Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Paranoia 1915-006/1926
  • S.

    MITTEILUNG EINES DER PSYCHOANA-
    LYTISCHEN THEORIE WIDERSPRE-
    CHENDEN FALLES VON PARANOIA

    Zuerst erschienen in der „Inter-
    nationalen. Zeitschrift für ürztl, Psycho-
    analyse", III, 1915.

    Vor Jahren ersuchte mich ein bekannter Rechtsanwalt um
    Begutachtung eines Falles, dessen Auffassung ihm zweifelhaft
    erschien. Eine junge Dame hatte sich an ihn gewendet, um
    Schutz gegen die Verfolgungen eines Mannes zu finden, der
    sie zu einem Liebesverhiltnis bewogen hatte. Sie behauptete,
    daB dieser Mann ihre Gefiigigkeit miBbraucht hatte, um von
    ungesehenen Zuschauern photographische Aufnahmen ihres
    zärtlichen Beisammenseins herstellen zu lassen; nun läge es
    in seiner Hand, sie durch das Zeigen dieser Bilder zu
    beschämen und zum Aufgeben ihrer Stellung zu zwingen.
    Der Rechtsfreund war erfahren genug, das krankhafte
    Gepråge dieser Anklage zu erkennen, meinte aber, es komme
    so viel im Leben vor, was man får unglaubwürdig halten
    möchte, daß ihm das Urteil eines Psychiaters über die Sache
    wertvoll wäre. Er versprach, mich ein nächstes Mal in
    Gesellschaft der Klägerin zu besuchen.

  • S.

    24 Sigm. Freud

    Ehe ich meinen Bericht fortsetze, will ich bekennen, daß
    ich das Milieu der zu untersuchenden Begebenheit zur
    Unkenntlichkeit verändert habe, aber auch nichts anderes
    als dies. Ich halte es sonst fiir einen MiBbrauch, aus irgend
    welchen, wenn auch aus den besten Motiven Züge einer
    Krankengeschichte in der Mitteilung zu entstellen, da man
    unmöglich wissen kann, welche Seite des Falles ein selb-
    ständig urteilender Leser herausgreifen wird, und somit
    Gefahr läuft, diesen letzteren in die Irre zu führen.

    Die Patientin, die ich nun bald darauf kennen lernte, war
    ein dreißigjähriges Mädchen von ungewöhnlicher Anmut und
    Schönheit; sie schien viel jünger zu sein, als sie angab, und
    machte einen echt weiblichen Eindruck. Gegen den Arzt
    benahm sie sich voll ablehnend und gab sich keine Mühe,
    ihr MiBtrauen zu verbergen. Offenbar nur unter dem Drucke
    des mitanwesenden Rechtsfreundes erzählte, sie die folgende
    Geschichte, die mir ein später zu erwähnendes Problem
    aufgab. Ihre Mienen und Affektäußerungen verrieten dabei
    nichts von einer schamhaften Befangenheit, wie sie der Ein-
    stellung zu dem fremden Zuhörer entsprochen hätte. Sie
    stand ausschließlich unter dem Banne der Besorgnis, die sich
    aus ihrem Erlebnis ergeben hatte.

    Sie war jahrelang Angestellte in einem großen Institut
    gewesen, in dem sie einen verantwortlichen Posten zur
    eigenen Befriedigung und zur Zufriedenheit der Vorgesetzten
    innehatte. Liebesbeziehungen zu Männern hätte sie nie
    gesucht; sie lebte ruhig neben einer alten Mutter, deren
    einzige Stütze sie war. Geschwister fehlten, der Vater war
    vor vielen Jahren gestorben. In der letzten Zeit hatte sich
    ein münnlicher Beamter desselben Bureaus ihr genihert, ein

  • S.

    Mitteilung eines Falles von Paranoia 25

    sehr gebildeter, einnehmender Mann, dem auch sie ihre
    Sympathie nicht versagen konnte. Eine Heirat zwischen
    ihnen war durch äußere Verhältnisse ausgeschlossen, aber
    der Mann wollte nichts davon wissen, dieser Unmöglichkeit
    wegen den Verkehr aufzugeben. Er hielt ihr vor, wie
    unsinnig es sei, wegen sozialer Konventionen auf alles zu
    verzichten, was sie sich beide wünschten, worauf sie ein
    unzweifelhaftes Anrecht hätten, und was wie nichts anderes
    zur Erhöhung des Lebens beitrüge. Da er versprochen hatte,
    sie nicht in Gefahr zu bringen, willigte sie endlich
    ein, ihn in seiner Junggesellenwohnung bei Tage zu
    besuchen. Dort kam es nun zu Küssen und Umarmungen,
    sie lagerten sich nebeneinander, er bewunderte ihre
    zum Teil enthüllte Schönheit. Mitten in dieser Schåfer-
    stunde wurde sie durch ein ‚einmaliges Geräusch wie ein
    Pochen oder Ticken erschreckt. Es kam von der Gegend
    des Schreibtisches her, welcher schräg‘ vor dem Fenster stand;
    der Zwischenraum zwischen Tisch und Fenster war zum
    Teil von einem schweren Vorhang eingenommen. Sie erzühlte,
    daß sie den Freund sofort nach der Bedeutung des Gerüusches
    gefragt und von ihm die Auskunft bekommen hatte, es rühre
    wahrscheinlich von der kleinen, auf dem Schreibtisch
    befindlichen Stehuhr her; ich werde mir aber die Freiheit
    nehmen, zu diesem Teil ihres Berichts spáter eine Bemerkung
    zu machen.

    Als sie das Haus verlieB, traf sie noch auf der Treppe
    mit zwei Männern zusammen, die bei ihrem Anblick
    einander etwas zuflüsterten. Einer der beiden Unbekannten
    trug einen verhüllten Gegenstand wie ein Kästchen. Die
    Begegnung beschiftigte ihre Gedanken; noch auf dem Heim-

  • S.

    26 Sigm. Freud

    wege bildete sie die Kombination, dies Kästchen könnte
    leicht ein photographischer Apparat gewesen sein, der Mann,
    der es trug, ein Photograph, der während ihrer Anwesenheit
    im Zimmer hinter dem Vorhang versteckt geblieben war,
    und das Ticken, das sie gehört, das Geräusch des Abdrückens,
    nachdem der Mann die besonders verfängliche Situation
    herausgefunden, die er im Bilde festhalten wollte. Ihr Arg-
    wohn gegen den Geliebten war von da an nicht mehr zum
    Schweigen zu bringen; sie verfolgte ihn mündlich und
    schriftlich mit der Anforderung, ihr Aufklärung und
    Beruhigung zu geben, und mit Vorwürfen, erwies sich aber
    unzugänglich gegen die Versicherungen, die er ihr machte,
    mit denen er die Aufrichtigkeit seiner Gefühle und die
    Grundlosigkeit ihrer Verdächtigung vertrat. Endlich wandte
    sie sich an den Advokaten, erzählte ihm ihr Erlebnis und
    übergab ihm die Briefe, die sie in dieser Angelegenheit von
    dem Verdächtigten erhalten hatte. Ich konnte später in
    einige dieser Briefe Einsicht nehmen; sie machten mir den
    besten Eindruck; ihr Hauptinhalt war das Bedauern, daß
    ein so schönes, zärtliches Einvernehmen durch diese „unglück-
    selige, krankhafte Idee“ zerstört worden sei.

    Es bedarf wohl keiner Rechtfertigung, daß ich das Urteil
    des Beschuldigten auch zu dem meinigen machte. Aber der
    Fall hatte für mich ein anderes als bloß diagnostisches
    Interesse. Es war in der psychoanalytischen Literatur
    behauptet worden, daß der Paranoiker gegen eine Verstärkung
    seiner homosexuellen Strebungen ankämpft, was im Grunde
    auf eine narzißtische Objektwahl zurückweist. Es war ferner
    gedeutet worden, daß der Verfolger im Grunde der Geliebte
    oder der ehemals Geliebte sei. Aus der Zusammensetzung

  • S.

    Mitteilung eines Falles von Paranoia 27

    beider Aufstellungen ergibt sich die Forderung, der Ver-
    folger müsse von demselben Geschlechte sein, wie der Ver-
    folgte. Den Satz von der Bedingtheit der Paranoia durch die
    Homosexualität hatten wir allerdings nicht als allgemein
    und ausnahmslos gültig hingestellt, aber nur darum nicht,
    weil unsere Beobachtungen nicht genug zahlreich waren. Er
    gehörte sonst zu jenen, die infolge gewisser Zusammenhänge
    nur dann bedeutungsvoll sind, wenn sie Allgemeinheit
    beanspruchen können. In der psychiatrischen Literatur fehlte
    es gewiß nicht an Fällen, in denen sich der Kranke von
    Angehörigen des anderen Geschlechtes verfolgt glaubte, aber
    es blieb ein anderer Eindruck, von solchen Fällen zu lesen,
    als einen derselben selbst vor sich zu sehen. Was ich und
    meine Freunde hatten beobachten und analysieren können,
    hatte bisher die Beziehung der Paranoia zur Homosexualität
    ohne Schwierigkeit bestätigt. Der hier vorgeführte Fall
    sprach mit aller Entschiedenheit dagegen. Das Mädchen
    schien die Liebe zu einem Mann abzuwehren, indem sie
    den Geliebten unmittelbar in den Verfolger verwandelte;
    vom Einfluß des Weibes, von einem Sträuben gegen eine
    homosexuelle Bindung war nichts zu finden.

    Bei dieser Sachlage war es wohl das Einfachste, die Partei-
    nahme für eine allgemein gültige Abhängigkeit des Ver-
    folgungswahnes von der Homosexualität und alles, was sich
    weiter daran knüpfte, wieder aufzugeben. Man mußte wohl
    auf diese Erkenntnis verzichten, wenn man sich nicht etwa
    durch diese Abweichung von der Erwartung bestimmen
    ließ, sich auf die Seite des Rechtsfreundes zu schlagen und
    wie er ein richtig gedeutetes Erlebnis anstatt einer paranoischen
    Kombination anzuerkennen. Ich sah aber einen anderen Aus-

  • S.

    28 Sigm. Freud

    weg, welcher die Entscheidung zunächst hinausschob. Ich
    erinnerte mich daran, wie oft man in die Lage gekommen
    war, psychisch Kranke falsch zu beurteilen, weil man sich
    nicht eindringlich genug mit ihnen beschiftigt und so zu
    wenig von ihnen erfahren hatte. Ich erklirte also, es sei mir
    unmåglich, heute ein Urteil zu åuBern, und bitte sie viel-
    mehr, mich ein zweites Mal zu besuchen, um mir die
    Geschichte ausfithrlicher und mit allen, diesmal vielleicht
    iibergangenen Nebenumstinden zu erzählen. Durch die Ver-
    mittlung des Advokaten erreichte ich dies Zugeständnis von
    der sonst unwilligen Patientin; er kam mir auch durch die
    Erklårung zu Hilfe, daB bei dieser zweiten Unterredung
    seine Anwesenheit überflüssig sei.

    Die zweite Erzihlung der Patientin hob die friihere nicht
    auf, brachte aber solche Ergånzungen, daB alle Zweifel und
    Schwierigkeiten wegfielen. Vor allem, sie hatte den jungen
    Mann nicht einmal, sondern zweimal in seiner Wohnung
    besucht. Beim zweiten Zusammensein ereignete sich die
    Störung durch das Geräusch, an welches sie ihren Verdacht
    angekniipft hatte; den ersten Besuch hatte sie bei der ersten
    Mitteilung unterschlagen, ausgelassen, weil er ihr nicht mehr
    bedeutsam vorkam. Bei diesem ersten Besuch hatte sich nichts
    Auffälliges zugetragen, wohl aber am Tage nachher. Die
    Abteilung des großen Unternehmens, bei welcher sie tätig
    war, stand unter der Leitung einer alten Dame, die sie mit
    den Worten beschrieb: Sie hat weiße Haare wie meine
    Mutter. Sie war es gewöhnt, von dieser alten Vorgesetzten
    sehr zärtlich behandelt, auch wohl manchmal geneckt zu
    werden, und hielt sich für ihren besonderen Liebling. Am
    Tage nach ihrem ersten Besuch bei dem jungen Beamten

  • S.

    Mitteilung eines Falles von Paranoia 29

    erschien dieser in den Geschäftsräumen, um der alten Dame
    etwas dienstlich mitzuteilen, und während er leise mit dieser
    sprach, entstand in ihr plötzlich die Gewißheit, er mache ihr
    Mitteilung von dem gestrigen Abenteuer, ja, er unterhalte
    längst ein Verhältnis mit ihr, von dem sie selbst nur bisher
    nichts gemerkt habe. Die weißhaarige, mütterliche Alte
    wisse nun alles. Im weiteren Verlaufe des Tages konnte sie
    aus dem Benehmen und den Äußerungen der Alten diesen
    ihren Verdacht bekräftigen. Sie ergriff die nächste Gelegenheit,
    den Geliebten wegen seines Verrates zur Rede zu stellen.
    Der sträubte sich natürlich energisch gegen das, was er eine
    unsinnige Zumutung hieß, und es gelang ihm in der Tat,
    sie für diesmal von ihrem Wahn abzubringen, so daß sie
    einige Zeit — ich glaube einige Wochen — später ver-
    trauensvoll genug war, den Besuch in seiner Wohnung zu
    wiederholen. Das Weitere ist uns aus der ersten Erzählung
    der Patientin bekannt.

    Was wir neu erfahren haben, macht zunächst dem Zweifel
    an der krankhaften Natur der Verdächtigung ein Ende.
    Unschwer erkennt man, daß die weißhaarige Vorsteherin
    ein Mutterersatz ist, daß der geliebte Mann trotz seiner
    Jugend an die Stelle des Vaters gerückt wird, und daß es
    die Macht des Mutterkomplexes ist, welche die Kranke
    zwingt, ein Liebesverhåltnis zwischen den beiden ungleichen
    Partnern, aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotze, anzunehmen.
    Damit verflüchtigt sich aber auch der anscheinende Wider-
    spruch gegen die von der psychoanalytischen Lehre genährte
    Erwartung, eine überstarke homosexuelle Bindung werde
    sich als die Bedingung zur Entwicklung eines Verfolgungs-
    wahnes herausstellen. Der ursprüngliche Verfolger, die

  • S.

    30 Sigm. Freud

    Instanz, deren Einfluß man sich entziehen will, ist auch in
    diesem Falle nicht der Mann, sondern das Weib. Die Vor-
    steherin weiB von den Liebesbeziehungen des Madchens,
    miBbilligt sie und gibt ihr diese Verurteilung durch geheim-
    nisvolle Andeutungen zu erkennen. Die Bindung an das
    gleiche Geschlecht widerseizt sich den Bemühungen, ein
    Mitglied des anderen Geschlechts zum Liebesobjekt zu
    gewinnen. Die Liebe zur Mutter wird zur Wortfithrerin
    all der Strebungen, welche in der Rolle eines „Gewissens“
    das Mädchen bei dem ersten Schritt auf dem neuen, in
    vielen Hinsichten gefährlichen Weg zur normalen Sexual-
    befriedigung zurückhalten wollen, und sie erreicht es auch,
    die Beziehung zum Manne zu stóren.

    Wenn die Mutter die Sexualbetätigung der "Tochter
    hemmt oder aufhält, so erfüllt sie eine normale Funktion,
    welche durch Kindheitsbeziehungen vorgezeichnet ist, starke,
    unbewuDte Motivierungen besitzt und die Sanktion der
    Gesellschaft gefunden hat. Sache der Tochter ist es, sich
    von diesem EinfluB abzulósen und sich auf Grund breiter,
    rationeller Motivierung für ein Maß von Gestattung oder
    Versagung des Sexualgenusses zu entscheiden. Verfällt sie
    bei dem Versuch dieser Befreiung in neurotische Erkrankung,
    so liegt ein in der Regel überstarker, sicherlich aber unbe-
    herrschter Mutterkomplex vor, dessen Konflikt mit der
    neuen libidinósen Strömung je nach der verwendbaren
    Disposition in der Form dieser oder jener Neurose erledigt
    wird. In allen Fällen werden die Erscheinungen der neu-
    rotischen Reaktion nicht durch die gegenwärtige Beziehung
    zur aktuellen Mutter, sondern durch die infantilen Beziehungen
    zum urzeitlichen Mutterbild bestimmt werden.

  • S.

    Mitteilung eines Falles von Paranoia 31

    Von unserer Patientin wissen wir, daB sie seit langen
    Jahren vaterlos war; wir dürfen auch annehmen, daß sie
    nicht bis zum Alter von dreißig Jahren frei vom Manne
    geblieben wire, wenn ihr nicht eine starke Gefühlsbindung
    an die Mutter eine Stütze geboten hätte. Diese Stütze wird
    ihr zur lästigen Fessel, da ihre Libido auf den Anruf einer
    eindringlichen Werbung zum Manne zu streben beginnt.
    Sie sucht sie abzustreifen, sich ihrer homosexuellen Bindung
    zu entledigen. Ihre Disposition — von der hier nicht die
    Rede zu sein braucht — gestattet, daß dies in der Form
    der paranoischen Wahnbildung vor sich gehe. Die Mutter
    wird also zur feindseligen, miBgünstigen Beobachterin und
    Verfolgerin. Sie könnte als solche überwunden werden, wenn
    nicht der Mutterkomplex die Macht behielte, die in seiner
    Absicht liegende Fernhaltung vom Manne durchzusetzen.
    Am Ende dieser ersten Phase des Konflikts hat sie sich also
    der Mutter entfremdet und dem Manne nicht angeschlossen.
    Beide konspirieren ja gegen sie. Da gelingt es der kriftigen
    Bemiihung des Mannes, sie entscheidend an sich zu ziehen.
    Sie überwindet den Einspruch der Mutter und ist bereit,
    dem Geliebten eine neue Zusammenkunft zu gewähren. Die
    Mutter kommt in den weiteren Geschehnissen nicht mehr
    vor; wir dürfen abe daran festhalten, daß in dieser Phase
    der geliebte Mann nicht direkt zum Verfolger geworden
    war, sondern auf dem Wege über die Mutter und kraft
    seiner Beziehung zur Mutter, welcher in der ersten Wahn-
    bildung die Hauptrolle zugefallen war.

    Man sollte nun glauben, der Widerstand sei endgültig
    überwunden und das bisher an die Mutter gebundene
    Mädchen habe es erreicht, einen Mann zu lieben. Aber nach

  • S.

    32 Sigm. Freud

    dem zweiten Beisammensein erfolgt eine neue Wahnbildung,
    welche es durch geschickte Benützung einiger Zufilligkeiten
    durchsetzt, diese Liebe zu verderben, und somit die Absicht
    des Mutterkomplexes erfolgreich fortfåhrt. Es erscheint uns
    noch immer befremdlich, daB das Weib sich der Liebe zum
    Manne mit Hilfe eines paranoischen Wahnes erwehren sollte.
    Ehe wir aber dieses Verhåltnis nåher beleuchten, wollen wir
    den Zufålligkeiten einen Blick schenken, auf welche sich die
    zweite Wahnbildung, die allein gegen den Mann gerichtete,
    stützt.

    Halb entkleidet auf dem Diwan neben dem Geliebten
    liegend, hort sie ein Geräusch wie ein Ticken, Klopfen,
    Pochen, dessen Ursache sie nicht kennt, das sie aber später
    deutet, nachdem sie auf der Treppe des Hauses zwei Männern
    begegnet ist, von denen einer etwas wie ein verdecktes
    Kästchen trägt. Sie gewinnt die Überzeugung, daB sie im
    Auftrage des Geliebten während des intimen Beisammenseins
    belauscht und photographiert wurde. Es liegt uns natürlich
    fern, zu denken, wenn dies unglückselige Geräusch sich nicht
    ereignet hätte, wire auch die Wahnbildung nicht zustande
    gekommen. Wir erkennen vielmehr hinter dieser Zufällig-
    keit etwas Notwendiges, was sich ebenso zwanghaft durch-
    setzen. muDte wie die Annahme eines Liebesverhiltnisses
    zwischen dem geliebten Manne und der alten, zum Mutter-
    ersatz erkorenen Vorsteherin. Die Beobachtung des Liebes-
    verkehres der Eltern ist ein selten vermiBtes Stück aus dem
    Schatze unbewuBter Phantasien, die man bei allen Neuro-
    tikern, wahrscheinlich bei allen Menschenkindern, durch die
    Analyse auffinden kann. Ich heife diese Phantasiebildungen,
    die der Beobachtung des elterlichen Geschlechtsverkehres, die

  • S.

    Mitteilung eines Falles von Paranoia a

    der Verfithrung, der Kastration und andere, Urphantasien
    und werde an anderer Stelle deren Herkunft sowie ihr Ver-
    håltnis zum individuellen Erleben eingehend untersuchen.
    Das zufällige Geräusch spielt also nur die Rolle einer Pro-
    vokation, welche die typische, im Elternkomplex enthaltene
    Phantasie von der Belauschung aktiviert. Ja, es ist fraglich,
    ob wir es als ein „zufälliges“ bezeichnen sollen. Wie 0.
    Rank mir bemerkt hat, ist es vielmehr ein notwendiges
    Requisit der Belauschungsphantasie und wiederholt entweder
    das Geräusch, durch welches sich der Verkehr der Eltern
    verrät, oder auch das, wodurch sich das lauschende Kind zu
    verraten fürchtet. Nun erkennen wir aber mit einem, Male,
    auf welchem Boden wir uns befinden. Der Geliebte ist noch
    immer der Vater, an Stelle der Mutter ist sie selbst getreten.
    Die Belauschung muß dann einer fremden Person zugeteilt
    werden. Es wird uns ersichtlich, auf welche Weise sie sich
    von der homosexuellen Abhängigkeit von der Mutter frei-
    gemacht hat. Durch ein Stiickchen Regression; anstatt die
    Mutter zum Liebesobjekt zu nehmen, hat sie sich mit ihr
    identifiziert, ist sie selbst zur Mutter geworden. Die Mög-
    lichkeit dieser Regression weist auf den narziBtischen Ursprung
    ihrer homosexuellen Objektwahl und somit auf die bei ihr
    vorhandene Disposition zur paranoischen Erkrankung hin.
    Man könnte einen Gedankengang entwerfen, der zu dem-
    selben Ergebnis führt wie diese Identifizierung: Wenn die
    Mutter das tut, darf ich es auch; ich habe dasselbe Recht
    wie die Mutter.

    Man kann in der Aufhebung der Zufilligkeiten einen
    Schritt weitergehen, ohne zu fordern, daB ihn der Leser mit-
    mache, denn das Unterbleiben einer tieferen analytischen

    Freud, Studien zur Psychoanalyse. 5

  • S.

    34 Sigm. Freud

    Untersuchung macht es in unserem Falle unmöglich, hier
    über eine gewisse Wahrscheinlichkeit hinauszukommen. Die
    Kranke hatte in unserer ersten Besprechung angegeben, daß
    sie sich sofort nach der Ursache des Geräusches erkundigt
    und die Auskunft erhalten habe, wahrscheinlich habe die
    auf dem Schreibtisch befindliche kleine Standuhr getickt. Ich
    nehme mir die Freiheit, diese Mitteilung als eine Erinnerungs-
    tåuschung aufzulösen. Es ist mir viel glaubhafter, daß sie
    zunåchst jede Reaktion auf das Geråusch unterlassen, und
    daB ihr dies erst nach dem Zusammentreffen mit den beiden
    Männern auf der Treppe bedeutungsvoll erschienen ist. Den
    Erklårungsversuch aus dem Ticken der Uhr wird der Mann,
    der das Geräusch vielleicht überhaupt nicht gehört hatte,
    spåter einmal gewagt haben, als ihn der Argwohn des
    Mädchens bestiirmte. „Ich weiß nicht, was du da gehört
    haben kannst; vielleicht hat gerade die Standuhr getickt,
    wie sie es manchmal tut.“ Solche Nachtrüglichkeit in der
    Verwertung von Eindrücken und solche Verschiebung in der
    Erinnerung sind gerade bei der Paranoia häufig und für sie
    charakteristisch. Da ich aber den Mann nie gesprochen habe
    und die Analyse des Mädchens nicht fortsetzen konnte,
    bleibt meine Annahme unbeweisbar.

    Ich könnte es wagen, in der Zersetzung der angeblich
    realen ,Zufálligkeit^ noch weiter zu gehen. Ich glaube über-
    haupt nicht, daD die Standuhr getickt hat, oder daB ein
    Geräusch zu hören war. Die Situation, in der sie sich befand,
    rechtfertigte eine Empfindung von Pochen oder Klopfen an
    der Klitoris. Dies war es dann, was sie nachträglich als
    Wahrnehmung von einem äußeren Objekt hinausprojizierte.
    Ganz Ähnliches ist im Traume möglich. Eine meiner

  • S.

    Mitteilung eines Falles von Paranoia 35

    hysterischen Patientinnen berichtete einmal einen kurzen
    Wecktraum, zu dem sich kein Material von Einfällen ergeben
    wollte. Der Traum hieß: Es klopft, und sie wachte auf. Es
    hatte niemand an die Tür geklopft, aber sie war in den
    Nächten vorher durch die peinlichen Sensationen von Pollu-
    tionen geweckt worden und hatte nun ein Interesse daran,
    zu erwachen, sobald sich die ersten Zeichen der Genital-
    erregung einstellten. Es hatte an der Klitoris geklopft. Den
    nämlichen Projektionsvorgang möchte ich bei unserer Para-
    noika an die Stelle des zufälligen Geräusches setzen. Ich
    werde selbstverständlich nicht dafür einstehen, daß mir die
    Kranke bei einer flüchtigen Bekanntschaft unter allen
    Anzeichen eines ihr unliebsamen Zwanges einen aufrichtigen
    Bericht über die Vorgänge bei den beiden zärtlichen
    Zusammenkünften gegeben, aber die vereinzelte Klitoris-
    kontraktion stimmt wohl zu ihrer Behauptung, daß eine
    Vereinigung der Genitalien dabei nicht stattgefunden habe.
    - An der resultierenden Ablehnung des Mannes hat sicherlich
    neben dem „Gewissen“ auch die Unbefriedigung ihren Anteil,
    Wir kehren nun zu der auffälligen Tatsache zurück, daß
    sich die Kranke der Liebe zum Manne mit Hilfe einer
    paranoischen Wahnbildung erwehrt. Den Schlüssel zum Ver-
    ständnis gibt die Entwicklungsgeschichte dieses Wahnes. Dieser
    richtete sich ursprünglich, wie wir erwarten durften, gegen
    das Weib, aber nun wurde auf dem Boden der Para-
    noia der Fortschritt vom Weibe zum Manne als
    Objekt vollzogen. Ein solcher Fortschritt ist bei der Paranoia
    nicht gewöhnlich; wir finden in der Regel, daß der Ver-
    folgte an denselben Personen, also auch an demselben
    Geschlecht fixiert bleibt, dem seine Liebeswahl vor der

    st

  • S.

    36 Sigm. Freud

    paranoischen Umwandlung galt. Aber er wird durch die
    neurotische Affektion nicht ausgeschlossen; unsere Beob-
    achtung dürfte für viele andere vorbildlich, sein. Es gibt
    außerhalb der Paranoia viele ähnliche Vorgänge, welche bis-
    her nicht unter diesem Gesichtspunkte zusammengefaßt
    worden sind, darunter sehr allgemein bekannte. So wird
    z. В. der sogenannte Neurastheniker durch seine unbewuBte
    Bindung an inzestudse Liebesobjekte davon abgehalten, ein
    fremdes Weib zum Objekt zu nehmen, und in seiner Sexual-
    betåtigung auf die Phantasie eingeschränkt. Auf dem Boden
    der Phantasie bringt er aber den ihm versagten Fortschritt
    zustande und kann Mutter und Schwester durch fremde
    Objekte ersetzen. Da bei diesen der Einspruch der Zensur
    entfällt, wird ihm die Wahl dieser Ersatzpersonen in seinen
    Phantasien bewußt.

    Die Phänomene des versuchten Fortschrittes, von dem
    neuen meist regressiv erworbenen Boden her, stellen sich
    den Bemühungen zur Seite, welche bei manchen Neurosen
    unternommen werden, um eine bereits innegehabte, aber
    verlorene Position der Libido wieder zu gewinen. Die beiden
    Reihen von Erscheinungen sind begrifflich kaum voneinander
    zu trennen. Wir neigen allzusehr zu der Auffassung, daß
    der Konflikt, welcher der Neurose zugrunde liegt, mit der
    Symptombildung abgeschlossen sei. In Wirklichkeit geht der
    Kampf vielfach auch nach der Symptombildung weiter. Auf
    beiden Seiten tauchen neue Triebanteile auf, welche ihn
    fortfúbren. Das Symptom selbst wird zum Objekt dieses
    Kampfes; Strebungen, die es behaupten wollen, messen sich
    mit anderen, die seine Aufhebung und die Herstellung des
    früheren Zustandes durchzusetzen bemüht sind. Häufig werden

  • S.

    Mitteilung eines Falles von Paranoia 37

    Wege gesucht, um das Symptom zu entwerten, indem man
    das Verlorene und durch das Symptom Versagte von anderen
    Zugängen her zu gewinnen trachtet. Diese Verhältnisse
    werfen ein klárendes Licht auf eine Aufstellung von
    С. G. Jung, demzufolge eine eigentümliche psychische
    Trigheit, die sich der Veränderung und dem Fortschritt
    widersetzt, die Grundbedingung der Neurose ist. Diese Tråg-
    heit ist in der Tat sehr eigentümlich; sie ist keine allgemeine,
    sondern eine höchst spezialisierte, sie ist auch auf ihrem
    Gebiete nicht Alleinherrscherin, sondern kåmpft mit Fort-
    schritts- und Wiederherstellungstendenzen, die sich selbst
    nach der Symptombildung der Neurose nicht beruhigen. Spiirt
    man dem Ausgangspunkte dieser speziellen Trågheit nach,
    so enthüllt sie sich als die Äußerung von sehr frühzeitig
    erfolgten, sehr schwer ⑱sbaren Verknüpfungen von Trieben
    mit Eindrücken und den in ihnen gegebenen Objekten,
    durch welche die Weiterentwicklung dieser Triebanteile zum
    Stillstand gebracht wurde. Oder, um es anders zu sagen,
    diese spezialisierte „psychische Tragheit ist nur ein anderer,
    kaum ein besserer Ausdruck fiir das, was wir in der Psycho-
    analyse eine Fixierung zu nennen gewohnt sind.