse erschüttert
    worden ist, aufs emsigste bemüht, sich an Stelle seiner Symptome neue
    Ersatzbefriedigungen zu schaffen, denen nun der Leidenscharakter abgeht.

    Er bedient sich der großartigen Verschiebbarkeit der zum Teil frei

    gewordenen Libido, um die mannigfachsten Tätigkeiten, Vorlieben, Ge-
    wohnheiten, auch solche, die bereits früher bestanden haben, mit Libido
    zu besetzen und sie zu Ersatzbefriedigungen zu erheben. Er findet immer
    wieder neue solche Ablenkungen, durch welche die zum Betrieb der Kur
    erforderte Energie versickert, und weiß sie eine Zeitlang geheim zu

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    Wege der psychoanalytischen Therapie. 65

    halten. Man hat die Aufgabe, alle diese Abwege aufzuspüren und jedesmal
    von ihm den Verzicht zu verlangen, so harmlos die zur Befriedigung
    führende Tätigkeit auch an sich erscheinen mag. Der Halbgeheilte kann
    aber auch minder harmlose Wege einschlagen, z. B. indem er, wenn ein
    Mann, eine voreilige Bindung an ein Weib aufsucht. Nebenbei bemerkt,
    unglückliche Ehe und körperliches Siechtum sind die gebräuchlichsten
    Ablösungen der Neurose. Sie befriedigen insbesondere das Schuld-
    bewußtsein (Strafbedürfnis), welches viele Kranke so zähe an ihrer
    Neurose festhalten läßt. Durch eine ungeschickte Ehewahl bestrafen sie
    sich selbst; langes organisches Kranksein nehmen sie als eine Strafe des
    Schicksals an und verzichten dann häufig auf eine Fortführung der Neurose.

    Die Aktivität des Arztes muß sich in all solchen Situationen als
    energisches Einschreiten gegen die voreiligen Ersatzbefriedigungen äußern.
    Leichter wird ihm aber die Verwahrung gegen die zweite, nicht zu unter-
    schätzende Gefahr, von der die Triebkraft der Analyse bedroht wird.
    Der Kranke sucht vor allem die Ersatzbefriedigung in der Kur selbst
    im Übertragungsverhältnis zum Arzt und kann sogar danach streben,
    sich auf diesem Wege für allen ihm sonst auferlegten Verzicht zu ent-
    schädigen. Einiges muß man ihm ja wohl gewähren, mehr oder weniger,
    je nach der Natur des Falles und der Eigenart des Kranken, Aber es
    ist. nicht, gut, wenn es zuviel wird. Wer als Analytiker etwa aus der
    Fülle seines hilfsbereiten Herzens dem Kranken alles spendet, was ein
    Mensch vom anderen erhoffen kann, der begeht denselben ökonomischen
    Fehler, dessen sich unsere nicht.analytischen Nervenheilanstalten schuldig
    machen. Diese streben nichts anderes an, als es dem Kranken möglichst
    angenehm zu machen, damit er sich dort wohlfühle und gerne wieder
    dorthin aus den Schwierigkeiten des Lebens seine Zuflucht nehme, Dabei
    verzichten sie darauf, ihn für das Leben stärker, für seine eigentlichen
    Aufgaben leistungsfähiger zu machen. In der analytischen Kur muß jede
    solche Verwöhnung vermieden werden. Der Kranke soll, was sein Ver-
    hältnis zum Arzt betrifft, unerfüllte Wünsche reichlich übrig behalten.
    Es ist zweckmäßig, ihm gerade die Befriedigungen zu versagen, die er
    am intensivsten wünscht und am dringendsten äußert.

    Ich glaube nicht, daß ich den Umfang der erwünschten Aktivität
    des Arztes mit dem Satze: In der Kur sei die Entbehrung aufrecht zu
    halten, erschöpft habe. Eine andere Richtung der analytischen Aktivität
    ist, wie Sie sich erinnern werden, bereits einmal ein Streitpunkt zwischen
    uns und der Schweizer Schule gewesen, Wir haben es entschieden
    abgelehnt, den Patienten, der sich Hilfe suchend in unsre Hand begibt,
    zu unserem Leibgut zu machen, sein Schicksal für ihn zu formen, ihm
    unsere Ideale aufzudrängen und ihn im Hochmut des Schöpfers zu
    unserem Ebenbild, an dem. wir Wohlgefallen haben sollen, zu gestalten.
    Ich halte an dieser Ablehnung auch heute noch fest und meine, daß

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    66 Sigm. Freud.

    hier die Stelle für die ärztliche Diskretion ist, über die wir uns in anderen
    Beziehungen hinwegsetzen müssen, habe auch erfahren, daß eine so weit
    gehende Aktivität gegen den Patienten für die therapeutische Absicht
    gar nicht erforderlich ist. Denn ich habe Leuten helfen können, mit denen
    mich keinerlei Gemeinsamkeit der Rasse. Erziehung, sozialen Stellung
    und Weltanschauung verband, ohne sie in ihrer Eigenart zu stören. Ich
    habe damals, zur Zeit jener Streitigkeiten, allerdings den Eindruck
    empfangen, daß der Einspruch unserer Vertreter — ich glaube, es war in
    erster Linie E. Jones — allzu schroff und unbedingt ausgefallen ist.
    Wir können es nicht vermeiden, auch Patienten anzunehmen, die
    so haltlos und existenzunfähig sind, daß man bei ihnen die analytische
    Beeinflussung mit der erzieherischen vereinigen muß, und auch bei den
    meisten anderen wird sich hie und da eine Gelegenheit ergeben, wo der
    Arzt als Erzieher und Ratgeber aufzutreten genötigt ist. Aber dies soll
    jedesmal mit großer Schonung geschehen, und der Kranke soll nicht zur
    Ähnliehkeit:mit uns, sondern zur Befreiung und Vollendung seines eigenen
    Wesens -örzogen: werden,

    Unser:verehrter. Freund J. Putnamin dem uns jetzt so feindlichen
    Amerika imüß'es uns verzeihen, wenn wir auch: seine Forderung nicht
    annehmen können, die Psychoanalyse möge sich in den Dienst. einer
    bestimmten. philosophischen Weltanschauung stellen und diese dem
    Patienten zum Zwecke seiner Veredlung aufdrängen. Ich möchte sagen,
    dies ist doch nur Gewaltsamkeit, wenn auch durch die edelsten Absichten
    gedeckt.

    Eine letzte, ganz anders geartete Aktivität wird uns durch die
    allmählich wachsende Einsicht aufgenötigt, daß die verschiedenen Krank-
    heitsformen, die wir behandeln, nicht durch die nämliche Technik erledigt
    werden können. Es wäre voreilig, hierüber ausführlich zu handeln, aber
    an zwei Beispielen kann ich erläutern, inwiefern dabei eine neue
    Aktivität in Betracht kommt. Unsere Technik ist an der Behandlung
    der Hysterie erwachsen und noch immer auf diese Affektion eingerichtet.
    Aber schon die Phobien nötigen uns, über unser bisheriges Verhalten
    hinauszugehen. Man wird kaum einer Phobie Herr, wenn man abwartet,
    bis sich der Kranke durch die Analyse bewegen läßt, sie aufzugeben. Er
    bringt dann niemals jenes Material in die Analyse, das zur überzeugenden
    Lösung der Phobie unentbehrlich ist. Man muß anders vorgehen. Nehmen
    Sie das Beispiel eines Agoraphoben; es gibt zwei Klassen von solchen,
    eine leichtere und eine schwerere, Die ersteren haben zwar jedesmal
    unter der Angst zu leiden, wenn sie allein auf die Straße gehen, aber
    sie haben darum das Alleingehen noch nicht aufgegeben; die anderen
    schützen sich vor der Angst, indem sie auf das Alleingehen verzichten.
    Bei diesen letzteren hat man nur dann Erfolg, wenn man sie durch den
    Einfluß der Analyse bewegen kann, sich wieder wie Phobiker des ersten

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    Wege der psychoanalytischen Therapie, 67

    Grades zu benehmen, also auf die Straße zu gehen und während dieses
    Versuchs mit der Angst zu kämpfen. Man bringt es also zunächst dahin,
    die Phobie soweit zu ermäßigen, und erst: wenn dies durch die Forderung
    des Arztes erreicht ist, wird der Kranke jener Einfälle und Erinnerungen
    habhaft, welehe die Lösung der Phobie ermöglichen.

    Noch weniger angezeigt scheint ein passives Zuwarten bei den
    schweren Fällen von Zwangshandlungen, die ja im allgemeinen zu einem
    „asymptotischen“ Heilungsvorgang, zu einer unendlichen Behandlungs-
    dauer neigen, deren Analyse immer in Gefahr ist, sehr viel zu Tage zu
    fördern und nichts zu ändern. Es scheint mir wenig zweifelhaft, daß die
    richtige Technik hier nur darin bestehen kann, abzuwarten, bis die Kur
    selbst zum Zwang geworden ist, und dann mit diesem Gegenzwang den
    Krankheitszwang gewaltsam zu unterdrücken. Sie verstehen aber, daß
    ich Ihnen in diesen zwei Fällen nur Proben der neuen Entwicklungen

    “vorgelegt habe, denen unsere Therapie entgegengeht.

    Und nun möchte ich zum Schlusse eine Situation ins Auge fassen,
    die der Zukunft angehört, die vielen von Ihnen phantastisch erscheinen
    wird, die aber doch verdient, sollte ich meinen, daß man sich auf sie
    in. Gedanken vorbereitet. Sie wissen, daß unsere therapeutische Wirk-
    samkeit keine sehr intensive ist. Wir sind nur eine Handvoll Leute, und
    jeder von uns kann auch bei angestrengter Arbeit sich in einem Jahr
    nur einer kleinen Anzahl von Kranken widmen, Gegen das Übermaß von
    neurotischem Elend, das es in der Welt gibt und vielleicht nicht zu geben
    braucht, kommt das, was wir davon wegschaffen können, quantitativ
    kaum in Betracht. Außerdem sind wir durch die Bedingungen unserer
    Existenz auf die wohlhabenden Oberschichten der Gesellschaft ein-
    geschränkt, die ihre Ärzte selbst zu wählen pflegen und bei dieser Wahl
    durch alle Vorurteile von der Psychoanalyse abgelenkt werden. Für die
    breiten Volksschichten, die ungeheuer schwer unter den Neurosen leiden,
    können wir derzeit nichts tun. .

    Nun lassen Sie uns annehmen, durch irgend eine Organisation
    gelänge es uns, unsere Zahl so weit zu vermehren, daß wir zur Behandlung
    von größeren Menschenmassen ausreichen. Anderseits läßt sich vorher-
    sehen: Irgend einmal wird das Gewissen der Gesellschaft erwachen und
    sie mahnen, daß der Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfe-
    leistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische. Und daß
    die Neurosen die Volksgesundheit nicht minder bedrohen als die Tuber-
    kulose und ebensowenig wie diese der ohnmächtigen Fürsorge des Ein-
    zelnen aus dem Volke überlassen werden können. Dann werden also
    Anstalten oder Ordinationsinstitute errichtet werden, an denen psycho-
    analytisch ausgebildete Ärzte angestellt sind, um die Männer, die sich
    sonst dem Trunk ergeben würden, die Frauen, die unter der Last der
    Entsagungen zusammenzubrechen.drohen, die Kinder, denen nur die Wahl

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    68 Sigm, Freud: Wege der psychoanalitischen Therapie.

    zwischen Verwilderung und Neurose bevorsteht, durch Analyse wider-
    stands- und leistungsfähig zu erhalten. Diese Behandlungen werden
    unentgeltliche sein. Es mag lange dauern, bis der Staat diese Pflichten
    als dringende empfindet. Die gegenwärtigen Verhältnisse mögen den
    Termin noch länger hinausschieben, es ist: wahrscheinlich, daß private
    Wohltätigkeit mit solchen Instituten den Anfang machen wird ; aber
    irgend einmal wird es dazu kommen müssen.

    Dann wird sich für uns die Aufgabe ergeben, unsere Technik den
    neuen Bedingungen anzupassen. Ich zweifle nicht daran, daß die Trif-
    tigkeit unserer psychologischen Annahmen auch auf den Ungebildeten
    Eindruck machen wird, aber wir werden den einfachsten und greifbarsten
    Ausdruck unserer theoretischen Lehren suchen müssen. Wir werden
    wahrscheinlich die Erfahrung machen, daß der Arme noch. weniger zum

    "Verzicht auf seine Neurose bereit ist als der Reiche, weil das schwere

    Leben, das auf ihn wartet, ihn nicht lockt, und das Kranksein ihm einen
    Anspruch mehr auf soziale Hilfe bedeutet. Möglicherweise werden wir
    oft, nur dann etwas leisten können, wenn wir die seelische Hilfeleistung
    mit materieller Unterstützung nach Art des Kaisers Josef vereinigen
    können. Wir werden auch sehr wahrscheinlich genötigt sein, in der
    Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reichlich
    mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren, und auch die
    hypnotische Beeinflussung könnte dort wie bei der Behandlung der Kriegs-
    neurotiker wieder eine Stelle finden. Aber wie immer sich auch diese
    Psychotherapie fürs Volk gestalten, aus welchen Elementen sie sich
    zusammensetzen mag, ihre wirksamsten und wichtigsten Bestandteile
    werden gewiß die bleiben, die von der strengen, der tendenzlosen Psycho-
    analyse entlehnt worden sind.