S.
[Metadaten zu den Personen, die zur Generierung dieses Textes beigetragen haben:
Christine Diercks: Konzept für die Edition und die Datenbank, Richtlinien, Quellenforschung, Signaturen
Julian Roedelius: technische Umsetzung der Datenbank
Arkadi Blatow: Quellenforschung, Digitalisierung der Datenquellen, Bildbearbeitung, Faksimile-Ausgabe, Bibliografie
Christine Diercks: Diplomatische Umschrift, Lektorat]
191
DER UNTERGANG DES ÖDIPUS-
KOMPLEXES(1924)
Immer mehr enthüllt der Ödipuskomplex seine Bedeutung
als das zentrale Phänomen der frühkindlichen Sexualperiode.
Dann geht er unter, er erliegt der Verdrängung, wie wir
sagen, und ihm folgt die Latenzzeit. Es ist aber noch nicht
klar geworden, woran er zugrunde geht; die Analysen
scheinen zu lehren: an den vorfallenden schmerzhaften Ent-S.
192
täuschungen. Das kleine Mädchen, das sich für die bevor-
zugte Geliebte des Vaters halten will, muß einmal eine harte
Züchtigung durch den Vater erleben und sieht sich aus allen
Himmeln gestürzt. Der Knabe, der die Mutter als sein Eigen-
tum betrachtet, macht die Erfahrung, daß sie Liebe und
Sorgfalt von ihm weg auf einen neu Angekommenen richtet.
Die Überlegung vertieft den Wert dieser Einwirkungen, indem
sie betont, daß solche peinliche Erfahrungen, die dem Inhalt
des Komplex es widerstreiten, unvermeidlich sind. Auch wo
nicht besondere Ereignisse, wie die als Proben erwähnten,
vorfallen, muß das Ausbleiben der erhofften Befriedigung, die
fortgesetzte Versagung des gewünschten Kindes, es dahin
bringen, daß sich der kleine Verliebte von seiner hoffnungs-
losen Neigung abwendet. Der Ödipuskomplex ginge so zu-
grunde an seinem Mißerfolg, dem Ergebnis seiner inneren
Unmöglichkeit.Eine andere Auffassung wird sagen, der Ödipuskomplex
muß fallen, weil die Zeit für seine Auflösung gekommen ist,
wie die Milchzähne ausfallen, wenn die definitiven nach-
rücken. Wenn der Ödipuskomplex auch von den meisten
Menschenkindern individuell durchlebt wird, so ist er doch
ein durch die Heredität bestimmtes, von ihr angelegtes
Phänomen, welches programmgemäß vergehen muß, wenn
die nächste vorherbestimmte Entwicklungsphase einsetzt. Es
ist dann ziemlich gleichgültig, auf welche Anlässe hin das
geschieht, oder ob solche überhaupt nicht ausfindig zu
machen sind.Beiden Auffassungen kann man ihr Recht nicht abstreiten.
Sie vertragen sich aber auch miteinander; es bleibt Raum für
die ontogenetische neben der weiter schauenden phylo-
genetischen. Auch dem ganzen Individuum ist es ja schon
bei seiner Geburt bestimmt zu sterben und seine Organ-
anlage enthält vielleicht bereits den Hinweis, woran. DochS.
193
bleibt es von Interesse zu verfolgen, wie dies mitgebrachte
Programm ausgeführt wird, in welcher Weise zufällige
Schädlichkeiten die Disposition ausnützen.Unser Sinn ist neuerlich für die Wahrnehmung geschärft
worden, daß die Sexualentwicklung des Kindes bis zu einer
Phase fortschreitet, in der das Genitale bereits die führende
Rolle übernommen hat. Aber dies Genitale ist allein das
männliche, genauer bezeichnet der Penis, das weibliche ist
unentdeckt geblieben. Diese phallische Phase, gleichzeitig die
des Ödipuskomplexes, entwickelt sich nicht weiter zur end-
gültigen Genitalorganisation, sondern sie versinkt und wird
von der Latenzzeit abgelöst. Ihr Ausgang vollzieht sich aber
in typischer Weise und in Anlehnung an regelmäßig wieder-
kehrende Geschehnisse.Wenn das (männliche) Kind sein Interesse dem Genitale
zugewendet hat, so verrät es dies auch durch ausgiebige
manuelle Beschäftigung mit demselben und muß dann die
Erfahrung machen, daß die Erwachsenen mit diesem Tun
nicht einverstanden sind. Es tritt mehr oder minder deutlich,
mehr oder weniger brutal, die Drohung auf, daß man ihn
dieses von ihm hochgeschätzten Teiles berauben werde. Meist
sind es Frauen, von denen die Kastrationsdrohung ausgeht,
häufig suchen sie ihre Autorität dadurch zu verstärken, daß
sie sich auf den Vater oder den Doktor berufen, der nach
ihrer Versicherung die Strafe vollziehen wird. In einer Anzahl
von Fällen nehmen die Frauen selbst eine symbolische Mil-
derung der Androhung vor, indem sie nicht die Beseitigung
des eigentlich passiven Genitales, sondern die der aktiv sün-
digenden Hand ankündigen. Ganz besonders häufig geschieht
es, daß das Knäblein nicht darum von der Kastrationsdrohung
betroffen wird, weil es mit der Hand am Penis spielt, sondern
weil es allnächtlich sein Lager näßt und nicht rein zu be-
kommen ist. Die Pflegepersonen benehmen sich so, als wäreS.
194
diese nächtliche Inkontinenz Folge von und Beweis für allzu
eifrige Beschäftigung mit dem Penis und haben wahrschein-
lich Recht darin. Jedenfalls ist das andauernde Bettnässen
der Pollution des Erwachsenen gleichzustellen, ein Ausdruck
der nämlichen Genitalerregung, welche das Kind um diese
Zeit zur Masturbation gedrängt hat.Die Behauptung ist nun, daß die phallische Genital-
organisation des Kindes an dieser Kastrationsdrohung zu-
grunde geht. Allerdings nicht sofort und nicht ohne daß
weitere Einwirkungen dazukommen. Denn der Knabe schenkt
der Drohung zunächst keinen Glauben und keinen Gehorsam.
Die Psychoanalyse hat neuerlichen Wert auf zweierlei Er-
fahrungen gelegt, die keinem Kinde erspart bleiben und durch
die es auf den Verlust wertgeschätzter Körperteile vorbereitet
sein sollte, auf die zunächst zeitweilige, später einmal end-
gültige Entziehung der Mutterbrust und auf die täglich
erforderte Abtrennung des Darminhaltes. Aber man merkt
nichts davon, daß diese Erfahrungen beim Anlaß der Kastra-
tionsdrohung zur Wirkung kommen würden. Erst nachdem
eine neue Erfahrung gemacht worden ist, beginnt das Kind
mit der Möglichkeit einer Kastration zu rechnen, auch dann
nur zögernd, widerwillig und nicht ohne das Bemühen, die
Tragweite der eigenen Beobachtung zu verkleinern.Die Beobachtung, welche den Unglauben des Kindes end-
lich bricht, ist die des weiblichen Genitales. Irgend einmal
bekommt das auf seinen Penisbesitz stolze Kind die Genital-
region eines kleinen Mädchens zu Gesicht und muß sich von
dem Mangel eines Penis bei einem ihm so ähnlichen Wesen
überzeugen. Damit ist auch der eigene Penisverlust vorstell-
bar geworden, die Kastrationsdrohung gelangt nachträglich
zur Wirkung.Wir dürfen nicht so kurzsichtig sein wie die mit der
Kastration drohende Pflegeperson und sollen nicht übersehen,S.
195
daß sich das Sexualleben des Kindes um diese Zeit keines-
wegs in der Masturbation erschöpft. Es steht nachweisbar in
der Ödipuseinstellung zu seinen Eltern, die Masturbation ist
nur die genitale Abfuhr der zum Komplex gehörigen Sexual-
erregung und wird dieser Beziehung ihre Bedeutung für alle
späteren Zeiten verdanken. Der Ödipuskomplex bot dem
Kinde zwei Möglichkeiten der Befriedigung, eine aktive und
eine passive. Es konnte sich in männlicher Weise an die Stelle
des Vaters setzen und wie er mit der Mutter verkehren,
wobei der Vater bald als Hindernis empfunden wurde, oder
es wollte die Mutter ersetzen und sich vom Vater lieben
lassen, wobei die Mutter überflüssig wurde. Worin der be-
friedigende Liebesverkehr bestehe, darüber mochte das Kind
nur sehr unbestimmte Vorstellungen haben; gewiß spielte
aber der Penis dabei eine Rolle, denn dies bezeugten seine
Organgefühle. Zum Zweifel am Penis des Weibes war noch
kein Anlaß. Die Annahme der Kastrationsmöglichkeit, die
Einsicht, daß das Weib kastriert sei, machte nun beiden Mög-
lichkeiten der Befriedigung aus dem Ödipuskomplex ein
Ende. Beide brachten ja den Verlust des Penis mit sich, die
eine, männliche, als Straffolge, die andere, weibliche, als
Voraussetzung. Wenn die Liebesbefriedigung auf dem
Boden des Ödipuskomplexes den Penis kosten soll, so muß es zum
Konflikt zwischen dem narzißtischen Interesse an diesem
Körperteile und der libidinösen Besetzung der elterlichen
Objekte kommen. In diesem Konflikt siegt normalerweise
die erstere Macht; das Ich des Kindes wendet sich vom
Ödipuskomplex ab.Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, in welcher Weise
dies vor sich geht. Die Objektbesetzungen werden aufgegeben
und durch Identifizierung ersetzt. Die ins Ich introjizierte
Vater- oder Elternautorität bildet dort den Kern des Über-
Ichs, welches vom Vater die Strenge entlehnt, sein Inzest-S.
195
verbot perpetuiert und so das Ich gegen die Wiederkehr der
libidinösen Objektbesetzung versichert. Die dem Ödipus-
komplex zugehörigen libidinösen Strebungen werden zum
Teil desexualisiert und sublimiert, was wahrscheinlich bei
jeder Umsetzung in Identifizierung geschieht, zum Teil ziel-
gehemmt und in zärtliche Regungen verwandelt. Der ganze
Prozeß hat einerseits das Genitale gerettet, die Gefahr des
Verlustes von ihm abgewendet, anderseits es lahmgelegt, seine
Funktion aufgehoben. Mit ihm setzt die Latenzzeit ein, die
nun die Sexualentwicklung des Kindes unterbricht.Ich sehe keinen Grund, der Abwendung des Ichs vom
Ödipuskomplex den Namen einer “Verdrängung” zu ver-
sagen, obwohl spätere Verdrängungen meist unter der Be-
teiligung des Über-Ichs zustandekommen werden, welches
hier erst gebildet wird. Aber der beschriebene Prozeß ist
mehr als eine Verdrängung, er kommt, wenn ideal voll-
zogen, einer Zerstörung und Aufhebung des Komplexes
gleich. Es liegt nahe anzunehmen, daß wir hier auf die nie-
mals ganz scharfe Grenzscheide zwischen Normalem und
Pathologischem gestoßen sind. Wenn das Ich wirklich nicht
viel mehr als eine Verdrängung des Komplexes erreicht hat,
dann bleibt dieser im Es unbewußt bestehen und wird später
seine pathogene Wirkung äußern.Solche Zusammenhänge zwischen phallischer Organisation,
Ödipuskomplex, Kastrationsdrohung, Über-Ichbildung und
Latenzperiode läßt die analytische Beobachtung erkennen
oder erraten. Sie rechtfertigen den Satz, daß der Ödipus-
komplex an der Kastrationsdrohung zugrunde geht. Aber
damit ist das Problem nicht erledigt, es bleibt Raum für eine
theoretische Spekulation, welche das gewonnene Resultat um-
werfen oder in ein neues Licht rücken kann. Ehe wir aber
diesen Weg beschreiten, müssen wir uns einer Frage zu-
wenden, welche sich während unserer bisherigen ErörterungenS.
197
erhoben hat und so lange zur Seite gedrängt wurde. Der
beschriebene Vorgang bezieht sich, wie ausdrücklich gesagt,
nur auf das männliche Kind. Wie vollzieht sich die ent-
sprechende Entwicklung beim kleinen Mädchen?Unser Material wird hier – unverständlicherweise –
weit dunkler und lückenhafter. Auch das weibliche Geschlecht
entwickelt einen Ödipuskomplex, ein Über-Ich und eine
Latenzzeit. Kann man ihm auch eine phallische Organisation
und einen Kastrationskomplex zusprechen? Die Antwort
lautet bejahend, aber es kann nicht dasselbe sein wie beim
Knaben. Die feministische Forderung nach Gleichberech-
tigung der Geschlechter trägt hier nicht weit, der morpho-
logische Unterschied muß sich in Verschiedenheiten der psy-
chischen Entwicklung äußern. Die Anatomie ist das Schick-
sal, um ein Wort Napoleons zu variieren. Die Klitoris des
Mädchens benimmt sich zunächst ganz wie ein Penis, aber
das Kind nimmt durch die Vergleichung mit einem männ-
lichen Gespielen wahr, daß es „zu kurz gekommen“ ist, und
empfindet diese Tatsache als Benachteiligung und Grund zur
Minderwertigkeit. Es tröstet sich noch eine Weile mit der
Erwartung, später, wenn es heranwächst, ein ebenso großes
Anhängsel wie ein Bub zu bekommen. Hier zweigt dann der
Männlichkeitskomplex des Weibes ab. Seinen aktuellen Mangel
versteht das weibliche Kind aber nicht als Geschlechts-
charakter, sondern erklärt ihn durch die Annahme, daß es
früher einmal ein ebenso großes Glied besessen und dann
durch Kastration verloren hat. Es scheint diesen Schluß nicht
von sich auf andere, erwachsene Frauen auszudehnen, sondern
diesen, ganz im Sinne der phallischen Phase, ein großes und
vollständiges, also männliches, Genitale zuzumuten. Es ergibt
sich also der wesentliche Unterschied, daß das Mädchen die
Kastration als vollzogene Tatsache akzeptiert, während sich
der Knabe vor der Möglichkeit ihrer Vollziehung fürchtet.S.
198
Mit der Ausschaltung der Kastrationsangst entfällt auch
ein mächtiges Motiv zur Aufrichtung des Über-Ichs und
zum Abbruch der infantilen Genitalorganisation. Diese Verände-
rungen scheinen weit eher als beim Knaben Erfolg der Er-
ziehung, der äußeren Einschüchterung zu sein, die mit dem
Verlust des Geliebtwerdens droht. Der Ödipuskomplex des
Mädchens ist weit eindeutiger als der des kleinen Penis-
trägers, er geht nach meiner Erfahrung nur selten über die
Substituierung der Mutter und die feminine Einstellung zum
Vater hinaus. Der Verzicht auf den Penis wird nicht ohne
einen Versuch der Entschädigung vertragen. Das Mädchen
gleitet – man möchte sagen: längs einer symbolischen Glei-
chung – vom Penis auf das Kind hinüber, sein Ödipus-
komplex gipfelt in dem lange festgehaltenen Wunsch, vom
Vater ein Kind als Geschenk zu erhalten, ihm ein Kind zu
gebären. Man hat den Eindruck, daß der Ödipuskomplex
dann langsam verlassen wird, weil dieser Wunsch sich nie
erfüllt. Die beiden Wünsche nach dem Besitz eines Penis
und eines Kindes bleiben im Unbewußten stark besetzt er-
halten und helfen dazu, das weibliche Wesen für seine spätere
geschlechtliche Rolle bereit zu machen. Die geringere Stärke
des sadistischen Beitrages zum Sexualtrieb, die man wohl
mit der Verkümmerung des Penis zusammenbringen darf,
erleichtert die Verwandlung der direkt sexuellen Strebungen
in zielgehemmte zärtliche. Im ganzen muß man aber zuge-
stehen, daß unsere Einsichten in diese Entwicklungsvorgänge
beim Mädchen unbefriedigend, lücken- und schattenhaft sind.Ich zweifle nicht daran, daß die hier beschriebenen zeit-
lichen und kausalen Beziehungen zwischen Ödipuskomplex,
Sexualeinschüchterung (Kastrationsdrohung), Über-Ichbildung
und Eintritt der Latenzzeit von typischer Art sind; ich will
aber nicht behaupten, daß dieser Typus der einzig mögliche
ist. Abänderungen in der Zeitfolge und in der VerkettungS.
199
dieser Vorgänge müssen für die Entwicklung des Individuums
sehr bedeutungsvoll werden.Seit der Veröffentlichung von O. Ranks interessanter
Studie über das „Trauma der Geburt” kann man auch das
Resultat dieser kleinen Untersuchung, der Ödipuskomplex des
Knaben gehe an der Kastrationsangst zugrunde, nicht ohne
weitere Diskussion hinnehmen. Es erscheint mir aber vor-
zeitig, heute in diese Diskussion einzugehen, vielleicht auch
unzweckmäßig, die Kritik oder Würdigung der Rankschen
Auffassung an solcher Stelle zu beginnen.
freud-1931-neurosenlehre
191
–199