• S.

    PROF. DR. FREUD         WIEN IX., BERGGASSE 19

    24. XII. 23.

    Geehrter Herr Doktor,

    Sie haben offen recht getan, dass 
    Kapitel, das Sie mir zugeschickt haben, 
    nicht Ihrem Buch einzufügen. Es gehört 
    doch in einen anderen Zusammenhang. Während 
    der Lekture desselben habe ich die Erinnerun-
    gen an jene Vorgänge bei mir wieder belebt.
     Ich kann mich natürlich nicht an alles be-
    sinnen, was ich gesagt oder getan haben 
    soll, bezweifle aber durchaus nicht, dass 
    Ihre Darstellung zutreffend ist. Nur ein 
    Punkt hat meine Verwunderung erregt. Können 
    Sie jenes Moment so gründlich vergessen 
    haben, welches für die Lösung unserer Bezie-
    hungen einzig ausschlaggebend war und darf 
    ich Sie daran mahnen? Es ist ganz richtig, 
    dass der von der Gegenseite angedrohte 

  • S.

    „Skandal“ mir sehr unangenehm war und dass 
    ich manches geopfert hätte, um ihn zu ver-
    meiden. Aber gewiss nicht Ihre Person, die 
    mir wertvoll war. In diese Notwendigkeit wurde 
    ich erst versetzt, als mir der Advokat mit-
    teilte, Sie hätten zur gleichen Zeit, während 
    Sie mit der Abfassung Ihrer Schmähschrift be-
    schäftigt waren, sich mit zärtlich werbenden 
    Briefen an die nämliche Person gewendet. 
    Ich weiss nicht mehr, ob er mir diese Briefe 
    gezeigt oder nur zu zeigen versprach, aber ich 
    kann mich nicht darüber täuschen, dass Sie 
    selbst, darüber befragt, diese Tatsache nicht 
    in Abrede stellten, sondern sich das Recht 
    zusprachen, so widerspruchsvoll zu handeln, 
    weil Ihr Gefühl ein ambivalentes sei. Ihre 
    Unbelehrbarkeit in diesem Punkte, die Ver-
    wechslung der realen mit der analytischen 
    Welt, die Sie nicht gutmachen wollten, dies 

     

  • S.

    II.

    war es, was mich damals an Ihnen erschreckt 
    hat. Ich hatte den Einfluss von Kraus immer 
    für einen sehr ungunstigen gehalten und 
    glaubte Sie damals ihm dauernd verfallen 
    und für immer geschädigt. Ihre Mitteilungen 
    haben mich wenigstens über diesen Punkt 
    beruhigt, aber Sie geben wohl zu, eine Dar-
    stellung jener Affaire mit Auslassung dieses 
    Punktes ware unredlich gewesen, eine Er-
    wähnung desselben aber unmöglich.

    Mit ergebenem Gruss und Weihnachts-
    wünschen 
    Ihr 
    Freud