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IN MEMORIAM*)
Josef Popper-Lynkeus und die Theorie
des Traumesvon Prof. Sigm. Freud
Über den Anschein wissenschaftlicher Originalität
ist viel Interessantes zu sagen. Wenn in der Wissen-
schaft eine neue Idee auftaucht, die zunächst als
Entdeckung gewertet und in der Regel als solche
auch bekämpft wird, so weist die objektive Er-
forschung bald nach, daß sie eigentlich doch keine
Neuheit ist. In der Regel ist sie schon wiederholt
gemacht und dann wieder vergessen worden, oft
zu sehr weit von einander entfernten Zeiten. Oder
sie hat wenigstens Vorläufer gehabt, wurde un-
deutlich geahnt oder unvollkommen ausgesprochen.
Das ist zu genau bekannt, als daß es einer weiteren
Ausführung bedürfte.Aber auch die subjektive Seite der Originalität
ist der Verfolgung würdig. Ein wissenschaftlicher
Arbeiter mag sich einmal die Frage stellen, woher
die ihm eigentümlichen Ideen kommen, die er an
sein Material herangebracht hat. Dann findet er
von einem Teil derselben ohne viel Besinnen, auf
welche Anregungen er zurückgeht, welche Angaben
von anderer Seite er dabei aufgegriffen, modifiziert
und in ihre Konsequenzen ausgeführt hat. Von
einem anderen Anteil seiner Ideen kann er nichts
Ähnliches bekennen, er muß annehmen, diese Ge-
danken und Gesichtspunkte seien in seiner eigenen
Denktätigkeit – er weiß nicht wie – entstanden,
durch sie stützt er seinen Anspruch auf Originalität.Sorgfältige psychologische Untersuchung
schränkt diesen Anspruch dann noch weiter ein.
Sie deckt verborgene, längst vergessene Quellen auf,
aus denen die Anregung der anscheinend originellen
Ideen erflossen ist und setzt an Stelle der ver-
meintlichen Neuschöpfung eine Wiederbelebung des
Vergessenen in der Anwendung auf einen neuen*) Siehe Nr. 17, 18, 19.
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Stoff, daran ist nichts zu bedauern; man hatte ja
kein Recht zu erwarten, daß das „Originelle” etwas
Unableitbares, Indeterminiertes sein würde. Auf
solche Weise hat sich auch für meinen Fall die
Originalität vieler neuer Gedanken, die ich in der
Traumdeutung und in der Psychoanalyse verwendet
hatte, verflüchtigt. Nur von einem dieser Gedanken
kenne ich die Herkunft nicht. Er ist geradezu der
Schlüssel meiner Auffassung des Traumes geworden
und hat mir dazu verholfen, seine Rätsel zu lösen,
soweit sie bis heute lösbar geworden sind. Ich
knüpfte an den fremdartigen, verworrenen, unsinnigen
Charakter so vieler Träume an und kam auf die
Idee, daß der Traum so werden müsse, weil in ihm
etwas nach Ausdruck ringt, was den Widerstand
anderer Mächte des Seelenlebens gegen sich hat.
Im Traume rühren sich geheime Regungen, die mit
dem sozusagen offiziellen ethischen und ästhetischen
Bekenntnis des Träumers im Widerspruch stehen;
darum schämt sich der Träumer dieser Regungen,
wendet sich tagsüber von ihnen ab, will nichts von
ihnen wissen, und wenn er ihnen zur Nachtzeit nicht
jede Art von Ausdruck verwehren kann, zwingt er sie
zur Traumentstellung, durch die der Trauminhalt
verworren und unsinnig erscheint. Die seelische
Macht im Menschen, die diesem inneren Wider-
spruch Rechnung trägt und zu Gunsten der kon-
ventionellen oder auch der höheren sittlichen An-
sprüche die primitiven Triebregungen des Traumes
entstellt, nannte ich die Traumzensur.Gerade dieses wesentliche Stück meiner Traum-
theorie hat aber Popper-Lynkeus selbst gefunden.
Man vergleiche das nachstehende Zitat aus seiner
Erzählung „Träume wie Wachen“ in den „Phanta-
sieen eines Realisten“, die sicherlich ohne Kenntnis
meiner 1900 veröffentlichten „Traumtheorie“ ge-
schrieben worden sind, wie ich auch damals Lynkeus’
Phantasien noch nicht kannte:„Von einem Manne, der die merkwürdige
Eigenschaft hat, niemals Unsinn zu träumen“ …
„Diese herrliche Eigenschaft, zu träumen wie zuS.
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wachen, beruht auf Deinen Tugenden, auf Deiner
Güte, Deiner Gerechtigkeit, Deiner Wahrheitsliebe:
es ist die moralische Klarheit Deiner Natur, die
mir alles an Dir verständlich macht.“„Wenn ich aber recht bedenke“, erwiderte der
Andere, „so glaube ich beinahe, alle Menschen seien
so wie ich beschaffen, und gar niemand träume
jemals Unsinn! Ein Traum, an den man sich so deut-
lich erinnert, daß man ihn nacherzählen kann, der
also kein Fiebertraum ist, hat immer Sinn. Und
es kann gar nicht anders sein! Denn was mit-
einander im Widerspruch steht, könnte sich ja
nicht zu einem Ganzen gruppieren. Daß Zeit und
Ort oft durcheinander gerüttelt werden, benimmt
dem wahren Gehalt des Traumes gar nichts, denn
sie beide sind gewiß ohne Bedeutung für seinen
wesentlichen Inhalt gewesen. Wir machen es ja oft
im Wachen auch so: denke an das Märchen, an so
viele sinnvolle Phantasiegebilde, zu denen nur ein
Unverständiger sagen würde: Das ist widersinnig!
denn das ist nicht möglich!«“„Wenn man nur die Träume immer richtig
zu deuten wüßte, so wie Du es eben mit dem
meinen getan hast,“ sagte der Freund.„Das ist gewiß keine leichte Aufgabe, aber es
müßte bei einiger Aufmerksamkeit dem Träumenden
wohl immer gelingen. Warum es meistens nicht
gelingt? Es scheint bei Euch etwas Verstecktes in
den Träumen liegen, etwas Unkeusches eigener und
höherer Art, eine gewisse Heimlichkeit in Eurem
Wesen, die schwer auszudenken ist; und darum
scheint Euer Träumen so oft ohne Sinn, sogar ein
Widersinn zu sein. Es ist aber im tiefsten Grunde
nicht so; ja, es kann gar nicht anders sein, denn es
ist immer derselbe Mensch, ob er wacht oder träumt.“Ich glaube, was mich dazu befähigt hat, die
Ursache der Traumentstellung aufzufinden, war
mein moralischer Mut. Bei Popper war es die
Reinheit, Wahrheitsliebe und moralische Klarheit
seines Wesens.S.
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