Zwei Kinderlügen 1913-008/1926
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    ZWEI KINDERLUGEN

    Zuerst erschienen. in der „Interna
    tionalen Zeitschrift fiir ärztliche Psycho-
    analyse“, I, 1913.

    Es ist begreiflich, daß Kinder lügen, wenn sie damit die
    Liigen der Erwachsenen nachahmen. Aber eine Anzahl von
    Lügen von gut geratenen Kindern haben eine besondere
    Bedeutung und sollten die Erzieher nachdenklich machen,
    anstatt sie zu erbittern. Sie erfolgen unter dem Einfluß
    überstarker Liebesmotive und werden verhängnisvoll, wenn
    sie ein MiBverständnis zwischen dem Kinde und der von
    ihm geliebten Person herbeiführen.

    I

    Das siebenjåhrige Mädchen (im zweiten Schuljahr) hat
    vom Vater Geld verlangt, um Farben zum Bemalen von
    Ostereiern zu kaufen. Der Vater hat es abgeschlagen mit
    der Begründung, er habe kein Geld. Kurz darauf verlangte
    es vom Vater Geld, um zu einem Kranz fiir die verstorbene
    Landesfürstin beizusteuern. Jedes der Schulkinder soll fünf-
    zig Pfennige bringen. Der Vater gibt ihr zehn Mark; sie
    bezahlt ihren Beitrag, legt dem Vater neun Mark auf den

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    Schreibtisch und hat für die übrigen fünfzig Pfennige Farben
    gekauft, die sie im Spielschrank verbirgt. Bei Tisch fragt
    der Vater argwóhnisch, was sie mit den fehlenden fünfzig
    Pfennigen gemacht, und ob sie daftir nicht doch Farben
    gekauft hat. Sie leugnet es, aber der um zwei Jahre åltere
    Bruder, mit dem gemeinsam sie die Eier bemalen wollte,
    verråt sie; die Farben werden im Schrank gefunden. Der
    erzürnte Vater überläBt die Missetäterin der Mutter zur
    Züchtigung, aie sehr energisch ausfällt. Die Mutter ist
    nachher selbst erschiittert, als sie merkt, wie sehr das Kind
    verzweifelt ist. Sie liebkost es nach der Ziichtigung, geht
    mit ihm spazieren, um es zu trösten. Aber die Wir-
    kungen dieses Erlebnisses, von der Patientin selbst als
    „Wendepunkt“ ihrer Jugend bezeichnet, erweisen sich als
    unaufhebbar. Sie war bis dahin ein wildes, zuversichtliches
    Kind, sie wird von da an scheu und zaghaft. In ihrer
    Brautzeit gerät sie in eine ihr unverståndliche Wut, als die
    Mutter ihr die Möbel und Aussteuer besorgt. Es schwebt
    ihr vor, es ist doch ihr Geld, dafür darf kein anderer etwas
    kaufen. Als junge Frau scheut sie sich, von ihrem Manne
    Ausgaben fiir ihren persönlichen Bedarf zu verlangen, und
    scheidet in überflüssiger Weise „ihr“ Geld von seinem
    Geld. Während der Zeit der Behandlung trifft es sich
    einige Male, daB die Geldzusendungen ihres Mannes sich
    verspåten, so daß sie in der fremden Stadt mittellos bleibt.
    Nachdem sie mir dies einmal erzählt hat, will ich ihr das
    Versprechen abnehmen, in der Wiederholung dieser Situation
    die kleine Summe, die sie unterdes braucht, von mir zu
    entlehnen. Sie gibt dieses Versprechen, hilt es aber bei der
    nächsten Geldverlegenheit nicht ein und zieht es vor, ihre

    Freud, Studien zur Psychoanalyse. 2

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    Schmuckstücke zu verpfånden. Sie erklärt, sie kann kein
    Geld von mir nehmen.

    Die Aneignung der fünfzig Pfennige in der Kindheit
    hatte eine Bedeutung, die der Vater nicht ahnen konnte.
    Einige Zeit vor der Schule hatte sie ein merkwiirdiges
    Stückchen mit Geld aufgeführt. Eine befreundete Nachbarin
    hatte sie mit einem kleinen Geldbetrag als Begleiterin ihres
    noch jüngeren Sóhnchens in einen Laden geschickt, um
    irgendetwas einzukaufen. Den Rest des Geldes nach dem
    Einkaufe trug sie als die ältere nach Hause. Als sie aber
    auf der StraBe dem Dienstmådchen der Nachbarin begegnete,
    warf sie das Geld auf das StraBenpflaster hin. Zur Analyse
    dieser ihr selbst unerklårlichen Handlung fiel ihr Judas ein,
    der die Silberlinge hinwarf, die er für den Verrat am
    Herrn bekommen. Sie erklirt es für sicher, daB sie mit der
    Passionsgeschichte schon vor dem Schulbesuch bekannt wurde.
    Aber inwiefern durfte sie sich mit Judas identifizieren?

    Im Alter von dreieinhalb Jahren hatte sie ein Kinder-
    mädchen, dem sie sich sehr innig anschloB. Dieses Mädchen
    geriet in erotische Beziehungen zu einem Arzt, dessen
    Ordination sie mit dem Kinde besuchte. Es scheint, daß das
    Kind damals Zeuge verschiedener sexueller Vorgänge wurde.
    Ob sie sah, daB der Arzt dem Madchen Geld gab, ist nicht
    sichergestellt; unzweifelhaft aber, daß das Mädchen dem
    Kinde kleine Münzen schenkte, um sich seiner Verschwiegen-
    heit zu versichern, für welche auf dem Heimwege Einkäufe
    (wohl an Süßigkeiten) gemacht wurden. Es ist auch mög-
    lich, daß der Arzt selbst dem Kinde gelegentlich Geld
    schenkte. Dennoch verriet das Kind sein Mädchen an die
    Mutter, aus Eifersucht. Es spielte so auffillig mit den heim-

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    gebrachten Groschen, daß die Mutter fragen mußte: Woher
    hast du das Geld? Das Mädchen wurde weggeschickt.

    Geld von jemandem nehmen hatte also für sie frühzeitig
    Bedeutung der körperlichen Hingebung, der Liebesbeziehung
    bekommen. Vom Vater Geld nehmen hatte den Wert einer
    Liebeserklärung. Die Phantasie, daß der Vater ihr Geliebter
    sei, war so verführerisch, daß der Kinderwunsch nach den
    Farben für die Ostereier sich mit ihrer Hilfe gegen das
    Verbot leicht durchsetzte. Eingestehen konnte sie aber die
    Aneignung des Geldes nicht, sie mußte leugnen, weil das
    Motiv der Tat, ihr selbst unbewuBt, nicht einzugestehen
    war. Die Züchtigung des Vaters war also eine Abweisung
    der ihm angebotenen Zärtlichkeit, eine Verschmähung, und
    brach darum ihren Mut. In der Behandlung brach ein
    schwerer Verstimmungszustand los, dessen Auflösung zu der
    Erinnerung des hier Mitgeteilten führte, als ich einmal
    genötigt war, die Verschmähung zu kopieren, indem ich sie
    bat, keine Blumen mehr zu bringen.

    Für den Psychoanalytiker bedarf es kaum der Hervor-
    hebung, daß in dem kleinen Erlebnis des Kindes einer jener
    so überaus häufigen Fälle von Fortsetzung der früheren
    Analerotik in das spätere Liebesleben vorliegt. Auch die Lust,
    die Eier farbig zu bemalen, entstammt derselben Quelle.

    II

    Eine heute infolge einer Versagung im Leben schwer-
    kranke Frau war früher einmal ein besonders tüchtiges,
    wahrheitsliebendes, ernsthaftes und gutes Mädchen gewesen
    und dann eine zårtliche Frau geworden. Noch früher aber,
    in den ersten Lebensjahren, war sie ein eigensinniges und

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    unzufriedenes Kind gewesen, und wihrend sie sich ziemlich
    rasch zur Übergüte und Ubergewissenhaftigkeit wandelte,
    ereigneten sich noch in ihrer Schulzeit Dinge, die ihr in
    den Zeiten der Krankheit schwere Vorwiirfe einbrachten
    und von ihr als Beweise griindlicher Verworfenheit beurteilt
    wurden. Ihre Erinnerung sagte ihr, daß sie damals oft
    geprahlt und gelogen hatte. Einmal rithmte sich auf dem
    Schulweg eine Kollegin: Gestern haben wir zu Mittag Eis
    gehabt. Sie erwiderte: Oh, Eis haben wir alle Tage. In
    Wirklichkeit verstand sie nicht, was Eis zur Mittagsmahlzeit
    bedeuten sollte; sie kannte das Eis nur in den langen
    Blöcken, wie es auf Wagen verführt wird, aber sie nahm
    an, es miisse etwas Vornehmes damit gemeint sein, und
    darum wollte sie hinter der Kollegin nicht zuriick-
    bleiben.

    Als sie zehn Jahre alt war, wurde in der Zeichenstunde
    einmal die Aufgabe gegeben, aus freier Hand einen Kreis
    zu ziehen. Sie bediente sich dabei aber des Zirkels, brachte
    so leicht einen vollkommenen Kreis zustande und zeigte
    ihre Leistung triumphierend ihrer Nachbarin. Der Lehrer
    kam hinzu, hörte die Prahlerin, entdeckte die Zirkelspuren
    in der Kreislinie und stellte das Mädchen zur Rede. Dieses
    aber leugnete hartnäckig, ließ sich durch keine Beweise
    überführen und half sich durch trotziges Verstummen. Der
    Lehrer konferierte darüber mit dem Vater; beide ließen
    sich durch die sonstige Bravheit des Mädchens bestimmen,
    dem Vergehen keine weitere Folge zu geben.

    Beide Lügen des Kindes waren durch den nämlichen
    Komplex motiviert. Als älteste von fünf Geschwistern ent-
    wickelte die Kleine frühzeitig eine ungewöhnlich intensive

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    Anhänglichkeit an den Vater, an welcher dann in reifen
    Jahren ihr Lebensglück scheitern sollte. Sie mute aber
    bald die Entdeckung machen, daB dem geliebten Vater nicht
    die Größe zukomme, die sie ihm zuzuschreiben bereit war.
    Er hatte mit Geldschwierigkeiten zu kåmpfen, er war nicht
    so mächtig oder so vornehm, wie sie gemeint hatte. Diesen
    Abzug von ihrem Ideal konnte sie sich aber nicht gefallen
    lassen. Indem sie nach Art des Weibes ihren ganzen Ehrgeiz
    auf den geliebten Mann verlegte, wurde es zum tiberstarken
    Motiv får sie, den Vater gegen die Welt zu stiitzen. Sie
    prahlte also vor den Kolleginnen, um den Vater nicht ver-
    kleinern zu miissen. Als sie spåter das Eis beim Mittagessen
    mit ,Glace% übersetzen lernte, war der Weg gebahnt, auf
    welchem dann der Vorwurf wegen dieser Reminiszenz
    in eine Angst vor Glasscherben und Splittern einmiinden
    konnte.

    Der Vater war ein vorziiglicher Zeichner und hatte durch
    die Proben seines Talents oft genug das Entziicken und die
    Bewunderung der Kinder hervorgerufen. In der Identifizierung
    mit dem Vater zeichnete sie in der Schule jenen Kreis, der
    ihr nur durch betriigerische Mittel gelingen konnte. Es
    war, als ob sie sich rühmen wollte: Schau her, was mein
    Vater kann! Das SchuldbewuBtsein, das der iiberstarken
    Neigung zum Vater anhaftete, fand in dem versuchten Betrug
    seinen Ausdruck; ein Geståndnis war aus demselben Grunde
    unmöglich wie in der vorstehenden Beobachtung, es hätte
    das Geständnis der verborgenen inzestučsen Liebe sein
    müssen.

    Man möge nicht gering denken von solchen Episoden
    des Kinderlebens. Es wäre eine arge Verfehlung, wenn man

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    aus solchen kindlichen Vergehen die Prognose auf Entwicklung

    eines unmoralischen Charakters stellen würde. Wohl aber
    hängen sie mit den stärksten Motiven der kindlichen Seele
    zusammen und künden die Dispositionen zu späteren Schick-
    salen oder künftigen Neurosen an.