Brief an Ferdinand Probst [?, 1903?, Teilabdruck] 1904-072/1904
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14 Probst: Der Fall Otto Weininger.

noch einmal bei seiner Gottähnlichkeit bange werden, hatten sich an
Weininger in tragischer Weise nur allzuschnell erfüllt.

Weder der Vater noch der Freund haben bei Weininger female
Halluzinationen wahrgenommen. Aus den schriftlichen Äusserungen
Weiniugers geht aber hervor, dass er z. B. schwarze Hunde mit
Fenerscheinen sah. In „Über die letzten Dinge“ heisst es Seite 1221
„Der Hund hat eine merkwürdige Beziehung zum Tode. Monate bevor
mir der Hund Problem geworden, sass ich eines Nachmittags gegen fünf
Uhr in einem Zimmer des Münchener Gasthofes und dachte an ver-
schiedenes und über verschiedenes. Plötzlich hörte ich einen Hund in
einer ganz eigentümlichen Weise hellen und hatte im gleichen Moment
das Gefühl, dass gerade im Augenblick jemand sterbe. Monate nachher
hörte ich in der furchtbarsten Nacht meines Lebens, da ich ohne krank
zu sein, buchstäblich mit dem Tode rang, gerade als ich zu unterliegen
dachte, einen Hund in ähnlicher Weise hellen wie damals in München;
dieser Hund bellte die ganze Nacht; aber in diesen drei Malen anders.
Ich bemerkte, dass ich in diesem Moment mit den Zähnen mich ins
Leintuch festbiss eben wie ein Sterbender . .. Kurze Zeit vor dieser
erwähnten Nacht hatte ich mehrfach die Vision, die Goethe, nach
dem Faust zu schliessen, gehabt haben muss: einigemal, wenn ich einen
schwarzen Hund sah, schien mir ein Feuerschein ihn zu begleiten. Die
Heftigkeit jener Eindrücke, Erregungcn und Gedanken war so gross,
dass ich mich an den Faust erinnerte, jene Stellen hervorsnchte und
nun zum erstenmal, vielleicht als erster überhaupt, ganz verstand“.

Zum Schlusse der Anamnese will ich noch die Angaben zweier
Wiener Gewährsmänner bringen, die absolut einwandsfrei und zuverlässig
sind. Weininger promovierte mit dem ersten Teil von „Geschlecht
und Charakter“, der bei weitem kleineren und relativ nüchternen Hälfte
des Buches. In der Vorrede zu dem fertigen Werke bedankt sich
Weininger bei den Professoren Jodi und Müllner für das freund—
liche Interesse, das sie an seinen Arbeiten genommen. Nun hatte aber
Weininger beinahe ein ganzes Jahr nach seiner Promotion an dem
allein den Professoren vorgelegenen ersten Teil weiter gearbeitet und
keiner von beiden hatte das Manuskript in seiner letzten Gestalt ge-
sehen. Ein Wiener Neurologe beschrieb die äussere Erscheinung Wei—
ningers wie folgt: 

„Ein schlank gewachsener Jüngling mit ernsthaften
Gesichtszügen, einem etwas verschleierten Blick, fest schön zu nennen;
ich konnte mich auch des Eindruckes, eine ans Geniale streifende Per-
sönlichkeit vor mir zu haben, nicht erwehren.“

Die Werke.
Die beiden Bücher, die die absolut sichere und hauptsächliche
Grundlage der Beurteilung von Weiningers Geisteszustand bilden,