Der Untergang des Ödipuskomplexes 1924-003/1931
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    [Metadaten zu den Personen, die zur Generierung dieses Textes beigetragen haben:

    Christine Diercks: Konzept für die Edition und die Datenbank, Richtlinien, Quellenforschung, Signaturen

    Julian Roedelius: technische Umsetzung der Datenbank

    Arkadi Blatow: Quellenforschung, Digitalisierung der Datenquellen, Bildbearbeitung, Faksimile-Ausgabe, Bibliografie

    Christine Diercks: Diplomatische Umschrift, Lektorat]

     

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    DER UNTERGANG DES ÖDIPUS-
    KOMPLEXES

    (1924)

    Immer mehr enthüllt der Ödipuskomplex seine Bedeutung
    als das zentrale Phänomen der frühkindlichen Sexualperiode.
    Dann geht er unter, er erliegt der Verdrängung, wie wir
    sagen, und ihm folgt die Latenzzeit. Es ist aber noch nicht
    klar geworden, woran er zugrunde geht; die Analysen
    scheinen zu lehren: an den vorfallenden schmerzhaften Ent-

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    täuschungen. Das kleine Mädchen, das sich für die bevor-
    zugte Geliebte des Vaters halten will, muß einmal eine harte
    Züchtigung durch den Vater erleben und sieht sich aus allen
    Himmeln gestürzt. Der Knabe, der die Mutter als sein Eigen-
    tum betrachtet, macht die Erfahrung, daß sie Liebe und
    Sorgfalt von ihm weg auf einen neu Angekommenen richtet.
    Die Überlegung vertieft den Wert dieser Einwirkungen, indem
    sie betont, daß solche peinliche Erfahrungen, die dem Inhalt
    des Komplex es widerstreiten, unvermeidlich sind. Auch wo
    nicht besondere Ereignisse, wie die als Proben erwähnten,
    vorfallen, muß das Ausbleiben der erhofften Befriedigung, die
    fortgesetzte Versagung des gewünschten Kindes, es dahin
    bringen, daß sich der kleine Verliebte von seiner hoffnungs-
    losen Neigung abwendet. Der Ödipuskomplex ginge so zu-
    grunde an seinem Mißerfolg, dem Ergebnis seiner inneren
    Unmöglichkeit.

    Eine andere Auffassung wird sagen, der Ödipuskomplex
    muß fallen, weil die Zeit für seine Auflösung gekommen ist,
    wie die Milchzähne ausfallen, wenn die definitiven nach-
    rücken. Wenn der Ödipuskomplex auch von den meisten
    Menschenkindern individuell durchlebt wird, so ist er doch
    ein durch die Heredität bestimmtes, von ihr angelegtes
    Phänomen, welches programmgemäß vergehen muß, wenn
    die nächste vorherbestimmte Entwicklungsphase einsetzt. Es
    ist dann ziemlich gleichgültig, auf welche Anlässe hin das
    geschieht, oder ob solche überhaupt nicht ausfindig zu
    machen sind.

    Beiden Auffassungen kann man ihr Recht nicht abstreiten.
    Sie vertragen sich aber auch miteinander; es bleibt Raum für
    die ontogenetische neben der weiter schauenden phylo-
    genetischen. Auch dem ganzen Individuum ist es ja schon
    bei seiner Geburt bestimmt zu sterben und seine Organ-
    anlage enthält vielleicht bereits den Hinweis, woran. Doch

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    bleibt es von Interesse zu verfolgen, wie dies mitgebrachte
    Programm ausgeführt wird, in welcher Weise zufällige
    Schädlichkeiten die Disposition ausnützen.

    Unser Sinn ist neuerlich für die Wahrnehmung geschärft
    worden, daß die Sexualentwicklung des Kindes bis zu einer
    Phase fortschreitet, in der das Genitale bereits die führende
    Rolle übernommen hat. Aber dies Genitale ist allein das
    männliche, genauer bezeichnet der Penis, das weibliche ist
    unentdeckt geblieben. Diese phallische Phase, gleichzeitig die
    des Ödipuskomplexes, entwickelt sich nicht weiter zur end-
    gültigen Genitalorganisation, sondern sie versinkt und wird
    von der Latenzzeit abgelöst. Ihr Ausgang vollzieht sich aber
    in typischer Weise und in Anlehnung an regelmäßig wieder-
    kehrende Geschehnisse.

    Wenn das (männliche) Kind sein Interesse dem Genitale
    zugewendet hat, so verrät es dies auch durch ausgiebige
    manuelle Beschäftigung mit demselben und muß dann die
    Erfahrung machen, daß die Erwachsenen mit diesem Tun
    nicht einverstanden sind. Es tritt mehr oder minder deutlich,
    mehr oder weniger brutal, die Drohung auf, daß man ihn
    dieses von ihm hochgeschätzten Teiles berauben werde. Meist

    sind es Frauen, von denen die Kastrationsdrohung ausgeht,
    häufig suchen sie ihre Autorität dadurch zu verstärken, daß

    sie sich  auf den Vater oder den Doktor berufen, der nach
    ihrer Versicherung die Strafe vollziehen wird. In einer Anzahl
    von Fällen nehmen die Frauen selbst eine symbolische Mil-
    derung der Androhung vor, indem sie nicht die Beseitigung
    des eigentlich passiven Genitales, sondern die der aktiv sün-
    digenden Hand ankündigen. Ganz besonders häufig geschieht
    es, daß das Knäblein nicht darum von der Kastrationsdrohung

    betroffen wird, weil es mit der Hand am Penis spielt, sondern
    weil es allnächtlich sein Lager näßt und nicht rein zu be-
    kommen ist. Die Pflegepersonen benehmen sich so, als wäre

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    diese nächtliche Inkontinenz Folge von und Beweis für allzu
    eifrige Beschäftigung mit dem Penis und haben wahrschein-
    lich Recht darin. Jedenfalls ist das andauernde Bettnässen
    der Pollution des Erwachsenen gleichzustellen, ein Ausdruck
    der nämlichen Genitalerregung, welche das Kind um diese
    Zeit zur Masturbation gedrängt hat.

    Die Behauptung ist nun, daß die phallische Genital-
    organisation des Kindes an dieser Kastrationsdrohung zu-
    grunde geht. Allerdings nicht sofort und nicht ohne daß
    weitere Einwirkungen dazukommen. Denn der Knabe schenkt
    der Drohung zunächst keinen Glauben und keinen Gehorsam.
    Die Psychoanalyse hat neuerlichen Wert auf zweierlei Er-
    fahrungen gelegt, die keinem Kinde erspart bleiben und durch
    die es auf den Verlust wertgeschätzter Körperteile vorbereitet
    sein sollte, auf die zunächst zeitweilige, später einmal end-
    gültige Entziehung der Mutterbrust und auf die täglich
    erforderte Abtrennung des Darminhaltes. Aber man merkt
    nichts davon, daß diese Erfahrungen beim Anlaß der Kastra-
    tionsdrohung zur Wirkung kommen würden. Erst nachdem
    eine neue Erfahrung gemacht worden ist, beginnt das Kind
    mit der Möglichkeit einer Kastration zu rechnen, auch dann
    nur zögernd, widerwillig und nicht ohne das Bemühen, die
    Tragweite der eigenen Beobachtung zu verkleinern.

    Die Beobachtung, welche den Unglauben des Kindes end-
    lich bricht, ist die des weiblichen Genitales. Irgend einmal
    bekommt das auf seinen Penisbesitz stolze Kind die Genital-
    region eines kleinen Mädchens zu Gesicht und muß sich von
    dem Mangel eines Penis bei einem ihm so ähnlichen Wesen
    überzeugen. Damit ist auch der eigene Penisverlust vorstell-
    bar geworden, die Kastrationsdrohung gelangt nachträglich
    zur Wirkung.

    Wir dürfen nicht so kurzsichtig sein wie die mit der
    Kastration drohende Pflegeperson und sollen nicht übersehen,

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    daß sich das Sexualleben des Kindes um diese Zeit keines-
    wegs in der Masturbation erschöpft. Es steht nachweisbar in
    der Ödipuseinstellung zu seinen Eltern, die Masturbation ist
    nur die genitale Abfuhr der zum Komplex gehörigen Sexual-
    erregung und wird dieser Beziehung ihre Bedeutung für alle
    späteren Zeiten verdanken. Der Ödipuskomplex bot dem
    Kinde zwei Möglichkeiten der Befriedigung, eine aktive und
    eine passive. Es konnte sich in männlicher Weise an die Stelle
    des Vaters setzen und wie er mit der Mutter verkehren,
    wobei der Vater bald als Hindernis empfunden wurde, oder
    es wollte die Mutter ersetzen und sich vom Vater lieben
    lassen, wobei die Mutter überflüssig wurde. Worin der be-
    friedigende Liebesverkehr bestehe, darüber mochte das Kind
    nur sehr unbestimmte Vorstellungen haben; gewiß spielte
    aber der Penis dabei eine Rolle, denn dies bezeugten seine
    Organgefühle. Zum Zweifel am Penis des Weibes war noch
    kein Anlaß. Die Annahme der Kastrationsmöglichkeit, die
    Einsicht, daß das Weib kastriert sei, machte nun beiden Mög-
    lichkeiten der Befriedigung aus dem Ödipuskomplex ein
    Ende. Beide brachten ja den Verlust des Penis mit sich, die
    eine, männliche, als Straffolge, die andere, weibliche, als
    Voraussetzung. Wenn die Liebesbefriedigung auf dem
    Boden des Ödipuskomplexes den Penis kosten soll, so muß es zum
    Konflikt zwischen dem narzißtischen Interesse an diesem
    Körperteile und der libidinösen Besetzung der elterlichen
    Objekte kommen. In diesem Konflikt siegt normalerweise
    die erstere Macht; das Ich des Kindes wendet sich vom
    Ödipuskomplex ab.

    Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, in welcher Weise
    dies vor sich geht. Die Objektbesetzungen werden aufgegeben
    und durch Identifizierung ersetzt. Die ins Ich introjizierte
    Vater- oder Elternautorität bildet dort den Kern des Über-
    Ichs, welches vom Vater die Strenge entlehnt, sein Inzest-

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    verbot perpetuiert und so das Ich gegen die Wiederkehr der
    libidinösen Objektbesetzung versichert. Die dem Ödipus-
    komplex zugehörigen libidinösen Strebungen werden zum
    Teil desexualisiert und sublimiert, was wahrscheinlich bei
    jeder Umsetzung in Identifizierung geschieht, zum Teil ziel-
    gehemmt und in zärtliche Regungen verwandelt. Der ganze
    Prozeß hat einerseits das Genitale gerettet, die Gefahr des
    Verlustes von ihm abgewendet, anderseits es lahmgelegt, seine
    Funktion aufgehoben. Mit ihm setzt die Latenzzeit ein, die
    nun die Sexualentwicklung des Kindes unterbricht.

    Ich sehe keinen Grund, der Abwendung des Ichs vom
    Ödipuskomplex den Namen einer “Verdrängung” zu ver-
    sagen, obwohl spätere Verdrängungen meist unter der Be-
    teiligung des Über-Ichs zustandekommen werden, welches
    hier erst gebildet wird. Aber der beschriebene Prozeß ist
    mehr als eine Verdrängung, er kommt, wenn ideal voll-
    zogen, einer Zerstörung und Aufhebung des Komplexes
    gleich. Es liegt nahe anzunehmen, daß wir hier auf die nie-
    mals ganz scharfe Grenzscheide zwischen Normalem und
    Pathologischem gestoßen sind. Wenn das Ich wirklich nicht
    viel mehr als eine Verdrängung des Komplexes erreicht hat,
    dann bleibt dieser im Es unbewußt bestehen und wird später
    seine pathogene Wirkung äußern.

    Solche Zusammenhänge zwischen phallischer Organisation,
    Ödipuskomplex, Kastrationsdrohung, Über-Ichbildung und
    Latenzperiode läßt die analytische Beobachtung erkennen
    oder erraten. Sie rechtfertigen den Satz, daß der Ödipus-
    komplex an der Kastrationsdrohung zugrunde geht. Aber
    damit ist das Problem nicht erledigt, es bleibt Raum für eine
    theoretische Spekulation, welche das gewonnene Resultat um-
    werfen oder in ein neues
    Licht rücken kann. Ehe wir aber
    diesen Weg beschreiten, müssen wir uns einer Frage zu-
    wenden, welche sich während unserer bisherigen Erörterungen

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    erhoben hat und so lange zur Seite gedrängt wurde. Der
    beschriebene Vorgang bezieht sich, wie ausdrücklich gesagt,
    nur auf das männliche Kind. Wie vollzieht sich die ent-
    sprechende Entwicklung beim kleinen Mädchen?

    Unser Material wird hier – unverständlicherweise –
    weit dunkler und lückenhafter. Auch das weibliche Geschlecht
    entwickelt einen Ödipuskomplex, ein Über-Ich und eine
    Latenzzeit. Kann man ihm auch eine phallische Organisation
    und einen Kastrationskomplex zusprechen? Die Antwort
    lautet bejahend, aber es kann nicht dasselbe sein wie beim
    Knaben. Die feministische Forderung nach Gleichberech-
    tigung der Geschlechter trägt hier nicht weit, der morpho-
    logische Unterschied muß sich in Verschiedenheiten der psy-
    chischen Entwicklung äußern. Die Anatomie ist das Schick-
    sal, um ein Wort Napoleons zu variieren. Die Klitoris des
    Mädchens benimmt sich zunächst ganz wie ein Penis, aber
    das Kind nimmt durch die Vergleichung mit einem männ-
    lichen Gespielen wahr, daß es „zu kurz gekommen“ ist, und
    empfindet diese Tatsache als Benachteiligung und Grund zur
    Minderwertigkeit. Es tröstet sich noch eine Weile mit der

    Erwartung, später, wenn es heranwächst, ein ebenso großes
    Anhängsel wie ein Bub zu bekommen. Hier zweigt dann der
    Männlichkeitskomplex des Weibes ab. Seinen aktuellen Mangel
    versteht das weibliche Kind aber nicht als Geschlechts-
    charakter, sondern erklärt ihn durch die Annahme, daß es
    früher einmal ein ebenso großes Glied besessen und dann
    durch Kastration verloren hat. Es scheint diesen Schluß nicht
    von sich auf andere, erwachsene Frauen auszudehnen, sondern
    diesen, ganz im Sinne der phallischen Phase, ein großes und
    vollständiges, also männliches, Genitale zuzumuten. Es ergibt
    sich also der wesentliche Unterschied, daß das Mädchen die
    Kastration als vollzogene Tatsache akzeptiert, während sich
    der Knabe vor der Möglichkeit ihrer Vollziehung fürchtet.

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    Mit der Ausschaltung der Kastrationsangst entfällt auch
    ein mächtiges Motiv zur Aufrichtung des Über-Ichs und
    zum Abbruch der infantilen Genitalorganisation. Diese Verände-
    rungen scheinen weit eher als beim Knaben Erfolg der Er-
    ziehung, der äußeren Einschüchterung zu sein, die mit dem
    Verlust des Geliebtwerdens droht. Der Ödipuskomplex des
    Mädchens ist weit eindeutiger als der des kleinen Penis-
    trägers, er geht nach meiner Erfahrung nur selten über die
    Substituierung der Mutter und die feminine Einstellung zum
    Vater hinaus. Der Verzicht auf den Penis wird nicht ohne
    einen Versuch der Entschädigung vertragen. Das Mädchen
    gleitet – man möchte sagen: längs einer symbolischen Glei-
    chung – vom Penis auf das Kind hinüber, sein Ödipus-
    komplex gipfelt in dem lange festgehaltenen Wunsch, vom
    Vater ein Kind als Geschenk zu erhalten, ihm ein Kind zu
    gebären. Man hat den Eindruck, daß der Ödipuskomplex
    dann langsam verlassen wird, weil dieser Wunsch sich nie
    erfüllt. Die beiden Wünsche nach dem Besitz eines Penis
    und eines Kindes bleiben im Unbewußten stark besetzt er-
    halten und helfen dazu, das weibliche Wesen für seine spätere
    geschlechtliche Rolle bereit zu machen. Die geringere Stärke

    des sadistischen Beitrages zum Sexualtrieb, die man wohl
    mit der Verkümmerung des Penis zusammenbringen darf,
    erleichtert die Verwandlung der direkt sexuellen Strebungen
    in zielgehemmte zärtliche. Im ganzen muß man aber zuge-
    stehen, daß unsere Einsichten in diese Entwicklungsvorgänge
    beim Mädchen unbefriedigend, lücken- und schattenhaft sind.

    Ich zweifle nicht daran, daß die hier beschriebenen zeit-
    lichen und kausalen Beziehungen zwischen Ödipuskomplex,
    Sexualeinschüchterung (Kastrationsdrohung), Über-Ichbildung
    und Eintritt der Latenzzeit von typischer Art sind; ich will
    aber nicht behaupten, daß dieser Typus der einzig mögliche
    ist. Abänderungen in der Zeitfolge und in der Verkettung

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    dieser Vorgänge müssen für die Entwicklung des Individuums
    sehr bedeutungsvoll werden.

    Seit der Veröffentlichung von O. Ranks interessanter
    Studie über das „Trauma der Geburt” kann man auch das
    Resultat dieser kleinen Untersuchung, der Ödipuskomplex des
    Knaben gehe an der Kastrationsangst zugrunde, nicht ohne
    weitere Diskussion hinnehmen. Es erscheint mir aber vor-
    zeitig, heute in diese Diskussion einzugehen, vielleicht auch
    unzweckmäßig, die Kritik oder Würdigung der Rankschen
    Auffassung an solcher Stelle zu beginnen.