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    PROF. DR. FREUD         WIEN IX., BERGGASSE 19

    18 Dez 1923

    Geehrter Herr Doktor

    Ein Weihnachtsgeschenk welches sich so aus-
    giebig mit der beschenkten Person bestat 
    beschäftigt, nicht zu bestätigen und zu 
    bedanken, wäre ein Akt der Roheit, 
    für den besondere Motivierungen ge-
    fordert werden müssten. Ich stelle 
    mit Befriedigung fest, dass solche in 
    unserem Falle nicht existiren. Ihr Buch 
    ist nicht unfreundlich, nicht allzu indiskret, 
    es zeugt von ernstem Interesse, nebst-
    bei, wie zu erwarten, von Ihrer Kunst 
    zu schreiben und darzustellen. 

    Ich hätte natürlich ein solches Buch nie gewünscht 
    oder gefördert. Es scheint mir, daß die 
    Öffentlichkeit kein Anrecht an meine 
    Person hat und auch nichts an mir lernen 
    kann, so lange mein Fall – aus mannigfachen 
    Gründen – nicht voll durchsichtig gemacht 
    werden kann.  Sie denken anders da-
    rüber und haben so dies Buch schreiben 
    können. Ihre persönliche Distanz von mir, 
    die Sie durchaus als Vorteil einschätzen, 
    hat auch große Nachteile. Sie wissen zu 
    wenig von Ihrem Objekt und können 
    darum auch die Gefahr nicht vermeiden, 
    ihm in Ihren analytischen Bemühungen 
    Gewalt anzuthun.  Es ist auch sehr zu bezweif-
    eln, daß Sie sich die Aufgabe, einen richtigen 
    Anblick des Objektes zu gewinnen, dadurch 
    erleichtert haben, daß Sie den Standpunkt 
    Stekel’s einnehmen und mich unter seinem 
    Gesichtswinkel sehen.

  • S.

    Für die Verzerrungen, die ich zu erkennen 
    glaube, mache ich auch eine vorgefaßte 
    Meinung von Ihnen verantwortlich, die 
    ich errate. Es heißt wol bei Ihnen ein großer 
    Mann müße diese oder jene Vorzüge, 
    Fehler und Extreme zeigen, ich sei ein solcher 
    großer Mann, folglich dürfen Sie mir 
    alle jene – oft kontradiktorischen Eigen-
    schaften zuschreiben. Es wäre sehr viel 
    Interessantes und allgemein Bedeutsames 
    dazu zu sagen, aber leider schließt Ihr 
    Verhältnis zu Stekel weitere Bemüh-
    ungen zur Verständigung von meiner 
    Seite aus.

    Anderseits gestehe ich gerne zu, daß Ihr Scharfsinn 
    manches an mir – was mir wol bekannt 
    ist – sehr richtig erraten hat, zB. dass ich 
    genötigt bin, meinen eigenen Weg, oft 
    Umweg zu gehen, und nichts mit fremden 
    Gedanken anzufangen weiß, die mir zur 
    Unzeit zugerufen werden. Auch im Ver-
    hältnis zu Adler haben Sie mir zu 
    meiner großen Befriedigung Gerechtigkeit 
    widerfahren lassen. Sie wissen freilich 
    nicht, daß ich mich ebenso langmütig und 
    tolerant gegen Stekel benom̄en habe. 
    Ich habe ihn trotz seiner unerträglichen 
    Maniren und seiner unmöglichen Art, 
    Wissenschaft zu treiben, lange gegen 
    die Anfeindungen Aller gehalten, mich ge-
    zwungen, über seinen weitgehenden Defekt 
    an Selbstkritik und Wahrheitsliebe 
    – also an äußerer wie innerer Wahrhaftig-
    keit – hinwegzusehen, bis endlich bei einem 
    bestimmten Erlebnis von Hinterhältigkeit 

  • S.

    und unschöner Übervorteilung 
    auch mir „alle Knöpfe rissen 
    an der Hose der Geduld.“

    (Gewiß, gegen das Missverständnis, daß 
    ich das ableugne, was ich 
    blos noch nicht beurteilen 
    oder verarbeiten kann, 
    haben Sie mich dann nicht 
    verteidigt).

    Sie wissen vielleicht, daß ich 
    ernsthaft erkrankt war und 
    wenn ich mich jetzt auch erhole, 
    doch Grund habe, das Erlebte 
    als Mahnung an ein nicht 
    zu fernes Ende aufzufassen. 
    In solcher partieller Entrückt-
    heit dar ich Sie doch bitten, 
    mich von der Absicht freizu-
    sprechen, Ihr Verhältnis 
    zu Stekel zu stören. Ich 
    bedauere nur, daß es so 
    bestimmenden Einfluss auf 
    Ihr Buch über mich gewon̄en 
    hat.

  • S.

    Es scheint mir nicht ausgeschloßen, 
    daß Sie noch in die Lage kom̄en, 
    dieses Buch für eine zweite 
    Auflage zu redigiren. Für 
    diesen Fall stelle ich Ihnen 
    die Liste von Berichtigungen, 
    die hier eingelegt ist, zur 
    Verfügung. Es sind durchaus 
    verläßliche Angaben ganz 
    unabhängig von meinen 
    subjektiven Meinungen, 
    z. Th. unwesentlicher Art, 
    zum anderen Teil vielleicht 
    geeignet, I einige Ihrer Annahmen 
    zu erschüttern oder zu modi-
    fiziren. Sehen Sie in diesen 
    Mitteilungen ein Anzeichen 
    dafür, daß ich Ihre Arbeit, 
    die ich nicht billigen kann, 
    doch keineswegs gering 
    schätze.

    Hochachtungsvoll 
    Freud

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    1

    Beilage zum Brief von Sigmund Freud An Fritz Wittels vom 18. Dezember 2923

    [Liste von Berichtigungen zu: Wittels, Fritz (1924): Sigmund Freud: Der Mann, die Lehre, die Schule. Wien : Tal & Co., 1924]

    S 10. Reise nach Paris nicht 1886, sondern 1885 
    im Herbst.

    S 11. Als ich 3 J. alt war, übersiedelten meine 
    Eltern nach Leipzig, erst ein Jahr später 
    nach Wien.

    S 15. Die Armut im Hause hatte nichts mit dem 
    Krach von 1873 zu thun sondern datirte 
    von viel früheren Jahren, eigentlich 
    seit dem Verlassen des Geburtsortes 
    (Freiberg in Mähren). Ich glaube nicht, daß 
    man sagen kann, ich hätte als junger 
    Student „Gönner“ gefunden.

    S. 16 d.h. ich hatte aus wissenschaftl. Interesse 
    eine Cocainprobe von Merck kom̄en 
    lassen.

    S. 18 „lange u schmerzlich nachgedacht, wie ihm 
    das geschehen konnte.“ Das ist wol die 
    Konstruktion eines ferne Stehenden. 
    Ich wußte sehr wol, wie mir das geschehen 
    war. Die Arbeit über Coca war ein 
    Allotrion, mit dem ich bald abschließen 
    wollte, um meine in Hamburg lebende 
    Braut zu besuchen, die ich mehrere Jahre 
    lang nicht gesehen hatte. Ich übertrug 
    also die Aufgabe das Cocain am Auge 
    zu versuchen meinem Freund, dem Augen-
    arzt Königstein, an dem ich mich so 
    für viele Freundschaftsakte revanchiren 
    wollte. Daß ich von diesem Versuch ein 
    bedeutsames Ergebnis erwartete, zeigt 
    wol der Schlußsatz meiner in Eile druck-
    fertig gemachten Arbeit. Als ich zurück-
    kam, hatte Koller die Entdeckung 
    gemacht, Königstein sie, wie wir 
    sagen, „verschlampt“.

    Allotrion] "Allotria (altgriechisch ἀλλότρια allótria [Plural], „fremdartige, nicht zur Sache gehörige Dinge“[1]) steht in der griechischen Philosophie der Kyniker und der Stoa für alles, was den Menschen vom Eigenen, Eigentlichen, dem ídion (ἴδιον), ablenkt und ihn im Grunde nichts angeht, beispielsweise Besitz, Ruhm, Macht, Leid, Krankheit und Leidenschaften.[2] Außerdem bedeutet Allotria so viel wie Spaß oder vergnüglicher Unfug. Im Gegensatz zum Schabernack werden dabei jedoch anderen Personen keine Streiche gespielt." (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Allotria [2025-08-10])

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    2

    S 20. Wie gesagt: Aufenthalt in Paris vom 
    Herbst 1885 bis Ostern 1886.  

    Es ist unrichtig, daß ich eine Übersetzung 
    eines Werkes von Charcot vor 
    der Reise nach Paris herausgegeben 
    habe. Die Übersetzungen waren die 
    Folge meines persönlichen Verkehrs 
    mit dem Meister.

    Inwiefern die Reise nach Paris als eine 
    Flucht bezeichnet werden kann, ist 
    mir dunkel. Ich hatte das physiol. Labor 
    auf Brücke’s eigenen Rat 1882 ver-
    lassen, war Sekundararzt im allg. 
    Krankenhaus geworden und mich auf 
    das Studium der organischen Nerven-
    krankheiten wie der Gehirnanatomie 
    geworfen.

    S 21. Wann ich 1885 als das Datum des Coca
    Erlebnisses angegeben haben soll, weiß 
    ich nicht, Vermute einen Irrtum des 
    Herrn Biographen.

    S 29. Zu Breuer u Freud: Ich habe die Ken̄tnis des 
    Breuer’schen Falles bereits nach Paris mitge-
    nom̄en und einmal von ihm zu Charcot gesprochen, 
    fand aber keine Aufmerksamkeit, Pierre 
    Janet’s Arbeiten existirten damals 1885/6 
    noch nicht.

    S 35. Ich habe 1886 nach der Rückkehr aus Paris ge-
    heiratet.

    S 85. Daß das Jahr 1898 das Geburtsdatum des „Alltags-
    leben“ sei, ist eine ganz willkürliche Annahme, 
    die ich aber durch die Mitteilung stützen kann, 
    daß die erste Analyse einer Fehlleistung 
    (Signorelli) wirklich in dieses Jahr fällt.

    S 86. Für die Mitteilung dieser Fehlleistung 
    danke ich sehr, sie hat wirklich aufklärend 
    daß gewirkt. Nur ist es ein Irrtum, daß Breuer 
    sich gerade „damals“ abzuwenden begann, das 

  • S.

    3

    geschah bereits 1896.

    S 93. Die Geburtsjahre meiner Kinder fallen zwischen 
    1887 und 1895.

    S 99. Schaumünze?  In wenigen Fällen einen 
    Stich nach Ingres’ Bild „Oedipus vor der Sphinx

    S 120. Jung hatte mit der Berufung nach Worcester 
    gar nichts zu thun, er war damals in Amerika 
    kaum bekannt.

    S 124. Falsch, wie ich an anderer Stelle berichtet.  
    Adler u Stekel baten mich, unter Zusicherung 
    ihrer guten Absichten, die Stellung des Heraus-
    gebers anzunehmen, dies ist nicht ohne Zusam̄en-
    hang mit den Motiven des späteren 
    Bruches mit Stekel.

    S 131. Die Ichtriebe waren längst vor Adler’s 
    Auftreten statuirt worden.

    S 135. Ebenso hatte Adler die Ursprünglichkeit 
    des Sexualtriebes lange vor seinem Austritt 
    geleugnet.

    S 138. idem.

    S 140. Ichtriebe siehe Nota zu 131.  Die Reaktion 
    auf Adler war die „Einführung des Narzissmus“.

    S 173. Totem u Tabu war vor dem Kongress in 
    München bereits in Imago veröffentlicht worden 
    u fand dort bereits bei einem Jung‑Schüler 
    starken Widerspruch. An der Buchausgabe 
    ist nur die nach dem Kongreß in Rom ge-
    schriebene Vorrede neu.

    S 182. Ich habe nie behauptet daß der Narzissmus 
    nicht mein volles Eigentum ist, nur erwähnt 
    daß er von anderen zuerst literarisch 
    gestreift wurde.

  • S.

    4

    S 231. Das schien mir im̄er sehr interessant, ein 
    warnendes Beispiel. Gewiß hätte ich in 
    einer analyt. Studie über einen anderen 
    denselben Zusam̄enhang zwischen dem Tod meiner 
    Tochter und den Gedankengängen im „Jenseits“ 
    vertreten. Und doch ist er falsch. Das Jenseits 
    wurde 1919 geschreiben, als meine Tochter 
    gesund u blühend war.  Sie starb im Jänner 1920. 
    Im Sept. 19 habe ich das Manuskr des kleinen 
    Buches mehreren Freunden in Berlin zur 
    Lektüre überlassen es fehlte daran nur 
    der Teil über die Sterblichkeit oder Un-
    sterblichkeit der Protozoen. Das Wahrscheinliche 
    ist nicht immer das Wahre.